Museumsschiff

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Museumsschiff
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Museumsschiff

© 2013 Begedia Verlag

© 2008 Matthias Falke

Umschlagbild - Alexander Preuss

Covergestaltung und Satz - Begedia Verlag

Lektorat - André Skora

ebook-Bearbeitung - Begedia Verlag

ISBN-13 - 978-3-943795-92-9 (epub)

Besuchen Sie uns im Web:

http://verlag.begedia.de

Das ENTHYMESIS-Universum

Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien

1. Laertes

2. Exploration

3. Gaugamela

- Planetenschleuder

- Museumsschiff

- Schlacht um Sina

4. Zthronmic

5. Tloxi

6. Jin-Xing

7. Rongphu

Teil I - In der Verbannung

Kapitel 1. Die Arche

Ich stand am Fenster und sah hinaus. Mein Kopf war leer, und meine Augen sahen nicht, was sich auf ihrer Netzhaut spiegelte. Das Surren der Nanopumpen drang an meine Ohren und teilte mir mit, welche Fortschritte Jennifer bei der Toilette machte. Ich betrachtete die Große Mauer. Wie die nebulöse Struktur der Milchstraße, von der Erde aus gesehen, die einzelnen Sterne nicht mehr erkennen ließ, aus der sie gebildet war, so waren hier die einzelnen Galaxien nicht mehr zu unterscheiden, die die gewaltige Barriere aufbauten. Eine Mauer aus schimmerndem perlmuttfarbenem Licht, die den ganzen nördlichen Horizont einnahm. Unzählige Galaxien wirkten daran mit, diese transparente Membran zu bilden, die den bekannten Kosmos in zwei Kammern teilte. Es war die größte zusammenhängende Struktur im Universum, was aber nichts besagen musste. In den letzten Monaten hatte sich unser Wissen in einer Weise revolutioniert, die kein Mensch mehr für möglich gehalten hatte. Wir hatten uns eingebildet, über den Kosmos bescheid zu wissen, und mussten dann einsehen, dass wir wie Kaulquappen nur das Innere unseres Weihers kannten, und nun, nach einer schmerzlichen Metamorphose mit neuen Organen und Perspektiven ausgestattet, den Kopf ins Freie erhoben und uns staunend im harten Luftreich umsahen. Wir hatten Galaxien entdeckt, die weiter entfernt waren als das Universum alt war, und jeden Tag registrierten unsere Sensoren neue Phänomene, die mit unseren bisherigen Vorstellungen von der Kohärenz des Kosmos nicht in Einklang zu bringen waren. Und dabei waren wir Enkel und Urenkel des Warp-Zeitalters, Sternenfahrer, denen das Parsec dasselbe bedeutete, was einst dem römischen Legionär die milia, der Tausendschritt gewesen war. Wir tranken das Feuer der Sterne, und unsere Schiffe fuhren mit purem Licht.

Jennifer kam aus der Nasszelle. Ihre nackte Gestalt spiegelte sich in der polarisierenden Scheibe, sodass ihr Körper vor mir im Sternenraum zu schweben schien. Der süße Duft des Zerstäubers, den sie benutzt hatte, verstärkte den angenehmen Schwindel, der mich überkam. Ich wandte mich um und sah ihr in ruhiger Vertrautheit zu, wie sie in das weiße Unterzeug aus sensoriellem Gewebe schlüpfte und die Uniform anzog. Sie bündelte ihr Haar mit einer Hand und fasste es mit einem Ring aus dunklem Elastil zusammen.

»Bist du soweit?«, fragte sie.

»Ich warte nur auf dich«, gab ich zurück.

Die Aufrüstung der Explorer war abgeschlossen. Die erforderlichen Tests hatten wir durchgeführt. Die drei verbliebenen Schiffe der ENTHYMESIS-Klasse hatten ihre volle Warptauglichkeit unter Beweis gestellt. Wir warteten nun auf einen Einsatzbefehl. Allerdings würde dieser, so tief im Deepspace wie wir derzeit operierten, noch auf sich warten lassen. Von den Routineübungen abgesehen, die nur wenige Stunden am Tag einnahmen, konnten wir frei über unsere Zeit verfügen.

»Dann komm«, sagte Jennifer.

