Romane: Die Kinder von Gairo - Heiliges Blut - Der Kinderdieb

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Vatikan, 16. April 2012, 19 Uhr

Der Petersplatz hatte sich vollständig geleert. Mit regennass glänzendem Boden lag er im dunklen Rund der Kolonnaden vor der seit Einbruch der Dunkelheit hell angestrahlten Fassade des Petersdoms. Wie stille Wächter blickten die steinernen Heiligen auf dem Dach der Vorhalle des Petersdoms über den nächtlichen Platz. Kardinal Alessandro saß fast regungslos in seinem doppelt raumhohen Arbeitszimmer am zur Engelsburg hinzeigenden Ende des Palastes, in dem sich auch die Sixtinische Kapelle befand. Wenn persönlicher Erfolg am Wert der Kunst in den eigenen Arbeitsräumen gemessen werden würde, könnte er hoch zufrieden sein: Was in seinen ersten Mönchsjahren in den mit Fresken von Fra Angelico ausgemalten Klosterzellen von San Marco in Florenz begann, hatte ihn nun direkt bis zu Michelangelo und Raffael in diesen Palast im Vatikan geführt. Die räumliche Nähe zu den Gemächern des alten Papstes gab ihm in solchen Stunden immer wieder das berauschende Gefühl, sich im Zentrum geistlicher und weltlicher Macht zu befinden. Der Raum war bis auf den bläulich leuchtenden Bildschirm auf dem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Nussbaumholz vollständig im Dunkeln. Die durch die beiden Kassettenfenster hereinleuchtenden Scheinwerfer des Petersdoms warfen gespenstische Schatten auf den Fußboden und die mit schweren, in dunklen Rottönen gehaltenen Wandteppiche. Hinter dem Monitor spiegelte sich der Petersplatz in der Glastür der Büchervitrine mit ihren wertvollen alten, in Leder gebundenen Bücher, die er in all den Jahren nicht einmal in Händen gehalten hatte und die ihm nicht mehr bedeuteten als die Buchattrappen in einem Möbelhaus.

Regungslos saß Alessandro in seinem leicht nach hinten abgesenkten Bürosessel und fixierte den Monitor, auf dem sich schon seit einer Stunde nichts mehr tat. Die schwarze Soutane mit dem breiten purpurnen Bauchband des Kardinals hatte er schon nach seiner letzten Besprechung am späten Nachmittag gegen eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd getauscht. Die Besprechung selbst war aus seiner Sicht gut verlaufen. Sein Gesprächspartner war erst im letzten Sommer zum Weihbischof in einem unbedeutenden deutschen Bistum ernannt worden, hatte allerdings gleich in den ersten Wochen gemeint, in einem der die Sommerflaute in den Zeitungen füllenden Interviews zweitklassiger Führungskräfte das Zölibat für studierte Theologen hinterfragen zu müssen. Da zugleich weder ein neues Erdbeben in Japan noch ein sinkender Kreuzfahrtriese und auch kein neuer Abhörskandal in Deutschland oder ein neues Milliardenhilfsprogramm für Gläubiger, die sich jahrelang an den hohen Zinsen der südeuropäischen Länder schamlos bereichert hatten, die Spalten der Blätter füllen konnten, machte letztlich das lächerliche Interview aus der Provinz heraus seine Runde durch die großen deutschen Medien. Es erschien sogar in einigen römischen Zeitungen, als sich herausstellte, dass dieser Mann zwanzig Jahre früher für wenige Wochen als Referent im Büro des heutigen Papstes, damals noch Kardinal, gearbeitet hatte. Die Auflagenjäger der Presse maßen danach dem Interview fast die Bedeutung eines neuen Dogmas bei. Alessandro dachte nicht eine Sekunde daran, dass es hierzu kommen würde, da kannte er den alten Mann einige Säle weiter inzwischen viel zu gut. Selbst seinen unkeuschen Lebenswandel hätte er dafür sorglos verwettet. Nein, ihn ärgerte schon allein die neuerliche Diskussion über dieses Thema, weshalb er den Deutschen kurzerhand einbestellt hatte. Leider hatte dieser dann aber den Fehler begangen, seinen unseligen Gedanken nicht schon gegen Mitnahme eines der kleinen, mit einer ansehnlichen Menge an Geldscheinen zur beliebigen privaten Verwendung gefüllten Aktenköfferchen aus dem großen Wandschrank abzuschwören. Dies tat er erst, als das Köfferchen bereits wieder sicher im Schrank verschlossen war und Alessandro ihm dafür einige perfekt wirkende, da vom Originaldrucker stammende, auf seinen Namen lautende angebliche Kontoauszüge der Vatikanbank IQR mit dubiosen Barein- und Barauszahlungen sowie regelmäßigen Überweisungen an eine Diana vorlegte. In diesem Augenblick war dem Deutschen, der weder ein Konto in Rom hatte noch gewusst hätte, wie ein solches überhaupt eröffnet werden kann, klar, dass er nicht zum Wortgefecht nach Rom gebeten wurde, sondern zum finalen Schlag.

