Buch lesen: «Schwarzbuch Alpen», Seite 3

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STRESS FÜR DIE VEGETATION: BRÄNDE UND HÖHENWANDERUNG

Auch wenn die „Sommerfrische“ am Berg in Zukunft ein Revival erleben dürfte – die Urlaubsidylle im Gebirge und an den Alpenseen könnte durch den Klimawandel getrübt werden. Bei langen Hitzeperioden ist nämlich mit häufigeren und schwereren Waldbränden zur rechnen.

Gegen Ende der Sommerhitzewelle 2003 verursachte ein Brandstifter einen verheerenden Waldbrand oberhalb von Leuk im Schweizer Kanton Wallis. Aufkommende Bergwinde sorgten für eine Ausbreitung des Brandes auf einen 500 bis 1000 Meter breiten Streifen bis hinauf an die Waldgrenze. 300 Hektar Wald, inklusive 70 Hektar Schutzwald, brannten in nur einer Nacht ab. Es schwelte mehr als zehn Tage lang. Ohne Helikopter hätte dem Feuer kaum etwas entgegengesetzt werden können. Die Löscharbeiten konnten erst drei Wochen später völlig eingestellt werden. Zum Glück gab es keine Toten oder Verletzten, berichtet die Studie „Leben mit Waldbrand“.19

Im Vergleich zum Mittelmeerraum treten Waldbrände in den Alpen (noch) eher selten und weniger großflächig auf. Wenn extreme Hitzeperioden in Zukunft vermehrt eintreten, wird es aber auch hier öfter zu Großbränden kommen, besonders in trockenen Lagen. Im Zusammenwirken mit dem Mangel an Schmelzwasser könnte das zu gefährlichen Situationen führen. Die Studie kommt zum Schluss, dass „in inneralpinen Trockentälern, zum Beispiel im Rhonetal und Engadin“, die Waldbrandgefahr „wegen der Zunahme von Dürren im Sommer drastisch zunehmen wird“. Doch auch bisher feuchtere Bereiche werden in Hitzesommern ein gesteigertes Brandrisiko haben.

Die Erwärmung wird auch den kälteliebenden Pflanzenarten des Hochgebirges zusetzen: Sie müssen nach oben ausweichen. Doch diese Flucht nach oben trifft unweigerlich auf eine Grenze: Am Gipfel ist Schluss. Sollte es zu einer durchschnittlichen globalen Erwärmung um drei Grad in den nächsten 100 Jahren kommen, ist nach Angaben der Alpenschutzkommission CIPRA20 eine Verschiebung der Vegetationszonen von ca. 600 Kilometern von Süd nach Nord bzw. eine vertikale Verschiebung um ca. 600 Höhenmetern zu erwarten. Da sich die meisten Gehölze aber nur mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 Kilometern in 100 Jahren ausbreiten, viele alpine Arten nur mit 50 Höhenmetern bzw. einzelne Grasarten gar nur mit vier Metern in 100 Jahren bewegen, werden viele Arten dem raschen Temperaturwandel nicht folgen können.

Der Wald stößt in höhere Lagen vor, Schäden in Fichtenwäldern in Tallagen durch Borkenkäfer nehmen zu. Laubwälder breiten sich aus. In sehr heißen Sommern kämpfen die meisten Baumarten mit Trockenheit. Weil sich die Wuchsbedingungen für etliche Baumarten im immer unwirtlicheren, hitze- und trockenheitsgeplagten Tiefland verschlechtern, werden die Alpen bei einem starken Temperaturanstieg als „Refugium für den Wald“ an Bedeutung gewinnen, erklärt Georg Gratzer, Waldökologe an der Universität für Bodenkultur Wien.21

Die Alpen sind die „floristisch reichhaltigste Region Mitteleuropas“. Die „Flora alpina“ zählt laut CIPRA 4491 Pflanzenarten, von denen 501 nur hier vorkommen. Durch die Höhenwanderung der Vegetationszonen sind 45 Prozent der alpinen Arten bis 2100 vom Aussterben bedroht.

„Wir sind mitten im Klimawandel. Ein weiterer Temperaturanstieg von etwa ein bis zwei Grad bis zur Mitte des Jahrhunderts kann nicht mehr verhindert werden, weil das Klima sehr träge auf die bisherigen Emissionen reagiert“, erläutert der Klimaforscher Herbert Formayer.22 „Wir haben ja schon eine massive Erwärmung hinter uns. Seit den Siebzigerjahren ist es schon um etwa zwei Grad wärmer geworden. Und das hat unsere Umgebung noch nicht verdaut. Die Natur hat nicht nachgezogen.“

REICHT DAS PARISER KLIMAABKOMMEN?