Sie sprach das Codewort für die Entriegelung der Tür und ging voran. Ich folgte dem Wippen ihres Pferdeschwanzes und weidete mich an den geschmeidigen Bewegungen ihrer schmalen Hüften. Sie war vor ein paar Wochen fünfundvierzig geworden, aber ihr Körper war immer noch der einer trainierten Dreißigjährigen, und geistig verband sie das spontane Temperament einer Jugendlichen mit der Erfahrung einer der besten Pilotinnen der Union und der Weisheit einer Prana-Bindu-Meisterin.

»Bin gespannt, ob es diesmal klappt«, meinte sie, während sie mit langen Schritten den Gang hinuntermarschierte.

Seit dem letzten Test war einige Zeit vergangen. Sie hatte Reynolds bei den Berechnungen assistiert. Eigentlich kann nichts mehr schief gehen, hatten sie sich immer wieder gegenseitig vergewissert, aber es blieben doch noch Unwägbarkeiten. Zuviel von dem, was uns bis vor kurzem selbstverständlich geschienen war, hatten wir über Bord werfen müssen.

»Wir werden sehen«, sagte ich schicksalsergeben.

Ich hatte mich in letzter Zeit eher an Rogers und Wiszewskys strategischen Überlegungen beteiligt. Von den technischen Details verstand ich nur so viel, wie ich benötigte, um das Kommando über ein Schiff zu führen. Die Berechnungen, die Jennifer mit WO Reynolds und Dr. Frankel durchführte, überstiegen meine mathematischen Fähigkeiten und auch das eher pflichtgemäße Interesse, das ich derlei Dingen entgegenbrachte. Die Fragen, die ich mir stellte, zielten eher darauf ab, wann die neuen Technologien zur Verfügung standen, inwieweit sie unseren Aktionsradius erweiterten und was sie für unsere langfristige Orientierung bedeuteten.

Im Durchgang zur Brücke trafen wir Lambert. Sie deutete einen Gruß an und schnitt dabei ein schiefes Gesicht, das wohl ironisch wirken und ihrer Skepsis angesichts des bevorstehenden Experimentes Ausdruck verleihen sollte.

Wir betraten die Brücke und begrüßten die dort vollständig versammelte Führung. Reynolds warf uns nur einen kurzen Blick zu und widmete sich dann wieder seinen Instrumenten. Ich hatte ihn selten so angespannt gesehen. Für gewöhnlich war er die Ruhe in Person, und unter Stress wurde er normalerweise immer noch langsamer und behäbiger.

Die gesamte Besatzung der MARQUIS DE LAPLACE fieberte der Meldung vom geglückten Durchbruch entgegen, und vor allem Commodore Wiszewsky konnten seine Ungehaltenheit über die andauernden Verzögerungen kaum noch verbergen. Rogers, der von der technischen Seite der Materie mehr verstand, hielt sich auffallend zurück. Er hatte Frankel und Reynolds freie Hand gegeben. Der gesamte Stab der Wissenschaftlichen Abteilungen stand ihnen zur Verfügung und arbeitete ihnen zu, und dennoch reihten sie seit Monaten einen Misserfolg an den nächsten.

Die Komarowa hatte kokett mit ihren schweren Lidern geklimpert, während Wiszewsky, an dessen rechter Seite sie hing, uns mit einem huldvollen Kopfnicken empfing. Dann wandte die allgemeine Aufmerksamkeit sich den beiden leitenden Wissenschaftlern zu.

»Meine Herren ...?«, brummte Rogers mit fragendem Unterton.

Reynolds nickte eifrig, ohne von seinen Berechnungen aufzusehen. Dr. Frankel, der als einziger keine Uniform, sondern den weißen Laborkittel trug, studierte die Anzeigen seines tragbaren MasterBoards.

»Keine neunzig Sekunden mehr«, sagte er, »und wir wissen, ob unsere Annahmen sich diesmal als richtig erweisen.«

Das sollte ironisch klingen, aber die Annahmen hatten sich in jüngster Zeit schon so oft als fehlerhaft herausgestellt, dass die selbstherrliche Ankündigung ins Leere ging. Niemand verzog eine Miene.