Noch beseelt von dieser gelungenen Aktion hielt Alessandro weiter den Blick auf den Monitor gerichtet. Hier wartete er auf Informationen, mit denen er einen viel gefährlicheren Gegenspieler, Kardinal Tomaso, unter seiner Kontrolle behalten wollte. Wie wenn bereits der bloße Gedanke etwas bewirken könnte, erschien in diesem Augenblick die Meldung „user out of network“; mit dieser Bildschirmfenster-Meldung zeigte der Spionage-Trojaner das Abmelden des überwachten Benutzers an.

Vorsichthalber schaltete Alessandro seinen Computer nicht aus, als er sich eilends erhob, einen schwarzen, gefütterten Lederblouson anzog und sein Arbeitszimmer verließ. Am Ende des Flurs war Tomaso gerade ins Treppenhaus abgebogen. In sicherem Abstand folgte ihm Alessandro. Aus dem Schatten der Haustüre konnte er erkennen, dass Tomaso, zusammen mit seiner dazugekommenen Haushälterin und Schwester, dem seitlichen Vatikantor in der Via P. Angelica zustrebte, um unmittelbar nach dem Tor nach rechts Richtung Petersplatz abzubiegen. Alessandro verließ nun ebenfalls das vatikanische Gebiet, immer bemüht, Tomaso und seine Begleiterin nicht aus den Augen zu verlieren. Bei Beginn des Kolonnadenrings überstiegen sie die kniehoch hängende gusseiserne Kette, die die Grenze zwischen Italien und dem Kirchenstaat bildete. Heute war sie nur noch ein Schutz der Touristen auf dem Petersplatz vor den an- und abfahrenden Touristenbussen, siebzig Jahre früher konnte sie zwischen Freiheit und Gefangenschaft, zwischen Leben und Tod trennen.

Nach Passieren des Obelisken und der Brunnen sowie des mobilen vatikanischen Postbüros liefen Tomaso und Eleonora zielstrebig auf die Haltestelle am Beginn der Via Gregorio VII zu. Alessandros Puls, sonst an das eher betont ruhige Schrittmaß eines gottgefällig und ruhig einherschreitenden Kardinals gewohnt, beschleunigte sich ob dieser Situation kurzfristig enorm. Der Zufall wollte es jedoch, dass hinter dem abfahrenden 916er-Bus unmittelbar ein freies Taxi fuhr, das nun entsprechend der Anweisung seines Fahrgastes dem Bus folgte. Fast zu spät hatte Alessandro dann bemerkt, dass seine Zielpersonen ausstiegen. Zu seinem Leidwesen blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Zwanzig-Euro-Schein nach vorn zu reichen und schnell das Taxi zu verlassen, ohne wertvolle Zeit beim Warten auf das Rückgeld zu verlieren. Umso mehr war er dann jedoch enttäuscht, auf der noch von der letzten Benutzung aufleuchtenden Klingel den Namen Soru zu lesen. „Alle Eile und der ganze Aufwand umsonst“ war sein gedankliches Fazit, nachdem er erkannt hatte, dass offensichtlich nur ein nichtssagender Verwandtenbesuch auf Tomasos Programm stand. Wahrscheinlich die Nichte, von deren Existenz er aus der Familienbuchkopie in der Personalakte erfahren hatte. Doch schon kurz darauf war der Jagdinstinkt des alten Alphatiers erneut erwacht: Im Fenster des dritten Stocks konnte er bei einem kurzen Blick zurück über die Schulter von der gegenüberliegenden Straßenseite aus gerade noch beobachten, wie Tomaso von zwei jungen Frauen eingerahmt, vom beleuchteten Fenster zurücktrat. In seiner sexuell eingetrübten Phantasie war es ihm nicht einmal möglich, gedanklich die Möglichkeit einzubeziehen, dass die junge Soru noch weitere Gäste eingeladen haben könnte. Seine durch persönliche Lebenserfahrung naturgemäß dominierte Vorstellung ließ nur einen Schluss zu: Die junge Soru ermöglichte Tomaso ein stilles Stündlein, während sie und ihre Tante sozusagen „Schmiere standen“. Gerne wäre er selbst ein Stündchen der Schäfer gewesen, aber Tomaso hätte er dies, trotz ihrer Gegnerschaft, nun wirklich nicht zugetraut.

