Heiliges Blut

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3 Tübingen, Ende März 2013

In der Erde alle Toten

Fahren auf wie mit Entsetzen,

Da sie mit dem heil`gen, roten

Blute sich beginnt zu netzen.

Können nicht mehr ruhn

die Toten,

Wo sein köstlich Blut geflossen;

Viel zu heilig ist der Boden.

Der so teuren Trank genossen.

Annette von Droste-Hülshoff

Am Karfreitage

In Mantua zum Tode

Führt ihn der Feinde Schar.

Es blutete der Brüder Herz…,

Julius Mosen

Zu Mantua in Banden

Im Hause Graf/Sonntag war wieder ruhiger Alltag eingekehrt. Der Frühling war zwar spät, dafür aber mit Macht und Wärme ins Neckartal gekommen. Die Tage waren spürbar länger und wurden es nach Umstellung auf die Sommerzeit gleich noch einmal. Die Angst vor marodierenden Einbrecherbanden war Frühlingsgefühlen voller Tatendrang gewichen.

Theresa und Fabian waren schon am späten Vormittag dieses Karsamstags nach Bebenhausen gefahren, um in der milden Frühlingssonne vom beschaulich in den noch graugrünen Wiesen vor sich hin träumenden ehemaligen Zisterzienserkloster aus das Goldersbachtal entlang zu wandern. Theresa war zunächst etwas enttäuscht, als sie erkannte, dass die Bäume des Schönbuch, eines riesigen Laubwaldgebietes zwischen Stuttgart und Tübingen, noch nicht das geringste Grün zeigten, vielmehr unverändert wie totes Gehölz wirkten und je nach Ideologie an Umweltkatastrophen, Waldsterben oder Allerheiligen erinnerten.

Fabian hatte aber auf diesem Weg für den Wochenendspaziergang bestanden; er meinte, sich in der Nähe eines mittelalterlichen Klosters und beseelt von dessen Aura leichter in sein Forschungsthema hineinversetzen zu können. Letzteres konnte Theresa zwar trotz aller inneren Suche nicht verspüren, dafür genoss sie umso mehr die ihr frontal ins noch winterlich bleiche Gesicht scheinende Sonne, zumal sie bei dieser Gelegenheit ihre neue Sonnenbrille aufsetzen konnte.

Immer um klare Strukturen bemüht, hatte Fabian vorgeschlagen, auf dem Hinweg die historischen Daten seines Reliquienobjekts zusammengefasst zu berichten, wie er sie in den letzten Wochen anhand der Lektüre zahlreicher Werke skizziert hatte. Im Gegenzug sollte Theresa auf dem Rückweg das Lokalcolorit ihrer Kindheitserlebnisse in Weingarten erzählen, die sie Fabian gegenüber schon neulich kurz erwähnt hatte.

„Die Geschichte nahm sozusagen genau vor eintausendneunhundertundachtzig Jahren ihren Anfang …“.

„Halt“, unterbrach ihn Theresa, „lass mich rechnen.“ „Nicht nötig, es war im Jahre 33 n. Chr., der Ort nannte sich Golgatha. Jesus war gekreuzigt worden, ein römischer Soldat namens Longinus stach ihm mit einer Lanze in die Seite, worauf Blut in die Erde von Golgatha geflossen war. Longinus soll, obwohl römischer Soldat, die blutgetränkte Erde aufgesammelt und mitgenommen haben, mehr oder weniger zeitgleich zum christlichen Glauben gewechselt haben und als Missionar mitsamt der blutgetränkten Erde ins oberitalienische Mantua aufgebrochen sein, um dort die Heiden zu bekehren.“

„Na ja“, unterbrach Theresa bereits wieder, „wenn mir das ein Zeuge berichtet hätte, würde ich doch sehr an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Ein Soldat der Besatzungsmacht soll, ohne Sorge um Spott der Kollegen und Repressalien des Wachtruppenleiters, die erdige Blutprobe eines von seinem Vorgesetzten zum Tode Verurteilten aufgesammelt haben und schon in weiser Voraussicht künftiger Missionsaufgaben mit auf eine weite Reise genommen haben.“

„Unter Wahrscheinlichkeits- und Glaubwürdigkeitskriterien betrachtet würde ich dir Recht geben. Persönlich habe ich natürlich auch - nicht nur als Protestant – ganz erhebliche Zweifel, um nicht zu sagen, dass ich von der Legendenhaftigkeit überzeugt bin. Andererseits habe ich natürlich gerade von Dir aus den Berichten über deine Gerichtsfälle schon öfters Geschichten gehört, bei denen ich gedacht hätte, dass derartige Geschehensabläufe nur der trüben Phantasie von Fantasy- oder Drehbuchautoren entspringen können. Lass mich aber fortfahren.