Am 12. Dezember 2015 feierte die Welt den Durchbruch bei der Klimakonferenz in Paris: Ein neuer Weltklimavertrag wurde nach heftigem Ringen doch noch unterzeichnet. Erstmals vereinbarten Industrie- und Schwellenländer, gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen. Alle teilnehmenden Staaten sind nun völkerrechtlich verpflichtet, ihren nationalen Klimaschutzbeitrag zu definieren und Maßnahmen zu dessen Umsetzung zu ergreifen.

Ziel des Vertrags ist es, die Erderwärmung auf maximal zwei Grad (bezogen auf das vorindustrielle Niveau) zu beschränken, wobei 1,5 Grad angestrebt werden. De facto geht es aber darum, die Erwärmung bei einem weiteren Anstieg von einem Grad ab heute zu stabilisieren. Um das zu erreichen, müssen die weltweiten Treibhausgasemissionen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auf null reduziert werden. Das bedeutet, dass ab 2050 keine klimaschädlichen Gase mehr ausgestoßen werden dürfen, die nicht wieder durch sogenannte „Senken“, zum Beispiel Wälder, aus der Atmosphäre aufgenommen werden. Und die Industriestaaten müssen den Entwicklungsländern unter die Arme greifen.

Doch sind diese Ziele überhaupt ausreichend?

Im September 2016 warnte ein Team von Top-Wissenschaftlern die Weltgemeinschaft, dass „sie damit aufhören sollte, sich mit dem Paris-Abkommen selbst zu gratulieren“, weil die globalen Temperaturen wahrscheinlich bereits in 35 Jahren gefährliche Werte erreichen werden. Sie legten einen Kurzbericht vor, wonach die Welt schon um 2050 den heiklen Wert von ein Grad Erwärmung überschreiten könnte, sollten die Emissionen nicht stärker gekürzt werden. Sir Robert Watson, Professor an der University von East Anglia und ehemaliger Leiter des UNO-Weltklimarats, betont: „Wenn ihr Regierungen es wirklich ernst meint, dann müsst ihr viel, viel mehr tun.“23

Die Klimamodelle berücksichtigen bis jetzt vor allem die bekannten Emissionen von Treibhausgasen, vor allem CO2. Wissenschaftler warnen aber davor, dass sich die Klimaerhitzung beschleunigen könnte, wenn es zu sogenannten „Kippeffekten“ („tipping points“) kommt. Damit sind „Rückkopplungen“ gemeint, etwa Methangase, die wegen der Erwärmung verstärkt aus dem auftauenden Permafrostboden Sibiriens entweichen. Methan ist um ein vielfaches klimawirksamer als CO2 und könnte das Klimasystem noch mehr ins Wanken bringen.

„Die tipping points sind das größte Problem“, bestätigt Herbert Formayer. „Nicht, was wir wissen, ist die Crux, sondern was wir nicht wissen. Da könnten Entwicklungen eintreten, wo wir nicht wissen, wie sich das Klimasystem verhalten wird. Dieses Problem können wir mit den Klimamodellen aber nicht abbilden, weil die werden dann so instabil, dass das nicht mehr glaubwürdig ist.“ Ein solches Worst-Case-Szenario wäre für die Alpen noch viel verheerender.

Im Alpenraum ist der motorisierte Straßenverkehr mit Abstand der größte Emittent von Treibhausgasen. Das gilt für den Lkw-Transit ebenso wie für den Freizeit- und Binnenverkehr. Die Zersiedelung und die wuchernden Shoppingwelten an den Ortsrändern tragen wesentlich zum Problem bei. Auch die künstliche Beschneiung und die Urlaubsmobilität sind riesige Energieverbraucher. Ein Teil des Klimaproblems ist also hausgemacht. Und die Alpenländer haben ihre „Hausaufgaben“ in Sachen Klimaschutz längst nicht gemacht.

Touristiker wissen um die Bedeutung des Schnees für ihr Geschäft. Ohne die „Magie“ des weißen Winters kollabiert das milliardenschwere Wintergeschäft in seiner aktuellen Form. Seilbahnbetreiber und Groß-Hoteliers müssten demnach längst die Klimaschutz-Bewegung anführen und in Washington demonstrieren, um Präsident Donald Trump zur Abkehr von seiner ignoranten Klimapolitik zu bewegen. Aber das ist aus heutiger Sicht nicht einmal in den kühnsten Vorstellungen denkbar.