Mit diesem vermeintlich neuen Wissen versehen hielt er es für angezeigt, den Rückweg zu verschieben und bis zum Ende des Besuchs auszuharren. Wer weiß, vielleicht würden sie gar gemeinsam das Haus für weitere vertrauliche Stunden verlassen. Mit diesen Erwartungen fiel es ihm dann auch nicht schwer, die nächsten Stunden, immer wieder den Hauseingang wechselnd, auf das Ende des Besuchs zu warten. Dass sich dies dann bis lange nach Mitternacht hinzog nahm er Tomaso aber doch persönlich übel. Als endlich hinter dem Fenster wieder Bewegung erkennbar war, rief er ein Taxi, und ließ dieses in einer Seitenstraße warten. Mit dieser rechtzeitigen Vorbereitung war es ein Leichtes, dem gerade vorgefahrenen Taxi von Tomaso, der unbekannten jungen Frau und Eleonora zu folgen. Am Zielpunkt der Fahrt angekommen stellte sich dann aber der erhoffte Erfolg doch nicht mehr ein: Die junge Frau verschwand hinter einer Tür, deren Klingelschilder ihm keine sichere Zuordnung ermöglichten, da sie entweder nur den geschlechtsneutralen Familiennamen enthielten oder sogar ausdrücklich einen männlichen Vornamen wie „Paolo“ vor „Fasano“, was er somit gleich ausschließen konnte.

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Sas qualis deppiat pagare infra dies XV decat essere juygadu et si non pagat siat illi segada una orgia in totu: es issa femina siat condennada secundu in su capidulu si contenit. (Kap. 23, Carta de Logu)

Donnini, 22. April 2012

Zwei Wochen nach Ostern war der Frühling nach Mittelitalien mit Macht, Wärme und Licht zurückgekehrt. Fast über Nacht waren die ersten, bis dahin noch trostlos wirkenden Bäume entlang des Tibers grün geworden. Bei strahlendem Sonnenschein verließ Giulia schon früh das Haus und eilte über noch still und leer im Morgenlicht vor sich hinträumende Straßen zügig zur Autovermietung beim Busbahnhof am Fuße des Gianicolo, wo der am Vorabend mittels ihres großelterlichen Weihnachtsgutscheins für diesen Tag bestellte Alfa Giulietta, wunschgemäß auch noch in cremeweiß, bereits zur Abholung bereit stand. Sie hatte sich für diesen Sonntag bei Ihrer Großmutter, Nonna Teresa, angemeldet, sowohl der Großmutter zur Freude als auch zum Versuch, den Wissensdurst zu ihren Vorfahren etwas besser als zu Hause in Venedig stillen zu können. Noch bevor die ersten Römer mit Sack und Pack, genauer mit Gartenstuhl und Klapptisch in großen Gruppen zu den riesigen Picknickplätzen in den Albaner Bergen und im Tibertal aufbrachen, war sie bereits aus der noch von Nebelschwaden durchzogenen Talebene des Tibers heraus ohne jegliche Verkehrsbehinderung nach Norden gefahren und hatte bereits das im Morgenlicht erstrahlende Orvieto links liegen gelassen. Stirnrunzelnd konnte sie am nächsten Parkplatz beobachten, wie ein weißer Sprinter-Kombi zwei nur dürftig bekleidete Schwarzafrikanerinnen nebst einer vergilbten Rollmatratze absetzte; erstaunt war sie allerdings nicht; sie hätte sich nicht für ein Jurastudium entschieden, wenn für sie die Laster und Lasten der Realität selbst Belastung sein würden.