Jennifer gesellte sich zu den Wissenschaftlern, die wir ihren Instrumenten überließen, während wir übrigen uns zur großen Panoramafront begaben. Der leere Kosmos lag vor uns, in einer Leere, die nie zuvor eines Menschen Herz bedroht hatte. Die Große Mauer lag hier in unserem Rücken. Das tiefe Gähnen des extragalaktischen Raumes öffnete sich vor uns. Eine Schwärze, wie sie im Inneren der Milchstraße nirgends anzutreffen ist, verhüllte weite Bereiche der Aussicht. Wir starrten ins blinde Nichts. In einiger Entfernung trieben die Galaxien der Lokalen Gruppe durch die uferlose Nacht. Andromeda flackerte wie eine Kerzenflamme, die man durch ein milchiges Glas betrachtet, gleich daneben drehte sich die Milchstraße, wobei ihre Bewegung so gemächlich war, dass man einige Millionen Menschenleben hätte ausharren müssen, um die Vollendung eines Umlaufs zu erleben.

Die Milchstraße von außen zu sehen, das war bis vor einigen Monaten ein Traum, den kein Mensch ernsthaft unter seiner Schädeldecke ausbrüten konnte. Die weiträumigsten Bewegungen, die die MARQUIS DE LAPLACE als größtes und schnellstes Schiff der Union ausgeführt hatte, waren auf die solare Region beschränkt gewesen. Sie führten zum nächsten und übernächsten Nachbarstern und beschrieben einen Radius, der jetzt mit bloßen Auge nicht mehr innerhalb der gläsern schimmernden Spiralarme auszumachen war. Jetzt sahen wir die ganze Struktur von außen, deren Durchquerung das Licht mehr Zeit kostete, als der Aufstieg vom Neandertaler zum Homo Astralis gedauert hatte.

»Zehn Sekunden«, verkündete Frankel.

Dann zählte er den Countdown. Als er bei Null angekommen war, geschah überhaupt nichts. Schmerzhafte Stille wuchs auf der Brücke, während irgendwo ein paar Instrumente klickten und das Brummen der Feldgeneratoren, das man für gewöhnlich nicht wahrnahm, hörbar wurde. Wir starrten in den Abgrund von Leere. Ein Lichtsignal hätte vor dem Auftreten der ersten Hominiden ausgesandt werden müssen, um uns hier und heute zu erreichen, und wenn wir jetzt einen Funkspruch losschickten, würde er auf eine Erde treffen, auf der die Kontinente nicht mehr die uns bekannte Form und Lage hätten.

Noch hielten alle den Atem an. Nicht einmal ein Fluch oder Stöhnen der Enttäuschung wurde laut. Die Zeit schien dadurch still zu stehen. Aber tatsächlich eilte sie weiter und vernichtete unsere Hoffnung auf einen baldigen Abschluss der Erprobungsphase.

 

Plötzlich, als sei der Sternenraum nur eine Spiegelung in einem flachen Weiher, in den eben ein Regentropfen gefallen war, lief eine konzentrische Störung über das Bild. Der Anblick der Galaxien wellte sich. Aus der punktförmigen Mitte der Erscheinung brach eine Explosion von Licht. Die Scheiben verstärkten selbsttätig die Polarisation, wodurch alle Sterne unsichtbar wurden außer dem einen, der selbst durch die Abschirmung hindurch blendete. Impulsiv hatten wir alle die Hände vors Gesicht gehoben und waren einen Schritt zurückgetreten. Ich hörte, wie die Feldgeneratoren aufdröhnten. Dann taumelte das Schiff, wie von einer gewaltigen Breitseite getroffen. Ein Energieausbruch von unvorstellbarer Heftigkeit warf den Zwölf-Kilometer-Titan-Corpus der MARQUIS DE LAPLACE auf die Seite wie ein schwerer Brecher eine Nussschale. Ionenentladungen brannten vor den verdunkelten Scheiben auf und spannten Strahlungsschnüre von den Antennen des Schiffes zu auskragenden Aufbauten. Ein rosafarbenes, von blaugrünen Höfen durchsetztes Halo detonierte am Generatorschild der MARQUIS DE LAPLACE. Die künstliche Schwerkraft ließ uns in die Knie gehen, als sie verhinderte, dass wir im Raum herumgeschleudert wurden. Die virtuellen Gyroskope schrien bei dem Versuch, das sich windende Schiff zu stabilisieren.

»Verdammt«, knurrte Reynolds.

»Heilige Scheiße«, fluchte Dr. Rogers. »Können Sie Ihre Fehlversuche nicht wenigstens durchführen, ohne uns alle um Kopf und Kragen zu bringen?!«

Wir kämpften den Schwindel nieder und kniffen die Augen zu, auf denen noch die Nachglut der Explosion tanzte. Das Schiff rollte selbstständig in die ursprüngliche Position zurück, während die Automatik die Polarisation der Scheiben wieder aufhob. Plasmatische Entladungen zeichneten noch den für gewöhnlich unsichtbaren Cocon des Generatorfeldes nach, das das Schiff umgab und es gegen kosmische Strahlung abschirmte.