BEDROHTE ALPENWÄLDER

Um 5000 v. Chr. bot das steirische Ennstal einen völlig anderen Anblick als heute: Ein fast lückenloser grüner Teppich aus Wald überzog das Tal bis zur Baumgrenze. Am Talboden breiteten sich große Hoch- und Niedermoore aus. Die waren schwer zu passieren und voller Schlangen und Bären. Der Ennsfluss nahm sich viel Platz und bildete Mäander. Aus dem Waldmeer ragten die Gerippe toter Nadelbäume. Die Wälder bestanden vor allem aus Fichten und Tannen, an den Südhängen wuchsen Mischwälder mit Buchen und Ahorn. Die Baumgrenze bildete ein Filz aus Latschen mit Fichten, Zirben und Lärchen. Oberhalb waren baumlose alpine Rasen und schneegefleckte Felslandschaften zu sehen.

Die Ansicht der Alpen hat sich seitdem gründlich verändert: Die Talböden sind heute Wiesen und mehr oder weniger stark verbaut. Auf den Hängen wachsen vor allem Fichtenforste, die teilweise aufgrund von Sturmschäden und Abholzungen bereits große Lücken aufweisen. Und die Baumgrenze liegt tiefer als seinerzeit, weil Teile der Wälder gerodet wurden, um die alpinen Rasen für die Almweiden auszuweiten. Ein Blick ins Ennstal im Jahr 2017 zeigt eine Kulturlandschaft. „Wildnis“, als vom Menschen nicht maßgeblich beeinflusste Zonen, gibt es nur mehr ganz oben.

Wälder prägen unser Alpenbild genauso wie Gipfel, Gletscher oder Almwiesen. Auf romantischen Gemälden finden sich oft knorrige Bäume vor hochalpinen Panoramen. In Alpen-Bildbänden werden romantische Ansichten alter Wälder im Winterweiß oder in magischen Lichtstimmungen präsentiert. Bergwald steht für die meisten Menschen für Natur und Unverfälschtheit. Die Tourismus-Werbung lockt mit Worten wie „urig“ oder „pur“. Doch das ist ein Irrtum. Die Wälder der Alpen sind fast zur Gänze das Resultat menschlicher Nutzung.

Schon vor Tausenden von Jahren wurden erstmals Wälder abgeholzt, um Platz für Siedlungen zu schaffen oder um Bauholz und Brennstoff zu gewinnen. Ausgehend von den Siedlungen wurde weiter im Wald eingeschlagen und das Vieh in die Wälder getrieben, was zu deren Auslichtung führte.

Die Waldnutzung im Gebirge war mit immensen Anstrengungen und Gefahren verbunden und forderte unzählige Todesopfer. Um das Holz ins Tal zu bringen, nutzte man steile Hänge und Abgründe, hölzerne Gleitrinnen (Holztriesen) und die Kraft des Wassers: Mithilfe von Klausen (Stauanlagen) wurden künstliche Wasserschwalle erzeugt, mit deren Wucht die Holzstämme über weite Strecken talwärts transportiert werden konnten. Flussabwärts wurden Flöße eingesetzt.

Durch „Streunutzung“ (Entnahme von Laub und Nadeln) kam den Wäldern viel Biomasse abhanden. Das führte teilweise zu schweren Waldschäden. Erst im 19. Jahrhundert erkannte man die Bedeutung von Laub und Nadeln für die Nährstoffversorgung der Wälder.

Holz war jahrhundertelang die einzige Energiequelle in den Alpen. Erst im Zuge der industriellen Revolution wurde es durch fossile Brennstoffe ersetzt. Das galt insbesondere für das frühkapitalistische Großgewerbe wie die Montanindustrie und die Salzproduktion: In den Alpenländern war die Holz-Nachfrage so gewaltig, dass mancherorts alle ursprünglichen Wälder abgeholzt wurden. Sogar Wertholz inklusive stattlicher Lärchen und Zirben wanderte in die Kohlenmeiler oder wurde als Hallholz für die Sudpfannen der Salinen verbrannt.

In der Folge kam es zu Konflikten zwischen der bäuerlichen Holznutzung zur Selbstversorgung und dem starken herrschaftlich-industriellen Holzbedarf, besonders für die Eisen- bzw. Waffenherstellung. Die industriellen Ansprüche setzten sich durch. Das wirkte sich in einem starken Anstieg der großflächigen Nutzungen aus, vor allem im Nahbereich von industriellen Betrieben.