 

Nun genoss sie, obwohl sonst von Technikprodukten nicht leicht zu beeindrucken, den sanften Druck der Rückenlehne und den sonoren Bass des Motors, als sie die Giulietta beim Ausfahren aus dem Parkplatz in wenigen Sekunden wieder auf 130 km/h gebracht hatte. Mit sicherer Hand am Lederlenkrad steuerte sie, jeden Kilometer genießend, auf der noch immer fast leeren Autobahn in Richtung Florenz. Ab Arezzo wurde der Verkehr dann allerdings sehr schnell dicht und sie war froh, bei Incisa die nunmehr kurz vor Florenz-Süd schon nur noch zäh vorankommende Autoschlange verlassen und dem Arno folgend in Donnini weiterfahren konnte.

Die kurvige Straße verlangte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Von rechts grüßte ein rötliches Kastell, linker Hand stand nun ein riesiges Outletcenter, wo in ihrer Kindheit noch sattgrüne, ufernahe Wiesen waren. Sie hätte nach ihrer recht zügigen Autobahnfahrt ohne weiteres die Zeit gehabt, ihren Besuch in Donnini mit einem kurzen Bummel durch das Outletcenter zu verbinden. Dass sie es nicht tat, geschah somit aus Überzeugung. Zum einen waren die meisten Produkte nach ihrer Vorstellung schlicht mit Phantasiepreisen belegt, zum andern widerstrebte ihr das ganze Milieu, die Mischung aus hochwertigster Ladenausstattung und zugleich Discountermentalität. Wenn sie sich, was durchaus auch vorkam, gelegentlich ein Paar modische Schuhe, eine Bluse oder auch eine Handtasche kaufte, so sollte bereits der Einkauf ein dazu passendes Erlebnis sein, der Erwerb der Ware das Ergebnis eines gemütlichen Bummels durch kleine Läden und Boutiquen der belebten Innenstadt. Bevor sie das Outletcenter aufsuchen würde wäre die Onlinebestellung in Europas größtem Internetversandhaus mit dem südamerikanischen Fluss im Namen ihre erste Wahl.

Wenige Meter vor der Bahnstation von Sant` Ellero verließ sie die Talstraße; die nun schmale Straße schlängelte sich durch den Wald einen kleinen und steilen Hang hinauf, bevor sie in flacherem Gelände mit einer nicht zu überschauenden Menge an Olivenbäumen auf Donnini zuführte. Schon von hier aus sah sie die ihr aus vielen Besuchen und auch wochenlangen Aufenthalten in den Schulferien bekannte Prachtfassade des Gutes Pitiana oberhalb des Ortes, zu dem auch die überall in den Olivenflächen stehenden kleinen Höfe gehörten. Lies sie den Blick noch weiter nach oben schweifen, folgte erneut ein Waldstück, deutlich dunkler als der macchiaähnliche Laubwald weiter unten nach Verlassen des Arnotals. Weit oben im Wald erkannte sie auch die Gebäude des schon vor fast tausend Jahren gegründeten Klosters Vallombrosa.

In Donnini angekommen stellte Giulia ihren Mietwagen auf dem kleinen Platz zwischen der Kirche und dem Haus ihrer Großmutter ab, und ging auf das Haus zu. Klingeln brauchte sie nicht, Nonna Teresa saß bereits auf einem alten Stuhl vor dem Haus, von wo sie schon seit einer Stunde jedes Mal aufgeblickt hatte, wenn sich der Lärm eines Motors bemerkbar gemacht hatte. Von weitem bereits winkte sie Teresa zu. Dann nahm sie ihr Enkelkind lange in die Arme, drückte sie an sich, so dass Giulia die Tränen spürte: „Dass ich Dich noch einmal sehen darf, Gott sei`s gedankt!“

Giulia freute sich über das Wiedersehen, bekam zugleich aber auch Angst angesichts der mit den letzten Worten von Teresa zum Ausdruck gebrachten Endlichkeit alles Irdischen.