Wir sind also nun in Mantua, zusammen mit der Blutprobe.

Wie gesagt, es war nur eine kleine Blutprobe. Nichts liegt also näher als die Annahme, dass es weitere Proben geben könnte. Und in der Tat, Josef von Arimathäa, der den Leichnam Jesu erhalten und in sein Grab gebracht haben soll, soll ebenfalls eine Blutprobe, wohl blutgetränktes Tuch, für sich abgezweigt haben. Später sollen Kreuzritter an diese Probe gelangt sein und nach Flandern geschafft haben.

Unsere Probe in Mantua soll alternativ, da Longinus wohl nicht bis Mantua, sondern nur bis Kappadokien in der heutigen Türkei gekommen sein soll, einige Jahrhunderte später als Geschenk der Stadt Konstantinopel ebenfalls nach Mantua gelangt sein.“

„Man lernt doch immer wieder etwas dazu“ warf Theresa dazwischen. „Jetzt weiß ich auch, warum in Weingarten eine Longinusstraße den Klosterberg hinaufführt.“

„Lass mich fortfahren, wir wollen doch nicht bis Herrenberg laufen! In Mantua war die Blutprobe insgesamt über tausend Jahre verschwunden. Schon im Jahre 804 gab es ein Gerücht, in Mantua wäre Blut Christi gefunden worden. Selbst Karl der Große soll deswegen nach Italien gereist sein. Danach hörte man nichts mehr davon; es war also wohl tatsächlich nur ein Gerücht. Später sagte man dann, das Blut sei wegen kriegerischer Wirren wieder versteckt worden und in Vergessenheit geraten. Ich weiß, du wirst einwenden, woran man sie nach den Jahrhunderten wiedererkannt hat und nach einer Art Beschriftung fragen, wobei dieser Einwand für die weiteren Forschungen eigentlich gar kein schlechter Ansatz ist. Die nächste Frage, die du sicherlich stellen möchtest, warum so ein Gegenstand wieder in Vergessenheit gerät, kann ich dir nicht beantworten, vielleicht gab es ihn überhaupt nicht – was ich vermute. Jedenfalls konnte, nach einer Chronik Hermanns des Lahmen von der Insel Reichenau ein blinder Seher die verborgene Probe um 1048 auf wunderbare Weise wieder sehen und seiner Kirche den Standort verraten, die auch schnell das Blut gefunden haben soll. Der Chronist war jedoch wohl selbst skeptisch; er schrieb nicht von sicheren Tatsachen, sondern davon, dass man geglaubt habe, es wäre Christi Blut. Nach der Entdeckung und einigen Streitereien soll das Blut-Erde-Gemisch dann dreigeteilt worden sein: Ein Teil für den Papst in Rom, ein Teil für den Bischof von Mantua – darum nimmt auch Mantua für sich in Anspruch, im Besitz eines Teils des Blutes zu sein – und der letzte Teil für Kaiser Heinrich. Dieser Teil wiederum gelangte an Balduin von Flandern, der ihn seiner Stieftochter Judith überließ. Diese heiratete- nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, eines englischen Earls aus Northumberland - dann Welf IV., der zuvor seine bisherige Ehefrau verstoßen hatte; als Welf IV. sich dann zum Kreuzzug berufen fühlte, stiftete seine Gattin Judith in Weingarten ein Kloster und stattete es, angeblich am Freitag nach Himmelfahrt 10901 oder 10942 zugleich mit der Blutreliquie aus. Das Stiftungstestament, wohl von 1094, führt zwar Ländereien in Südtirol und Reliquien auf, ohne allerdings das Blut zu erwähnen. Dies erfolgt erst in einer `Abschrift´, ca. hundert Jahre später.“