Seit rund 300 Jahren stellen sich die Wälder der Alpen überwiegend als intensiv genutzte Forste dar, in denen meist mit flächigen Einschlägen („Kahlschlägen“) und nachfolgenden Aufforstungen gewirtschaftet wird. Weil oft mit schnell wachsenden Fichten, dem „Brotbaum der Forstwirtschaft“, aufgeforstet wurde, dominieren heute vielerorts gleichaltrige Reinbestände dieser nordischen Nadelbaumart. Das hat zum Rückgang der Artenvielfalt im Wald geführt, die Böden verarmt und die ökologische Stabilität reduziert. Homogene Bestände sind anfälliger für Stürme und Insekten-Invasionen. Diese „Stangenwälder“ werden von vielen Menschen zudem als hässlich empfunden.

In den Alpen gibt es heute kein einziges ursprüngliches, größeres Wald-Tal mehr. Die einstigen Alpenurwälder sind heute auf eine Fläche von einigen hundert Hektar geschrumpft. Naturwälder, also vor langer Zeit einmal genutzte Wälder, gibt es glücklicherweise mehr.

WOOD WIDE WEB: DAS NETZWERK DES WALDES

Im südlichen Niederösterreich wächst seit 6000 Jahren der gut 300 Hektar große Rothwald, der letzte große Alpenurwald. Er liegt in der streng geschützten Kernzone des „Wildnisgebiets Dürrenstein“ und darf nur von Wissenschaftlern betreten werden.

Einem 450 Jahre andauernden Grenzkonflikt zwischen zwei Klöstern und dem unzeitgemäßen Verhalten von Albert Rothschild ist es zu verdanken, dass dieser Wald nie kahlgeschlagen wurde. Rothschild hatte das Anwesen im Jahr 1875 erworben. Zu dieser Zeit waren die Wälder der Alpen für die einsetzende Industrialisierung schwer verwüstet, die Berge weitgehend kahlgeschlagen, in den Tälern stapelte sich das Holz.

Rothschild beschloss, den wilden Wald fortan zu schützen. Damit machte er sich allerdings zum Gespött seiner Zeitgenossen, die ob seiner weltfremden Naturliebe den Kopf schüttelten. Die Forstakademie Marienbrunn (Wien) veranstaltete im Jahr 1869 eine Exkursion in den Urwald. Im einem Bericht darüber heißt es: „Nicht ungezügelte Üppigkeit in ungeschwächter Urkraft, eingehüllt in rauschende Duftfülle, romantischer Gestaltenreichtum und Lebensfrische, sondern Leichenhof, gebrochene Kraft, Verfall und Modergeruch … Verkommenheit, wie überall dort, wo die ordnende Hand des Menschen nicht hinkommt!“24

Natürlich ist der Rothwald nicht „verkommen“. Im Gegenteil. Dieser wilde Wald ist eine regelrechte Explosion des Lebens. Reinhard Pekny arbeitet als Ranger im Wildnisgebiet und führt Fach-Exkursionen in das Naturreservat. – Es ist ein wolkenverhangener Frühlingstag. Die Laubbäume leuchten in frischen Grüntönen. Wir betreten eine Anders-Welt des Riesenwuchses, der Formen- und Gewächsvielfalt, der Moose, der Pilze und des Totholzes. Es ist ein wenig wie der Übergang in ein Fantasy-Reich. „Wälder“, erklärt der Ranger, „bestehen nicht nur aus Bäumen. Wälder verbinden den Boden, die Erde, mit dem Himmel.“ Und die verborgene Welt des Waldbodens ist faszinierend – und weitgehend unbekannt.

Die Waldökologie-Professorin Suzanne Simard vom Forest Science Center an der Universität von British Columbia (Kanada) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Erforschung dieser unbekannten Sphäre unter unseren Füßen. Einst hatte sie in Aufforstungsprogrammen nach Kahlschlägen in der kanadischen Forstwirtschaft gearbeitet. Da war ihr aufgefallen, dass die wenigen üblicherweise angepflanzten Setzlinge in vielen Fällen nicht gut wuchsen. Sie sahen anders aus als ihre „wilden“ Artgenossen in den Urwäldern von British Columbia, in denen sie aufgewachsen war. Die Bäumchen waren oft mickrig und krank. Als sie dann Wissenschaftlerin wurde, ging sie daran, dieses Phänomen zu erforschen. Sie fand heraus, dass Bäume schwächer und anfälliger für Insektenangriffe wurden, wenn man sie aus ihrer Baumgemeinschaft entfernte und sie dann sozusagen allein aufwachsen ließ. In der Film-Doku „Intelligent Trees“25 berichtet sie, wie sie sich mit dem System der Mykorrhizapilze im Waldboden zu beschäftigen begann.