Durch den aus bunten Plastikbändern bestehenden Insektenschutzvorhang hindurch führte Giulia ihre Großmutter zurück in die Wohnung. Die kleinen, überbackenen Teigtäschchen mit ihrer Käsefüllung auf dem schon fertig gerichteten Mittagstisch sahen einfach aus; seit sie mit ihrer Mutter vor einigen Monaten aber selbst hausgemachte Nudeln zubereitet hatte, wusste sie, welch großer Aufwand nötig war, um zunächst die Teigbahnen herzustellen, diese danach zu schneiden, die Teigvierecke mit Käsemasse zu belegen und einem passenden Stück Teig zu verschließen. Giulia beantwortete geduldig alle Fragen Teresas zu ihrem Leben in Rom und auch zu ihren Eltern in Venedig, obwohl sie sich sicher war, nicht nur eine Frage schon mindestens zwei Mal beantwortet zu haben.

Nach dem Essen fuhr Giulia ihre Großmutter durch die mit rotem Mohn versetzten Wiesen mit den Olivenbäumen und ihren im leichten Wind sich regenden silbrigen Blättern in den Nachbarweiler Pieve di Pitiana zur schon fast tausend Jahre alten Kirche Pieve di San Pietro a Pitiana. Dort nutzte Teresa die sonst mangels Fahrzeug fehlende Möglichkeit zum Besuch des Kirchleins für ein längeres Gebet. Lange stand sie vor Ghirlandaios großen Tafelbildern: Dem filigran-anmutigen Verkündigungsgemälde und dem erst 1999 wiedergefundenen Bild der Rosenkranzmadonna, murmelte unverständliche Gebete und kaufte schließlich auch noch eine Kerze, die sie sofort auf den entsprechenden Platz stellte. „Das Fehlen der Rosenkranzmadonna während meiner Hochzeit hat uns Unglück gebracht“, sagte Teresa, aber dass auch noch der Versuch unternommen wurde, diesen Diebstahl ausgerechnet Stefano in die Schuhe zu schieben, nach dem Motto „dem Lebenslangen schadet`s nicht, uns nimmt`s die Arbeit ab“, das hatte sie den damaligen Akteuren nie verziehen.

Als Teresa sie bat, auf einer der Bänke unter den Platanen vor der Kirche noch eine Weile sitzen zu dürfen, um noch einmal die paradiesische Kulturlandschaft tief auf sich einwirken zu lassen, fühlte Giulia, dass nun ein geeigneter Zeitpunkt gekommen war, Teresa nach Details ihrer Herkunft und auch dem immer noch ungeklärten Erinnerungsfetzen „Tante Eleonora“ zu fragen. Mit diesem Entschluss setzte sie sich neben Teresa, die auf ihre Frage hin zunächst einige Worte über ihren Alberto, die nur viel zu kurz erlebte Ehezeit und seinen tragischen Tod auf Gut Pitiana verlor, bevor sie dann ohne Unterbrechung fortfuhr und vieles von dem, was sie über Stefano Olivetti und Chiara Marconi noch wusste, ihrer Enkelin berichtete. Sie war überzeugt davon, dass sie nun – mit beiden Füßen im Studentenleben stehend -auch wahrhaft tragische Abläufe angemessen verarbeiten und verstehen konnte.