„Schön, soweit so gut oder auch nicht gut. Und worauf konzentrierst du dich nun bei deiner Arbeit?“

„Ich werde mehrgleisig vorgehen. Schwerpunktmäßig werde ich mich mit alten Urkunden befassen; zunächst wird wichtig sein, wann und wo die Reliquie erstmals oder überhaupt Erwähnung findet. Ich würde mich aber gerne auch in Weingarten umsehen, du weißt ja, ich schwöre auf die Aura der Örtlichkeiten.“

„Einverstanden. Ich war zuletzt vor sicher schon mindestens fünfzehn Jahren bei den Feierlichkeiten mit der Reliquie dort; ich werde dich gerne begleiten. Lass uns umkehren, damit ich endlich auch etwas erzählen darf.“

Auf dem Rückweg berichtete Theresa von ihren Kindheitsbesuchen bei ihrer Tante in Ravensburg. Meist war sie mit ihren Eltern schon am Himmelfahrtmorgen nach Ravensburg gefahren. Wie viele ihrer Freundinnen war sie als junges Mädchen in Pferde vernarrt, egal ob es Turnierpferde, Ponys oder Prozessionspferde einer Wallfahrt waren. Am Nachmittag hatten sie meist die zu Ställen umfunktionierte Firmenhallen besucht, in denen die Pferde bis zum nächsten Morgen untergestellt wurden, bevor sie dann mit im schwarzen Frack und Zylinder gekleideten Männern zusammen mit einem Mönch der Abtei, der die Reliquie segnend mit sich trug, durch Weingarten und die angrenzenden Felder zurück zur Kirche ritten. Sie schilderte, wie sie die Kinder Weingartens beneidete, die eimerweise Rossmist vom Prozessionsweg sammelten und zur Aufbesserung des Taschengeldes verkauften. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, selbst mitzureiten, von Musikkapellen begleitet durch ein Spalier von Tausenden von Touristen und Pilgern in der Stadt und Apfelbäumen in den Fluren zu reiten, wohl wissend, dass ihr als Angehörige des weiblichen Geschlechts dies nie erlaubt sein würde. Heute sah sie dies alles etwas anders, ihre Pferdeliebe war spurlos vorübergegangen und die Frage, wer nun dort alles reiten darf, war zum theoretischen Gedankenspiel geworden. Sie beschrieb Fabian in groben Zügen, wie früher die Reiter allesamt Landwirte waren, die den Ritt als Bittprozession für eine gute Ernte verstanden und in ehrlichem Gebet mit ihren Ackerpferden mitgeritten sind, bis ins hohe Alter hinein über bisweilen 50 Jahre, sofern nicht ein Teil dieser Zeit in die Jahre des Dritten Reichs gefallen waren. Am Verbot für Frauen habe man dann zwar bis heute – und sicher auch für alle Zukunft – festgehalten, Landwirt musste man dagegen nicht mehr sein, unter den Reitern scharen sich auch Ärzte und Abgeordnete, vielleicht über Honorare und Diäten sinnierend. „Aber noch früher“ ergänzte Theresa aus Erzählungen ihrer Tante, „sind die Reiter am Vortag gar mit Kutschen angereist und haben in den damals noch um das Kloster gruppierten Ökonomiegebäuden des Klosters selbst mit ihren Pferden genächtigt, später auch in Hallen der französischen Truppen nach dem Krieg.“

 

Fabian interessierte sich mehr für die Reliquie als für diese Prozessionsgeschichten. Er wollte von Theresa wissen, ob sie die Reliquie auch schon aus der Nähe gesehen habe und ob man die vermeintliche Blutprobe selbst sehen könne.