»Was ist passiert?«, fragte Jennifer.

Sie hatte den Schock als erste abgeschüttelt und ging zur Schadensanalyse über. Während Rogers sich von seinen Adjutanten über den Zustand des Schiffes informieren ließ und dann sämtliche Stationen rief, um sich zu vergewissern, dass die MARQUIS DE LAPLACE den Vorfall unbeschadet überstanden hatte, scharten wir uns um Reynolds und Frankel, die sich über ihre Konsolen beugten, wo das Ereignis in die Sprache der Mathematik übersetzt wurde.

»Um Himmels Willen«, stieß Jennifer nach einer Weile aus. »Sie haben eine instabile Singularität geöffnet.«

Frankel nickte in grimmigem Schweigen, aus dem ich so etwas wie hybriden Stolz herauszuhören glaubte. Auch ein Gott kann einmal danebenhauen, schien seine gefasste Miene zu sagen.

»Der Warpkorridor war nicht phasenkonstant«, stellte Reynolds fest. »Dadurch ist die Sonde zu Strahlung verglüht.«

Eine Stunde später trafen wir uns zur Besprechung in der Großen Messe. Wir hatten uns inzwischen vergewissert, dass die externen Strahlungswerte wieder auf normal heruntergegangen waren und dass das Schiff keine Schäden davongetragen hatte. Dennoch war es knapp gewesen. Den Gedanken, was geschehen wäre, wenn die MARQUIS DE LAPLACE in Mitleidenschaft gezogen worden wäre, ließ keiner in sich aufkommen. Wir waren auf Gedeih und Verderb auf dieses Schiff angewiesen. Wie eine Arche barg es in seinen Spanten aus Titanstahl alles, was wir zum Leben benötigten. Und um uns herum gab es buchstäblich nichts. In diesem Nichts aber hatte sich für Sekundenbruchteile ein Korridor geöffnet und eine Monstrosität aus reiner Energie ausgespien. Jetzt hatte sich dieser Schlund wieder geschlossen. Die Gleichförmigkeit des Vakuums war wiederhergestellt. Die Finsternis, die uns umflutete, war nur von pulsierender Röntgenstrahlung und polarisierten Gammawellen erfüllt. Es gab zwei oder drei Wasserstoffatome pro Kubikmeile, aber auf Billiarden Kilometer keine Massenansammlung, die schwerer gewesen wäre als hundert Wasserstoffatome, und auf Millionen Lichtjahre nichts, woran wir im Notfall hätten festmachen können. Wir trieben auf einem Meer, in dem es nicht Inseln noch Kontinente gab, dessen Wasser untrinkbar war und über dem sich ein luftleerer Himmel wölbte. Die Taube, die wir ausgesandt hatten, war vor unseren Augen vom Blitz zerrissen worden, der aus dem schwarzen Firmament geschleudert kam.

»War die Sonde denn im Inneren der Milchstraße?«, erkundigte sich Laertes.

Er rührte in seinem Jadetee und nickte der Ordonnanz freundlich und zerstreut zu, als sie ihm ein Schälchen Diamantzucker reichte.

»Das wissen wir nicht«, gab Reynolds gereizt zurück. »Wie Sie vielleicht gesehen haben, ist sie vor unseren Augen zu Strahlung verglüht. Einige Milliarden Terawatt in hochionisierten Partikeln.«

Er zündete sich eine Qat-Zigarette an und inhalierte den Rauch in einem tiefen Lungenzug. Ich überlegte, wann ich ihn das letzte Mal rauchen gesehen hatte.

»Ihre Masse muss vollständig in Energie umgewandelt worden sein«, fiel Dr. Frankel ein. »Immerhin zwanzig Tonnen ...«

Laertes ließ sich nicht irremachen. Er blies den hellgrünen Dampf von der Tasse, trank einen Schluck und fasste dann die beiden Wissenschaftler ins Auge.

»Sie scheint sich doch auf dem Rückweg befunden zu haben ...«

Reynolds schüttelte nur den Kopf und überließ es Frankel, darauf zu antworten.