Teresa begann mit Chiara Marconi`s und Stefano Olivettis Hochzeit, zeichnete mit recht vielen Details das Bild eines grundsoliden, gläubigen Urgroßvaters und klagte danach, immer noch etwas verbittert, über den schicksalhaften Tag, an dem Stefano zu Unrecht verhaftet wurde. Sie erzählte von einem Tagebuch, das sie 1959 von einem Carabinieri aus Sardinien zugeschickt bekommen hatte. Auch wenn sie dieses Wissen nicht mehr bei Gericht verwenden konnte, bestätigte Stefano darin, nichts mit dem Mord, begangen angeblich aus Eifersucht, an dem Arbeiter im Mai 1949 zu tun gehabt zu haben. Daneben wussten sie seit der Lektüre des Tagebuchs auch, wer denn nun den Landarbeiter tatsächlich in Jenseits befördert hatte: Salvatore, der nutzlose Sohn eines Großgrundbesitzers, der nach einem verlorenen Kartenspiel die Beherrschung verloren hatte. Über das, was Stefano nach dem Fehlurteil alles erlebte, seine Haft und letztlich seinen Tod und auch zu „Tante Eleonora“ wollte Teresa nicht reden und saß dann auch auf dem Rückweg nach Donnini nur schweigend neben Giulia. Zurück in der Wohnung holte Teresa eine kleine Trittleiter, stellte sie neben ihr Bett, stieg schwer atmend zwei Stufen hinauf und entnahm ihrem Wäscheschrank zunächst einen Stapel Bettwäsche und danach ein kleines, dick in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen.

„Es soll nun Dir als meiner einzigen Enkelin gehören; nimm es mit, heute schon, und hoffentlich lange bevor mein Dasein hier zu Ende geht und das Tagebuch in die falschen Hände fällt, die noch immer in der Gegend aufgehalten werden und töten.“

Giulia erschrak. Sie fühlte sich durch das Handeln ihrer Großmutter einerseits geehrt, andererseits fürchtete sich vor der Verantwortung, die auf sie zukam, wenn es stimmen sollte, dass im Tagebuch der wahre Mörder benannt war. „Mord verjährt nicht“ war ihr erster Gedanke und beim zweiten Gedanken, dass nur sie allein den Mörder nach dem Lesen des Tagebuchs kennen würde, wurde ihr fast schlecht.

Aber Teresa war noch nicht fertig: „Nur eines musst Du mir versprechen: Solange ich auf dieser Erde bin, darfst Du nicht weiter lesen als zu Stefanos Aufnahme in die Strafkolonie Castiadas. Sobald ich diese Erde verlassen habe, darfst Du nicht nur, nein, Du musst den Rest lesen.“

Dieses Versprechen gab Giulia gerne und sofort ab, versprach es doch zeitlichen Aufschub bei der Erlangung mörderischen Wissens.

Nach dem Essen äußerte Teresa die Bitte, zur über dem Ort thronenden Villa Pitiana gefahren zu werden. Seit sie nicht mehr so gut zu Fuß war, also sicher schon mindestens fünf Jahre, war sie nicht mehr dort gewesen. Giulia nahm ihre Großmutter am Arm und führte sie behutsam über den kleinen Vorplatz zum Auto, wo sie ihr helfen musste, im recht tiefen Sitz Platz zu nehmen und die Sicherheitsgurte anzulegen.

Betont langsam fuhr Giulia dann die wenigen Kurven durch die Olivenhaine hinauf zur Villa und Fattoria Pitiana, die auf einem kleinen Plateau im Hang exakt unterhalb der Waldgrenze lag. Während man vom Ort aus und auch bei der weiteren Anfahrt nur die prächtige Fassade aus dem 19. Jahrhundert sah, stand Giulia mit ihrem Wagen nun vor der rückseitigen, zum Hang zeigenden Ummauerung des als befestigter toskanischer Gutshof schon seit dem Jahre 1039 bestehenden Guts mit einem großen schmiedeeisernen Tor zwischen zwei mit Figuren geschmückten Torpfosten. Durch die Gitterstäbe des verschlossenen Tors sahen sie in den Park des Guts, der einen uralten Bestand an prächtigen, auch exotischen Baumriesen aufwies. Zwischen den Bäumen war noch ein nun nicht mehr bewässerter künstlicher Bachlauf zu sehen.