Theresa bejahte beides. „Du kannst sie stets sehen, sie ist hinter einer Glasscheibe im Altar ausgestellt. Wenn du genau hinschaust, erkennst du im glasigen Mittelteil des goldenen Kreuzes eine braunrötliche Färbung.“

„Mehr nicht? Na ja, mehr konnte ich ehrlicherweise auch nicht erwarten.“

Die Sonne begann bereits langsam hinter dem Höhenrücken des Tübinger Stadtteils Waldhausen zu versinken, als sie in Bebenhausen zurück waren. Die meisten Besucher waren bereits wieder abgereist, so dass sich Fabian und Theresa entschlossen, im „Hirsch“ noch ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte – Schönbucher Torte gab es eben nicht – und ein Kännchen Kaffee zu bestellen, und das – mit dann aber doch wieder zugeknöpfter Jacke – sogar auf der Terrasse im Freien. Als sie aufbrachen, saß nur noch, unbemerkt von ihnen, eine dreißig bis vierzig Jahre alte Frau mit weißblonder Kurzhaarfrisur allein an einem halbverdeckten Tisch in der hintersten Ecke der Gartenterrasse. Den starren, hasserfüllten Blick, mit dem sie Fabian, der beim Rückweg zum Wagen wärmend seinen Arm um Theresas Schultern gelegt hatte, wie mit der Spitze einer Lanze folgte, konnten die beiden nicht sehen.

4 Weingarten, Oktober 1270

Und Pilatus gab Joseph von Arimathäa den Leichnam. Und er kaufte eine Leinwand und nahm ihn ab und wickelte ihn in die Leinwand und legte ihn in ein Grab, das war in einen Felsen gehauen, und wälzte einen Stein vor des Grabes Tür.

Markus 15, 45

Abt Herrmann redete nie lange um den Kern eines Problems herum. „Du wirst eine weite Reise unternehmen, Anselm, wir werden uns erst wieder nach Ostern sehen. Schon morgen in der Frühe, gleich nach dem Laudesgebet, wirst du aufbrechen.“

Noch bevor der völlig überrumpelte Anselm nach dem Grund der plötzlichen Reise fragen konnte, hatte Abt Herrmann die Gedanken und Überlegungen, die ihm vorhin im Kreuzgang durch den Kopf gegangen waren, knapp aber präzise zusammengefasst. Anselm war intelligent und erfahren genug, um sofort zu erkennen, in welch heikler Mission er hier unterwegs sein sollte. Auf einem Hof in Buchhorn am Bodensee geboren, war er mit zehn Jahren in die Klosterschule gekommen. Seither lebte er im Kloster Weingarten und hatte in den letzten Jahren zunehmend Gefallen an der Arbeit bei den Schreibpulten der Bibliothek gefunden. Er zeichnete die Initialen vor, skizzierte die Figuren der Chroniken, bevor erfahrene Brüder sie mit Farbe vollenden und mit Gold belegten. Nun sollte er mit fünfzig Jahren all dies zurücklassen und sich auf eine lange und mit vielerlei Gefahren verbundene Reise begeben. Nur den Bruchteil einer Sekunde dachte er an Widerspruch, dann hatte sein Gehorsamsgelübde seine Überlegungen wieder im Griff.

In der nächsten halben Stunde erhielt Anselm detaillierte Instruktionen sowie drei eilends gefertigte kurze Briefe an den Bischof von Chur, den Grafen von Braunsberg in Lana und Graf Meinhard von Tirol. Eine vierte Urkunde wies ihn gegenüber den Pfarrherren in Lana als klösterlichen Visitator mit allen denkbaren Vollmachten aus.

Als Abt Herrmann zum Schluss seiner Erklärungen aber die Stimme noch leiser und härter werden ließ und Anselm unter Berufung auf seine benediktinischen Gelübde zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtete, lief es Anselm eiskalt den Rücken hinunter. Die Anweisung war eindeutig: Fände er Beweise, Gegenstände oder Dokumente, dürfe außer Abt Herrmann niemand davon erfahren. Dass er danach suchen solle, müsse ebenso geheim bleiben. Und falls er nichts fände, dürfe über dieses Ergebnis mit niemandem, Herrmann wiederholte das letzte Wort mehrfach, gesprochen werden.

Für den ersten Teil der Reise, die Strecke über Buchhorn (Hofen) am Bodensee und Blumenegg in Vorarlberg hinter Bregenz und weiter bis Chur stellte Herrmann drei Pferde bereit, die Anselm und zwei ausgewählte Begleiter, Bruder Magnus und Bruder Martin, in wenigen Tagen bis Chur bringen sollten. Während Martin von dort aus mit den Pferden und dem erhofften Ablassbrief des Bischofs wieder nach Weingarten zurückkehren sollte, mussten Anselm und Magnus zu Fuß möglichst vor dem Wintereinbruch den beschwerlichen Weg über die Alpen ins südliche Tirol zurücklegen.