Mykorrhiza bedeutet in etwa „verpilzte Wurzel“, eine Wurzel also, die vom mikroskopisch kleinen Fadengeflecht eines Mykorrhizapilzes besiedelt und umhüllt ist. Alle natürlichen Baumarten der Erde sind mit Mykorrhizapilzen vergesellschaftet. Pilze und Bäume unterhalten Austauschbeziehungen untereinander. Die Pilze können sich über mehrere Quadratkilometer ausbreiten. Sie versorgen „ihre“ Bäume mit Nährstoffen und Wasser, die sie aus dem Boden aufnehmen. Die Bäume geben im Gegenzug bis zu einem Drittel ihrer Zuckerproduktion an die Pilze ab. Ein Löffel voll Erde kann mehrere Kilometer Pilzfäden enthalten.

Bei der Kartierung von Wäldern zeigte sich, dass alle Bäume mithilfe der Pilze in einem riesigen Netzwerk verbunden sind. Dieses wird mittlerweile auch in der Fachwelt als „Internet des Waldes“ bezeichnet.

Simard injizierte eine schwach radioaktive Markersubstanz (Kohlenstoff-Isotope) in Bäume und fand diese Kohlenstoffmoleküle wenig später auch in Nachbarbäumen. Der Austausch erfolgte unterirdisch, über das Wurzel-Pilznetzwerk. Und es stellte sich heraus, dass auch andere Moleküle über das Pilz-Netzwerk hin- und herwandern. „Das gab uns ein rudimentäres Verständnis von der Sprache der Bäume“, sagt sie. Man könne sich dieses Netzwerk auch als „Marktplatz“ vorstellen, wo Nahrung angeboten oder nachgefragt wird.

Bisher war die vorherrschende Ansicht, dass Bäume zueinander in einem Konkurrenzverhältnis um Licht, Wasser und Nahrung stehen und dass nur die „stärksten“ überleben. Doch dies dürfte nicht zutreffen: Bäume kooperieren und unterstützen einander. Simard konnte nachweisen, dass selbst grundverschiedene Arten wie Birken und Tannen einander helfen: Im Sommer versorgen die Birken die eher im Schatten wachsenden Tannen, im Winter revanchieren sich die immergrünen Tannen und liefern den entlaubten Birken Nährsubstrate.

Peter Wohlleben, Ökoförster und bekannter Buchautor in Deutschland, meint, dass sich Bäume „fast bedingungslos“ unterstützen: „Die Schwächsten werden von den Starken unterstützt.“ In der Wald-Gemeinschaft würden sie auch das Mikroklima regulieren. Wohlleben bezeichnet das als „Baum-Kommunismus“, weil das Individuum nicht so wichtig ist wie die Gemeinschaft. Er erzählt von „befreundeten“ Bäumen, die ihre Äste voneinander weg wachsen lassen, um sich nicht ins Gehege zu kommen, und denen der Lebenswille abhandenkommt, wenn der „Freund“ stirbt. Die Wurzeln dieser „Baumfreunde“ sind massiv miteinander verflochten. „Für die Bäume ist es ein Desaster, wenn das soziale Netzwerk kollabiert“, erklärt der Förster.26

Die wichtigste Rolle in diesem „wood wide web“ spielen die größten und ältesten Bäume. Diese „Mutterbäume“ weisen die intensivste Vernetzung mit den meisten Verbindungen auf. Die jungen Bäume werden von den alten versorgt und wachsen in deren Umgebung auf. Sie werden offenbar regelrecht „erzogen“: Untersuchungen haben gezeigt, dass Altbäume über Licht-Zugeständnisse und Nährstoffe das Wachstum der Kleinen beeinflussen. Enger „verwandte“ Altund Jungbäume unterhalten intensivere Austauschprozesse als einander „fremde“, erklärt Simard. Das konnte in Experimenten belegt werden.