Neben dem verschlossenen Tor führte, entlang der Mauer des Guts, ein kleiner Fahrweg direkt auf die Rückseite der Gebäude zu. Hier zeigte sich der Gebäudekomplex mit einer typischen, einen halben Meter tiefen, mächtigen Natursteinwand eines reichen und großen Landguts. Von dieser Seite aus hätte man nicht vermutet, dass die andere Seite des Gebäudekomplexes als schlossähnliche Fassade vor prächtigen Sälen ausgestaltet war. Verbunden waren die beiden Gebäudeteile durch einen Außenflügel der Fattoria, der in einem Eckturm auf den vorderen Prachtflügel traf, sowie einem weiteren Gebäudeteil mit Treppen und einer kleinen Kapelle zwischen zwei Innenhöfe mit Tongefäßen und Olivenpressen.

Giulia stellte den Alfa etwas unterhalb der Fattoria ab. Während die beiden Frauen die wenigen Stufen zum breiten, mit feinem, frisch geharkten Kies bedeckten Weg zum Vorplatz der Fassade hochstiegen, brach es erneut aus Teresa hervor: „Wenn ich alte Frau noch etwas ganz sicher weiß, dann dass dein Urgroßvater ein guter Mann war. Und wenn du später einmal das Tagebuch weiterlesen wirst, sei dir immer bewusst, dass auch deine Urgroßmutter nie an ihrem Mann gezweifelt hat und über ihn, der nicht mehr lebend zu ihr zurückkommen konnte, auch wegen seines restlichen Lebens ohne greifbare Hoffnung auf ein Wiedersehen auch in Gedanken und in Stunden der Verzweiflung und Ohnmacht nie schlecht gedacht oder geredet hat.“

Zum zweiten Mal an diesem Sonntag lief Giulia ein Schauer den Rücken hinunter. Die Tragödie, die aus Teresas Worten herauszuhören war, lähmte Neugier und Wissensdurst. Sie war froh, als sie die kleine Sitzgruppe auf dem Rasen zwischen der Balustrade und ihren seitlichen Freitreppen vor der Fassade und den zartrosa blühenden Rosen, die das Ende des Plateaus und den Beginn des zum Tal hin abfallenden Teils des Parks bildeten, erreicht hatten und Teresa ihren Vorschlag, für eine Kaffeepause hier Platz zu nehmen, dankend angenommen hatte.

Das ganze Gut, Fattoria und Palast, wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion, sondern als Hotel und für Veranstaltungen geschlossener Gesellschaften genutzt. Auch sie selbst hatte als zehnjähriges Kind mit ihren Eltern vor neun Jahren anlässlich des 60. Geburtstags ihrer Großmutter hier einige Tage gewohnt. Sie erinnerte sich noch an die tiefen Fensternischen im Zimmer, das im rückwärtigen Teil der Fattoria gelegen war. Als sie nun durch die hohe Glastür den Eingangssaal betreten hatte, um an der Hotelbar einen Cappuccino für Teresa und ein Glas Prosecco für sich zu holen, ließ sie es sich auch nicht nehmen, einen kurzen Blick in den Speisesaal mit dem Lilienmuster an den Wänden und die mit großen Kronleuchtern versehenen anderen Räume mit alten Bildern an der Wand zu werfen und ihre schon arg verblassten Erinnerungsbilder der Kindheit neu mit Farbe zu versehen. Einzig die kleinen grünen und orangen Sesselchen im Empfangsbereich, sie war sich nicht ganz schlüssig, ob man sie als kubistisch oder puristisch bezeichnen sollte, passten nach ihren Vorstellungen nicht mehr ganz zum Stil des Hauses.

 

Den restlichen Nachmittag saßen Teresa und Giulia vor dem Palast und blickten über den vor ihnen liegenden Teil des Parks hinunter nach Donnini und weiter über das Arnotal auf die flache Berglandschaft, hinter der nach seiner Wendekurve wiederum der Arno floss und an dessen dortigem Ufer bereits Florenz lag, dessen abendlicher Lichtschein am Nachthimmel sie damals als Kind so beeindruckt hatte.