Anselm war froh, in Magnus wenigstens einen gebirgserfahrenen und ortskundigen Begleiter zur Seite gestellt bekommen zu haben, stammte doch Magnus aus Meran und war jahrelang Mesner in der zum Kloster gehörenden Kapelle St. Georg zwischen Lana und Völlan gewesen. In jener Zeit hatte er auch schon zweimal die Alpenüberquerung erfolgreich hinter sich gebracht.

An Schlaf war in dieser Nacht zwischen den Gebetszeiten nicht zu denken. Anselm packte warme Unterkleidung für seine Mönchskutte zu einem Bündel zusammen und verstaute die Briefe und einige Münzen sorgfältig in einer von außen nicht sichtbaren, in der Naht der Innenseite der Kutte vernähten flachen Tasche. Gerade noch eine halbe Stunde verblieb ihm dann noch bis zum Laudes-Gebet der Mönche am nächsten Morgen, die er nachdenklich auf seinem Lager verbrachte und dabei nur wenige Minuten Schlaf fand, die dazu noch durch einen schrecklichen Alptraum gestört wurden: Er stand, nachdem er seinem Abt eine ganze Karaffe Blut übergeben hatte, aus im Wachzustand rückblickend unerklärlichen Gründen hoch oben im Glockenturm, als hinter der Glocke ein grinsender kleiner Teufel mit verbundenem Mund und den markanten Gesichtszügen Herrmanns hervorsprang und ihn ohne Chance auf Gegenwehr in die Tiefe stürzte. Kurz vor dem Aufprall aus über achtzehn Meter Höhe war er schweißgebadet aufgeschreckt. Er würde auf der Reise gut auf sich achten müssen, das war ihm spätestens jetzt bewusst.

Vier Tage später, am 16. Oktober 1270, waren Anselm, Magnus und Martin in den Hof des Bischofspalastes in Chur hineingeritten. Auf den flachen Wegen über Feldkirch und weiter am leicht erhöhten östlichen Rand des Rheintals bei Luziensteig waren sie auf den Pferden zügig vorangekommen.

Nach dem Abendessen hatte sie der Bischof in seinen Privatgemächern empfangen, wo Anselm ihm den Brief seines Abtes aushändigte. Der Bischof erwies sich als überaus entgegenkommend. Während er Wein aus seinen Weinbergen bei Zizers ausschenken ließ, wies er seinen Schreiber an, für alle Spender zugunsten einer neuen Kapelle des Klosters in Oberlana sowie Besucher des Klosters Weingarten einen zeitlichen Ablass von vierzig Tagen zu bestätigen. Nachdem die Urkunde noch mit seinem Siegel versehen war, händigte er sie Martin aus, der sich danach auch schon von Anselm und Magnus verabschiedete, um mit dem ersten Licht des nächsten Tages nach Weingarten zurückzureiten.

Für Anselm und Magnus dagegen begann am nächsten Morgen, ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Bischofs, die eigentliche Reise.

5 Tübingen, April 2013

De veste in quo involutum

fuit sanguis Christi.

Codex minor

Traditionum

Weingartensium

Wieder einmal verbrachte Theresa einen Tag ohne Fabian, der sich heute im Stuttgarter Staatsarchiv durch württembergische Urkundenbücher wühlte, Abschriften und Fotokopien erstellte und sich so den ganzen Tag über von einer Urkunde zur nächsten hangelte.

Im Mai wollten sie anlässlich des Feiertages Christi Himmelfahrt selbst nach Weingarten reisen und dort zwei Tage im unmittelbaren Umfeld der Reliquie verbringen. In Weingarten hatte Theresa in keinem der einschlägigen Buchungsportale auch nur ein einziges freies Zimmer gefunden, auch nicht bei Herabsetzung aller Qualitätsfilter auf das jeweils unterste Niveau bei zugleich nach oben unbegrenzter Preisspanne. Erst im einige Kilometer in Richtung Allgäu entfernten Dorf Waldburg konnte sie in der dortigen „Krone“ noch ein letztes freies Zimmer ergattern, musste dieses dann allerdings gleich bis Sonntag, also für drei Nächte nehmen. Theresa war dies gerade recht, die zwei Zwangsurlaubstage musste dann Fabian eben ohne seine Bibliotheken exklusiv mit ihr verbringen. Sie durfte nur nicht vergessen, Wanderschuhe und Badekleidung mitzunehmen.