»Dieser Eindruck drängt sich einem auf«, sagte der Stellvertretende Leiter der Planetarischen Abteilung, »aber er könnte trügen. Der Warpkorridor könnte auch von einer Gravitationsanomalie gespiegelt worden sein.«

»Immerhin«, warf Jennifer ein, »wurde der vorausberechnete Termin bis auf einige Sekunden eingehalten. Das deutete doch darauf hin, dass die Sonde ihr Ziel erreichte und nur bei der Rückkehr nicht funktionierte.«

Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Lehne des gravimetrischen Sessels zurückgefahren und nippte an ihrer Brokkolimilch.

»Wir verstehen diese Vorgänge noch viel zu wenig«, seufzte Reynolds. »Dass an Bord dieses Schiffes ungefähr die vorausberechnete Zeit verstrichen ist, hat nichts zu heißen. Wir werden den Strahlungsblitz nach allen Regeln der Kunst analysieren, aber ich erwarte davon nicht, dass wir erfahren, ob der Warpantrieb wenigstens in einer Richtung funktioniert hat und ob die Sonde der Erde nahe gekommen ist.«

Svetlana, die auf der Armlehne von Wiszewskys Sessel hockte und sich an seine Seite schmiegte, wurde zusehends unruhig. Sie flüsterte dem Commodore etwas ins Ohr, aber dessen einzige Reaktion bestand darin, zur Runde hin zu nicken. Das schien sie als Aufforderung zu verstehen, ihr Anliegen der Allgemeinheit vorzutragen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, wandte sie sich daraufhin an die beiden federführenden Wissenschaftler. »Aber was ist denn daran so schwierig? Ich meine – die MARQUIS DE LAPLACE hat diese Strecke ja auch zurückgelegt und unsere Explorer wurden erfolgreich auf Warpantrieb umgerüstet ...«

Reynolds starrte vor sich hin, als habe er ihre Frage nicht gehört. Auch Frankel ließ den Antrag an sich abtropfen. Ich suchte Jennifers Blicke, aber sie hasste die Komarowa erklärtermaßen, seit sie ihr zum ersten Mal begegnet war, und hielt der Stille, die sich auf der Messe ausbreitete, gelassen stand. Es war klar, dass sie sich nicht zu einer Auskunft verstehen würde, auch wenn sie nach den beiden Physikern diejenige war, die die Materie am ehesten durchschaute, und obwohl zu vermuten stand, dass Wiszewsky seine Geliebte nur vorgeschickt hatte, um einen Bericht einzuholen, den von Amts wegen einzufordern er zu träge war.

»Die MARQUIS DE LAPLACE«, begann ich zögernd, »und auch die ENTHYMESIS-Explorer verfügen über Reaktorleistungen, die die der Lambda-Sonden um ein Vielfaches übersteigen. Daher können sie Warpkorridore von wesentlich größerer Stabilität öffnen. Paradoxerweise gestaltet sich der Warpantrieb umso einfacher, je größer und massereicher ein Objekt ist, und umso schwieriger, je kleiner es ist.«

»Die delta-epsilon-Faktoren der Feldgeneratoren sind unterhalb der kritischen Energiemassendichte zu fluktuant«, warf Reynolds ein. »Die Einsteinkonstante erfordert ein minimales Nanogewicht, ohne die die Krümmungskongruenz nicht die nötige Affinität erhält.«

»Na schön«, brummte ich. »So kann man es auch sagen.«

Wider willen steckte Reynolds Gereiztheit mich an. Dann sollte er eben die Klappe halten oder es uns erklären! An Bord der ENTHYMESIS hätte ich ihn zusammengeschissen und eine anständige Meldung gefordert. Ich begriff nicht, dass Wiszewsky sich das bieten ließ.

»Ein Schiff braucht einen gewissen Tiefgang«, kam Frankel jetzt zu Hilfe. »Wenn es zu leicht ist, wird es von den Wellen umgeworfen.«

Es war klar, dass das nur ein sehr verallgemeinerndes Bild war, aber man konnte sich doch etwas darunter vorstellen. Reynolds freilich suhlte sich in seiner Unverständlichkeit. Er spielte das Genie, das in seinem stummen Leiden bedauert werden wollte.