Teresa hatte sich bewusst so gesetzt, dass die Fassade hinter ihr lag und damit ihrem Blick entzogen war. So sehr sie sich auch gewünscht hatte, den Ort wieder aufzusuchen, an dem ihr Mann Alberto die letzten Stunden seines Lebens vor dem tödlichen Gerüststurz verbracht hatte, war ihr doch ein mehr als nur sekundenkurzer Blick auf diese Fassade mit allzu schmerzhafter Erinnerung verbunden. Sie konnte dennoch nicht verhindern, dass sie immer wieder einen gellenden Schrei aus einem am Boden aufschlagenden Körper zu hören meinte und blickte erleichtert auf, als Giulia das Gespräch wieder aufnahm, auch wenn es sich dabei um ihren Mann drehte. „Ob zu Zeiten, als Alberto hier arbeitete, der künstliche kleine See unterhalb der Rosen wohl noch mit Wasser gefüllt war“ fragte sie und zeigte auf den tiefen, mit Stein ausgelegten Graben ein Stück den Hang hinunter vor ihnen, der sich in Form eines Ovals um eine künstliche Insel zog, und an dessen dem Palast zugewandter Seite noch die steinernen Säulen einer Bootsanlegestelle mit Resten tönernen Säulenschmucks zu erkennen war. Leider konnte ihr Teresa auf diese Frage keine Antwort geben. Seinerzeit hatte sie, als einfache Frau eines an der Fassade beschäftigten Arbeiters, keine Möglichkeit gehabt, in den Park des noch bewohnten Areals zu gelangen. Wenn sie es sich genau überlegte hatte sie damals nicht einmal einen solchen Wunsch gehabt, ein Besuch in dieser anderen Welt war, solange man nicht zur Arbeit dort geduldet wurde, nicht Teil ihres Vorstellungsvermögens.

Schweigend und in Gedanken noch in dieser vergangenen Zeit verhaftet, war Giulia mit Teresa am späten Nachmittag wieder hinunter nach Donnini gefahren um dann auch alsbald die Rückfahrt nach Rom anzutreten. Beim Abschied hatte sie noch einmal versprochen, das Tagebuch nur bis zum von Teresa gestatten Punkt zu lesen und spätestens im August wieder vorbeizukommen.

Für die Rückfahrt benötigte sie dann mehr Zeit als am Morgen. Sie befuhr meist die rechte Fahrbahn der mehrspurigen Schnellstraße; immer wieder dachte sie an das doch so kurze Leben von Alberto und Stefano, so dass es ihr für eine rasantere Fahrweise mit ständigen Spurwechseln an der dafür benötigten Konzentration fehlte.

Während sie nach einem längeren Stau bei Todi dann endlich, es war längst Nacht geworden, in westlicher Richtung in den Autobahnring um Rom eingebogen war, stellte sie sich kurz vor, sie säße nicht in einem Mietwagen, sondern im eigenen Auto und könnte direkt in die Via dei Pianellari fahren. Sie verwies die Überlegung allerdings sogleich wieder in das Reich wenig durchdachte Theorie, wusste sie doch genau, dass es in der Via dei Pianellari keine Parkplätze gab und sie das eigene Fahrzeug letztlich wie den Mietwagen in einer teuren Parkgarage in nicht unerheblicher Entfernung von ihrem Apartment hätte abgeben müssen. Und zu Hause in Venedig könnte sie den Alfa ohnehin komplett vergessen, hier müsste es ohnehin eher eines der kleinen eleganten Boote aus der Riva-Werft am Iseosee mit ihrer lackglänzenden Mahagonibeplankung sein.

Während des Aufenthalts in Donnini hatte sie sich eigentlich vorgenommen gehabt, die ersten Seiten des Tagebuchs gleich nach ihrer Ankunft in Rom zu lesen. Als sie dann aber nach Rückgabe des Fahrzeugs kurz vor Mitternacht in ihrem Apartment angekommen war, warf sie nur noch ihre Kleider über den Stuhl, legte das Päckchen mit dem Tagebuch auf ihren Schreibtisch und fiel in ihrem Bett schon wenige Sekunden danach erschöpft in einen traumlosen Tiefschlaf.

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Constituimus et ordinamus: qui si alcunu homini cum qui ant dertare et ponne illant agrghide credenza bengiat a jurare in manus dessu officiali qui at reere Corona …. (Kap. 61, Carta de Logu)

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