Das Abendessen, frischer Quark mit Schnittlauch, Radieschen scheiben und Wurststreifen, dazu ein krustiges Bauernbrot und für Fabian das von ihm immer gern getrunkene dunkle Bier in der klassischen Bügelflasche, stand schon eine halbe Stunde bereit, als Fabian endlich zur Tür hereinkam, strahlend und in bester Stimmung.

Noch bevor er los reden konnte, - Theresa nahm angesichts seiner guten Stimmung nicht ohne Grund an, dass sie dann die nächste halbe Stunde kaum zu Wort kommen würde – wurde Theresa ihre eigene Neuigkeit los: „Du wirst es kaum glauben, aber ich habe nun doch noch ein Zimmer für Weingarten gefunden, etwas außerhalb, in Waldburg in der …“. Weiter kam sie nicht, weil Fabian nach dem Wort „Waldburg“ ein Jubelschrei entfuhr: „Sagenhaft, hast Du seherische Gaben wie der Blutfinder aus Mantua? Waldburg gehört sozusagen zum Projekt, aus Waldburg stammt ...“. „Halt mein Lieber, lass mich, bevor du jetzt all deine Ergebnisse des Tages referierst, auf die ich auch ehrlich gespannt bin, noch kurz zu Ende reden. Es ist ein Zimmer in der „Krone“, Hallenbad dabei, und das Ganze gab es nicht für eine Nacht, sondern nur für drei Nächte bis Sonntag. Ich habe es genommen, für uns, für ein ruhiges Wochenende zu zweit ohne Arbeit, sei mir bitte nicht böse!“ „Natürlich nicht, gutes Essen, Schwimmen und vielleicht noch in die Berge, ich bin dabei.“

Theresa war erleichtert und konnte nun entspannt Fabians Ausführungen folgen. Während des ganzen Abendessens und auch noch danach auf dem Sofa an seiner Schulter lehnend lauschte sie gespannt seinen Worten.

Es war ihm gelungen, alle von ihm zusammengetragenen Urkunden im Staatsarchiv nachzusehen und den Text als Abschrift oder Kopie zu seinen Materialien zu nehmen, nachdem er sie schon während der Arbeit tabellarisch erfasst hatte. Eine erste Durchsicht im Zug, dessen Nutzung angesichts einer halben Stunde Stillstand auf offener Strecke er ohne seine Arbeitsmöglichkeit am Laptop verdammt hätte, ergab für ihn aufschlussreiche Befunde:

Die interessanteste, vielversprechendste Urkunde war eine Urkunde aus dem Jahr 1270, die sich unmittelbar mit der Reliquie befasst. Aus seinen Vorbereitungen wusste Fabian bereits, dass das Kloster Weingarten damals Kapellen, Ländereien und Höfe im südlichen Tirol, heute dem italienischen Südtirol, bei Lana, Völlan, Nals und Ulten besaß, allesamt fast in Sichtweite von Schloss Tirol bei Meran. Und genau dort, in einer Kapelle in Oberlana, sollte sich damals ein Leintuch befunden habe, in welches die erdige Blutprobe eingewickelt gewesen sein soll: „De veste in quo involutum fuit sanguis Christi.“

Wo dieses Linnen zuvor war, bei der Reliquie oder anderswo, wann es in Weingartner Besitz gewesen sein soll, warum es Anfang des 13. Jahrhunderts ein Geschenk von Abt Berthold an die Weingarten unterstellten Kirchen in Lana wurde, konnte Fabian bisher nicht nachvollziehen. Da aber Abt Berthold der erste war, der die Reliquien in Gold fassen ließ, könnte das Linnen schlicht übrig gewesen sein.