Jennifer las mir meine Gedanken an der Stirne ab. Sie vertrug es nicht, wenn ich Reynolds zurechtwies. Die Gereiztheit in der Messe nahm immer mehr zu. Die Atmosphäre schien elektrisch geladen. Noch ein falsches Wort, und wir würden uns anschreien oder aufeinander losgehen. Es waren erst wenige Monate, seit wir uns in diese äußerste Einsamkeit geflüchtet hatten, und schon standen wir im Begriff, einen Gruppenkoller zu entwickeln, wie er für ein isoliertes Lagerleben charakteristisch war.

»Warum bauen wir dann nicht einfach größere Sonden?«, fragte die Komarowa schnippisch.

Sie räkelte sich an Wiszewskys Seite und weidete sich im Bewusstsein ihrer Unangreifbarkeit an der geladenen Stimmung, die sich zwischen uns ausbreitete.

»Die Ressourcen an Bord dieses Schiffes sind begrenzt«, grunzte Rogers, der sich zum ersten Mal in die Debatte einschaltete. »Wir haben in den letzten Monaten bereits fünf Lambda-Sonden verloren. Wenn wir so weitermachen, wird das Kleine Drohnendeck verwaist sein, und es gibt keine Möglichkeit, auch nur ein Kilo Eisenerz oder Silizium aufzunehmen.«

Der Commodore schob seine Gespielin von sich. Sie purzelte von der Seitenlehne seines schweren gravimetrischen Sessels, sprang auf die Füße und lehnte sich schmollend über das breite Rückenpolster.

»Nun malen Sie mal den Teufel nicht an die Wand«, herrschte er den Obersten Planetologen an. »Dieses Schiff ist für Jahrzehnte autark. Nur weil wir ein paar Sonden verschossen haben, müssen wir nicht den Notstand ausrufen.«

Erstaunlicherweise fühlte sich Reynolds, der durch die Bemerkung in Schutz genommen werden sollte, zu einer Rechtfertigung herausgefordert.

»Mir ist bewusst«, sagte er, »dass diese Experimente kostspielig sind und dass sie bislang noch nicht zu den Ergebnissen geführt haben, die wir uns alle wünschen würden. Aber die genaue Analyse des heutigen Ereignisses wird uns mit Sicherheit wieder ein gutes Stück voran bringen.«

»Wie lange?«, fragte Rogers nur.

Reynolds zuckte mit den Achseln.

»Wir sind uns«, meinte Dr. Frankel, »doch wohl einig, dass der Faktor Zeit in unserer Situation keine Rolle spielt. Deshalb sollten wir die Berechnung lieber in der erforderlichen Präzision durchführen und den nächsten Versuch um einige Wochen ...«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen.

»Ich teile Ihre Prämisse nicht«, knurrte sein Vorgesetzter kategorisch. »Wir wissen nicht, was in den letzten Monaten auf der Erde geschehen ist und wie die nächsten Schritte der Sineser aussehen. Jeder Tag, den wir verstreichen lassen, kann das Schicksal bereits besiegeln.«

Man hörte das feine Klirren einer Teetasse.

»Mit Verlaub«, mischte Laertes sich ein. »Mit der Entscheidung, uns in diese abgelegene Region zu begeben, haben wir darin eingewilligt, die Menschheit sich selbst zu überlassen. Wir sollten diesen Schritt auch innerlich vollziehen und uns nicht einreden, dass wir noch für das dortige Geschehen verantwortlich wären.« Er goss sich Tee nach und ließ zwei Stückchen Diamantzucker in die Porzellantasse fallen. »Wenn wir so tun, als hätten wir einer neuerlichen sinesischen Aggression etwas entgegenzusetzen, können wir andererseits nicht erklären, warum wir uns überhaupt davongemacht haben.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Dr. Rogers kalt.

In seinen eisgrauen Augen funkelte der Zorn des Generals a.D., der Widerspruch seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gewohnt war.

»Darauf«, sagte Laertes konziliant, »dass wir uns mit unserem Exil hier abfinden sollten. All’ das Getue um die Sonden entspringt doch nur der Langeweile und der Neugier. Wir haben schon so lange keine Nachrichten mehr von daheim gesehen! Aber was würden wir denn machen, wenn wir einen Hilferuf auffingen, dass die Sineser mit Annihilationswaffen angreifen?«

 

»Das können wir entscheiden, wenn es soweit ist«, schaltete Wiszewsky sich aufgebracht ein.