Der Wald ist also eine innig verbundene Gemeinschaft; daher ist es für Wälder wichtig, als Ganzes, also mit möglichst vielen Individuen, zu überleben. Wenn Wälder großflächig abgeholzt und mit (anderen) schnell wachsenden Baumarten aufgeforstet werden, erhält man große Flächen mit vereinzelten Bäumen, Waisenkindern quasi, die ohne sorgende Mutterbäume und den Schutz der Wald-Kooperative aufwachsen müssen. Suzanne Simard meint daher, es sollten niemals zu viele Bäume gleichzeitig entfernt werden. Da Altbäume besonders viele Verbindungen zu anderen Bäumen unterhalten, sind sie gewissermaßen Knoten oder „hubs“, spielen eine Schlüsselrolle in der Aufrechterhaltung des Wald-Netzwerkes und damit für die Waldgesundheit. Wenn zu viele Altbäume gleichzeitig umgeschnitten werden, kollabiert das Netzwerk. Daher ist es wichtig, ausreichend Mutterbäume im Wald zu belassen.

Diese Erkenntnisse haben große Bedeutung für die Forstwirtschaft, besonders in ökologisch sensiblen Räumen wie den Alpen: Kahlschläge sollten schlichtweg unterbleiben. Aber in vielen Alpenwäldern stehen diese nach wie vor auf der Tagesordnung – wenn auch in kleineren Dimensionen als in Kanada. Eine ökologisch „nachhaltige“ Forstwirtschaft sollte demnach das Prinzip des minimalen Eingriffs verfolgen und urwaldähnliche Strukturen im Wald aufrechterhalten oder schaffen. Dazu gehören Altbäume und Totholz, die standortgerechte Vielfalt der Baumarten und die Ungleichaltrigkeit der Bäume. Suzanne Simard stellt klar, dass das nicht bedeute, dass Wälder nicht mehr genutzt werden dürfen.27 Sie müssen aber weniger intensiv genutzt werden.

Die Forschungsergebnisse von Simard legen auch nahe, möglichst mit dem natürlichen Nachwuchs zu arbeiten und keine Setzlinge aus Baumschulen zu verwenden. Denn wenn in Laubwaldgebieten mit Fichten oder gar mit Exoten wie Douglasie aufgeforstet wird, fehlen die mit diesen Bäumen verbundenen Mykorrhiza-Netzwerke im Boden. Geschwächte, störungsanfällige und wenig widerstandsfähige Forste sind die Folge.

Die Resultate einer drei Jahrzehnte währenden Untersuchungsreihe aus dem Schweizer Pilzreservat La Chanéaz (Kanton Freiburg) zeigen „auffällige Veränderungen in der Artenzusammensetzung der Pilzflora: die Mykorrhizapilze haben im Verhältnis zu den übrigen Waldpilzen deutlich abgenommen.“28 Diese Entwicklung sei „beunruhigend, weil Mykorrhizapilze im Ökosystem Wald wichtige Funktionen erfüllen“. Nach Kahlschlägen oder auf leergefegten Sturmschadenflächen würde man in den nachfolgenden Jahren keine Fruchtkörper von Mykorrhizapilzen mehr finden, weil die Pilze nicht mehr von den baumeigenen Kohlenhydraten versorgt werden.

„Unzählige Gewächshausexperimente“ würden beweisen, dass Pflanzen mit Mykorrhizapilzen besser wachsen und stresstoleranter sind als Pflanzen ohne Mykorrhizapilze: „Ein nachhaltig genutzter Wald mit einer großen Baumartenvielfalt ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt einer hohen Diversität an Waldpilzen.“ Fazit des Berichts: „Eine hohe Diversität an Mykorrhizapilzen ist eine Voraussetzung für einen gesunden Wald. Ganz nach dem Motto: ohne Wald keine Pilze – ohne Pilze kein Wald.“

Nun, was hat diese Pilz-Geschichte in einem Alpenbuch zu suchen? Wälder sind ein enorm wichtiger Faktor für die Bewohnbarkeit der Alpen: Sie schützen Täler, speichern Wasser, beeinflussen das lokale Klima, filtern die Luft, speichern Kohlenstoff, liefern Rohstoffe, bieten Lebens- und Erholungsraum und sind eine Ressource für die Wirtschaft. Daher müssen sie mit der größtmöglichen Sorgfalt und Rücksicht behandelt werden.

In den vergangenen Jahrhunderten wurden die alpinen Wälder aber großflächig regelrecht misshandelt. Ein Großteil der Gebirgswälder wurde mehrmals kahlgeschlagen und danach meist mit schnell wachsenden Baumarten wie Fichten und Kiefern bepflanzt. Die Wurzel-Pilz-Netzwerke sind daher vermutlich großflächig schwer gestört.

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