Danach erklärte Fabian weiter: Eine erste Urkunde, die Lana und Weingarten zugleich betrifft, datiert im Jahr 1082, das wäre schon vor der Reliquienschenkung. Die Urkunde dürfte allerdings eine Fälschung sein.“

„Fälschung?“ warf Theresa ein, „schon damals im Mittelalter und dann noch bei einem Kloster?“

„Ja, leider. Gerade damals in einer Zeit, in der Herrscher untereinander ihre Rechte und Besitztümer nur auf Urkunden stützen konnten, es gab noch keine Grundbücher, hatte die Fälscherei Hochkonjunktur. Und da auch die Kirchenfürsten zugleich Landesherren, Lehensgeber und Verpächter waren, hatten sie das gleiche wirtschaftliche Interesse an Fälschungen wie jeder weltliche Fürst. Heute ist die Wissenschaft in der Lage, die Urkunden nicht nur auf ihre historische Schlüssigkeit zu prüfen, sondern auch naturwissenschaftliche Untersuchungen an Schrifttyp, verwendetem Papier, Tinte, Schnur und Siegel vorzunehmen. Davor war man nur in der Lage, die allerplumpesten Fälschungen schnell zu erkennen, wenn etwa die Siegelschnur offenkundig erst später befestigt worden war oder das Siegel keine Prägung, sondern nur eine Art nachgemachtes Kratzbild war. Im Alltag spielte das damals aber nicht unbedingt eine Rolle, da die Urkunden oft nur angegeben, aber nicht eingesehen wurden. Und wenn man gar eine siegelführende Regentenfigur kirchlicher oder weltlicher Herkunft fand, die den Inhalt der alten, falschen Urkunde in einer neuen, echten Urkunde bestätigte, war schon fast jeder Makel beseitigt. Häufig erfolgten aus verständlichen Gründen auch eklatante Rückdatierungen. Die perfekteste Art der Fälschung war natürlich diejenige, in der ein Schriftstück sorgfältig geschrieben wurde und der Urheber dann Mittel und Wege fand, im Hause eines Siegelträgers an dessen Siegel zu gelangen und so ein echtes, lediglich unautorisiertes Siegel unter seiner inhaltlichen Falschbeurkundung anzubringen. Man muss zudem auch noch bedenken, dass manche Urkunde zwar nach unserem Verständnis gefälscht, inhaltlich aber doch zutreffend war. Dies gab es vor allem in Fällen von Beweisnot, nach Brandverlusten oder zum Beweis für in früherer Zeit tatsächlich mündlich geschlossene Verträge.“

 

Theresa war doch etwas erstaunt. „Der Fall böte sich geradezu für eine Strafrechtsklausur an: Prüfen Sie das Vorgehen von Abt sowieso oder Fürst Mustermann anhand des heutigen Strafrechts auf seine Strafbarkeit. Nicht schlecht, oder?“

„Ja, nicht schlecht, ich werde es meinen Kollegen bei den Juristen vorschlagen. Der Schock, den die Studenten angesichts eines solch überraschenden Themas dann erleiden, geht dann aber auf dein Konto.

Lass mich aber noch zu Ende kommen. Nach päpstlichen Schutzurkunden aus 1098 für Weingarten und 1143 auch für den Südtiroler Besitz, erstellt von Urban II. in Rom und – leider wohl wieder gefälscht –Innozenz II. in Lateran, war auf höchster Ebene scheinbar 1053 in Überlingen Kaiser Friedrich I. aktiv. Auch diese Urkunde bestätigt dem Kloster Weingarten seinen Südtiroler Besitz.

Das 13. Jahrhundert ist dann geprägt von zahlreichen Urkunden weltlicher Herkunft, die im Ergebnis allesamt den Besitz Weingartens in Südtirol mehrten. Aber auch Bischöfe in ganz Mitteleuropa setzten sich urkundenmäßig für Weingarten und einen dort offenbar schwunghaft betriebenen Ablasshandel ein: Papst Clemens IV. in Perugia, Bischof Eberhard in Konstanz, Bischof Leo von Regensburg in Partschins/Südtirol, der Bischof von Chur 1270, Bischof Eberhard von Worms, Bischof Egno von Trient in Bozen, Bischof Wilhelm von Reggio di Calabria, Erzbischof Otto von Mailand, Papst Nikolaus III. in Viterbo, der Bischof von Marienwerder im preußischen Pomesanien (Anm.: östlich Danzig und der Weichsel) und der Bischof von Basel, in Rom 1289 gar gleich eine ganze Gruppe von Bischöfen diesseits und jenseits der Alpen. Auch mutmaßliche Bestätigungsfälschungen, von denen ich dir vorher erzählte, könnten darunter sein, erstellt durch den Abt von Mantua und den Bischof von Konstanz.“