Der Vorwurf der Passivität traf ihn besonders schmerzlich, seit er mit dem größten Schiff, über das die Menschheit verfügte, im Neptun-Orbit festgesessen war und sich nicht an den Evakuierungsmaßnahmen für die bedrohte Menschheit hatte beteiligen können. »Wir sollten das Sondenprogramm zügig vorantreiben, um mit der Erdbevölkerung in Kontakt treten zu können.«

Reynolds und Frankel nickten zufrieden. Das bedeutete, dass ihnen weiterhin sämtliche personellen und materiellen Ressourcen der MARQUIS DE LAPLACE zu uneingeschränkter Verfügung standen. Laertes zwinkerte mir listig zu.

Einige Tage nach dieser Besprechung begab ich mich auf das Kleine Drohnendeck. In den glücklichen Zeiten, da wir noch regelmäßig mit der ENTHYMESIS zu Explorationen aufgebrochen waren, hatten wir uns selten hierher verirrt. Die Explorer waren in den Hangars des Großen Drohnendecks geparkt, das sich zwei riesige MARQUIS DE LAPLACE-Segmente weiter zum Bug hin befand. In letzter Zeit hatten sich die Aktivitäten jedoch zum Kleinen Drohnendeck verlagert, denn hier wurden die Shuttles, Drohnen und Robotsonden aufbewahrt, gewartet, programmiert und instandgesetzt. Das Kleine Drohnendeck hatte seinen Namen auch nicht deshalb, weil es äußerlich hinter den Abmessungen des Großen Drohnendecks zurückgestanden hätte. Beide Hallen waren mit jeweils über anderthalb Kilometern Länge, dreihundert Metern Breite und einer lichten Höhe von einhundertzwanzig Metern in etwa gleich geräumig. Nur dass sich im Großen Drohnendeck die bulligen ENTHYMESIS-Explorer befanden, während es hier das fliegerische Kroppzeug war, kleinräumiges Fluggerät, von dem keines über einhundert Bruttotonnen aufwies. Und da im Großen Drohnendeck die Explorer die gesamte Breite des Decks einnahmen, ihre klobigen Stelzfüße, seitlich versetzt, den Durchblick entlang der Längsachse verstellten und der Fußgänger nur bis zu den Rampen und Schleusen ihrer schartigen Bauchseiten aufsehen konnte, wirkte das Kleine Drohnendeck sogar weiträumiger, denn hier gab es nichts, was größer gewesen wäre als ein Mannschaftsbus, sodass die ganze kilometerlange Halle auf einen Blick überblickt werden konnte.

Deshalb entdeckte ich auch sofort, wonach ich suchte, und machte mich mit zielstrebigen Schritten auf den Weg dorthin. Ich musste das Deck in der Diagonale durchqueren, war also auch in zügigem Marschtempo zehn Minuten unterwegs. Die Absätze meiner Stiefel knallten auf den nackten Titanstahlplanken und hallten in dem weiten Raum wider. Den Scooter, den mir ein junger Officer vom Wachpersonal anbot, lehnte ich dankend ab. Es gehörte zum ungeschriebenen Codex der Fliegenden Crew, die immensen Strecken an Bord des Mutterschiffes zu Fuß zurückzulegen, wenn nicht gerade eine Alarmsituation bestand. Vor mehreren Jahrzehnten hatte ein Mannschaftsarzt herausgefunden, dass diese strammen Märsche der allgemeinen Fitness mehr zugute kamen als jedes andere Training, der Kommandant hatte darauf alle Laufbänder, Gleiter und sonstigen Beförderungssysteme demontieren lassen, und nun wagte es niemand, die Abschaffung des Fußgänger-Credos vorzuschlagen und sich damit als Schwächling zu erkennen zu geben. An einem geschäftigen Tag bekam man einiges an Kilometern zusammen, man verbrachte mehrere Stunden damit, in forciertem Tempo von einem Deck zum anderen zu stiefeln, und war doch nur entlang der Taille unseres Mutterschiffes unterwegs, in den Segmenten III bis VII.

Die MARQUIS DE LAPLACE, die über alles zwölf Kilometer maß, von der Schnauze bis zur Heckflosse zu durchqueren, hätte einen strammen Tagesmarsch bedeutet, da sich nicht alle Decks wie hier in der Ideallinie durchschreiten ließen. Man blieb also in Bewegung, und das förderte nicht allein die körperliche Fitness, sondern kam auch der mentalen zugute, es beugte Depressionen vor und verhinderte die charakteristischen Symptome des Stumpfsinns und der Aggression, die sich sonst bei einer Population gezeigt hätten, die über lange Zeiträume in einem begrenzten Habitat, bei künstlichem Licht und synthetischer Atmosphäre und monatelanger Beschäftigungslosigkeit eingesperrt war.