Ansonsten habe er diverse Besitzverzeichnisse, in denen, einem Inventar gleich, selbst die Namen der klostereigenen Höfe und auch noch die letzte Südtiroler Bergkapelle aufgeführt sind, durchgesehen.

„Sehr fleißig“ lobte ihn Theresa, „dein Thema sind doch aber die Reliquien, nicht die Besitztümer?“

„Ganz richtig. Die Besitzungen sind mir nur insoweit wichtig, als sie Ansatzpunkte für weitere Recherchen, auch vor Ort, sein könnten. Und so komme ich auch gleich zu einer kleinen Überraschung, so ähnlich wie dein Wochenende in Waldburg: Im Herbst machen wir Urlaub in Südtirol!“

Theresa glaubte sich verhört zu haben. Ihr Fabian, bisher immer mehr und lieber in Archiven als auf Reisen, begann die Welt zu entdecken, wunderbar.

„Gratuliere, deine Wissenschaft beginnt mir zunehmend Spaß zu machen!“

Bei einem Glas Wein schauten sie dann gemeinsam noch die Aufzeichnungen durch, in denen er die Urkunden rot, passend blutrot, markiert hatte, in denen schon im 12. und 13. Jahrhundert die Reliquie ganz konkret erwähnt wird.

Dann stellte Fabian noch weitere Urkunden vor:

„Während seiner Amtszeit von 1200 bis 1232 schenkte wohl Abt Berthold das Leinentuch, in dem die Reliquie lag, den Weingarten unterstellten Kirchen in Lana und Höfen.

Aus dem Jahr 1270 datiert die Urkunde, von der ich dir schon vorhin erzählt habe, in dem ebenfalls von diesem Leinen die Rede ist, und zwar als Reliquie in Oberlana.

Am 2. Mai 1270 verspricht in Worms Bischof Eberhard Besuchern des in der Weingartner Klosterkirche verwahrten heiligen Blutes vierzig Tage Ablass.

In Bozen bestätigt am 9. Februar 1270 Bischof Egno von Trient einen Ablass von wiederum vierzig Tagen für Besucher der Heilig-Blut-Klosterkirche in Weingarten. Weitere gleichartige Ablassbriefe für die Heilig- Blut-Pilger – und wohl vor allem Heilig- Blut-Spender - datieren aus den Jahren 1281 und 1289, ausgestellt von einer Vielzahl kirchlicher Würdenträger in Zürich und Rom.

„Zum Schluss schließt sich der Kreis und wir kommen wieder zu unserem Wochenendquartier, das du so passend ausgesucht hast: Am 15. September 1275 schenkt Truchsess Berthold von Waldburg dem Kloster und heiligen Blut zum Ausgleich verschiedener Beschwerden einen Hof im Allgäu. Vier bzw. achtzehn Jahre später tun es Heinrich der Ältere, Schenk von Schmalegg, in Ravensburg mit ebenfalls einem Hof beziehungsweise Schenk Konrad von Winterstetten bei Albstadt mit zwei Mitarbeitern ihm gleich“, beendete Fabian seinen Vortrag, gähnte erschöpft und trank sein Glas leer. Theresa wusste das Gähnen zu deuten: Wenige Minuten später war das Licht im Wohnzimmer erloschen. Nur aus dem Schlafzimmer drang noch Licht durch die Rollladenspalten hinaus in die dunkle Nacht, wo im Schatten einer Tanne eine dreißig bis vierzig Jahre alte Frau mit weißblonder Kurzhaarfrisur im dunklen Jogginganzug und auffällig langer und schmaler Sporttasche seit fast einer Stunde mit versteinerter Miene zur Wohnung von Theresa und Fabian hinüber starrte.

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