Ich sah also schon von weitem die kleine Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Wachleuten und Technikern, die sich in einem abgesperrten Quadranten der heckwärtigen Backbordseite um eine ausgeweidete Lambda-Sonde scharte. Der fünfzehn Meter hohe, silberglänzende Zylinder stand aufrecht im Kraftfeld eines schlanken Serviceturms. Um das konische, schwarze Ionentriebwerk versammelten sich etwa zwanzig Personen und einige Wartungsroboter, die mit ausgefahrenen Sensoren auf die Anweisungen der Mechaniker warteten, auf die sich konditioniert waren. Etwas abseits, aus einem geringen Abstand zu dem eleganten Stahlkörper aufsehend, erblickte ich Dr. Frankel im Laborkittel und WO Reynolds, der ein flaches HoloBoard in der Hand hielt.

Bei ihnen befand sich auch Jennifer, die, das Haar zu einem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden, mit elastischen Schritten zwischen den beiden federführenden Wissenschaftlern und der Gruppe der Techniker hin und herging. Sie war die einzige Frau in dieser konspirativ wirkenden Männerrunde, und vielleicht wirkte sie deshalb ein bisschen wie ein Bub, der sich auf der Straße unter einen Trupp Bauarbeiter mischte und sich ihre zyklopischen Maschinen besah. Allerdings verstand sie von dem Fluggerät, das hier zu modifizieren und zu voller Warpfähigkeit aufzurüsten war, mehr, als die Masse der herumstehenden Männer, Frankel nicht ausgenommen, der im Augenblick eher ratlos zwischen Reynolds’ Board und der aufgeklappten Apparatur und ihrem verwirrenden Innenleben hin und hersah.

Ich schritt mitten in die Gruppe hinein. Die Mechaniker traten respektvoll auseinander, während die Angehörigen der fliegenden Crew einen förmlichen Gruß andeuteten. Seit unserem Hasardflug zum Jupiter, den wir mit Antimaterie-Granaten beschossen hatten, umgab uns ein heiligmäßiger Nimbus.

»Guten Morgen, Commander«, begrüßte mich Sergeant Taylor, der in der Gruppe der Techniker und Ingenieure stand und wild gestikulierend mit einigen anderen Männern über das weitere Vorgehen diskutierte.

Ich erwiderte seinen Gruß und erkundigte mich nach seinem Wohlergehen.

»Ausgezeichnet«, lachte er und hob die linke Hand, mit deren Fingern er auf einer unsichtbaren Klaviatur ein paar rasche Läufe und Triller spielte.

Ich hörte die Servos, die in seinem Unterarm arbeiteten, aber ansonsten war der Eindruck vollkommen. Nach unserer Rückkehr auf die MARQUIS DE LAPLACE hatte er sich mehreren schmerzhaften Operationen und einer mehrmonatigen Rehabilitation unterziehen müssen. Man hatte von der Schulter abwärts sämtliche Muskeln, beinahe alle Sehnen und einen Teil des Skeletts ersetzen müssen. Mittlerweile bewegte er die sensorielle Prothese aber mit einer Gewandtheit, mit der nur wenige Menschen sich ihrer gewachsenen Gliedmaßen bedienen können.

Sowie er die Rekonvaleszenz hinter sich gebracht hatte, suchte er sich nach Kräften nützlich zu machen. Er war ausgebildeter Generatormechaniker, der für den Fuhrpark der Basis zuständig gewesen war. Jetzt trat sein Talent zutage, und er stieg rasch zu einem der führenden Mitglieder in der technischen Crew des neuen Sondenprogramms auf. Wenn Rogers ihm im Kleinen Drohnendeck oder auf einem der langen Gänge begegnete, pflegte er ihm die Pranke auf die Schulter zu hauen, dass die Servos und Nano-Generatoren darin keuchend quietschten.

»Mensch Taylor«, brummte er dann. »Ich kann immer noch nicht begreifen, dass einer wie Sie beim Bodenpersonal versauern konnte. Wenn es das einzige Resultat des Weltuntergangsbeschusses gewesen sein sollte, dass Sie zu uns gestoßen sind, dann war es das schon wert!«