Museumsschiff

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»Hat der Herr Commander niemanden zum Reden«, fragte sie, als sie neben mir Platz nahm.

Wir stießen an und schlürften an unseren Gläsern.

Ich ließ einige Minuten vergehen, bis sich ihre Aufmüpfigkeit gelegt hatte. Dann erzählte ich ihr von den Entscheidungen, die ich morgen zu treffen haben würde.

»Ich verstehe«, sagte sie nach einer Weile. »Du weißt nicht, ob, wenn du jemanden zum Hierbleiben verdammst, das nicht einem Todesurteil gleichkommt.“

»Ganz so krass würde ich es nicht ausdrücken«, gab ich zurück. »Aber es sind schwerwiegende Entscheidungen, die das Leben jedes Einzelnen auf Jahre verändern werden. Und schlimmstenfalls, ja, kann das auch den Todesfall einschließen.«

Sie legte die Hand auf die meine und sah mich an. »Und du überlegst, was du mit den besten Leuten deiner Crew machst?«

»Selbstverständlich«, gab ich zurück.

Sie trank einen Schluck und drehte das Glas zwischen den Händen. Mir fiel wieder auf, wie schön ihre Hände waren. Ich überlegte, wann ich mit Jennifer zum letzten Mal ein so ruhiges Gespräch geführt hatte.

»Geht es«, fragte die Kleine, »um jemanden Bestimmtes?«

Es berührte mich, wie anteilnehmend ihre Stimme klang. Mir kam schmerzhaft zu Bewusstsein, wie jung sie war.

»Das Problem ist folgendes«, sagte ich. »Es ist uns nicht damit gedient, die besten Leute auf die vermeintlich sichersten Posten zu setzen. Dort können sie sich nicht entfalten und ihre Fähigkeiten nicht einbringen.«

»Jeder muss am richtigen Platz stehen«, nickte sie.

»Aber wenn nun«, führte ich weiter aus, »dieser Platz für einen bestimmten Mann in vorderster Front wäre, weil er eben der beste Kämpfer ist, und dieser Mann fällt – dann trifft den, der ihn auf diese Position geschickt hat, der Vorwurf, er habe ihn mit Vorsatz in den Tod geschickt.«

»David und Uria«, warf sie vorlaut ein. »Ich wüsste nur zu gerne, wer die Bathseba in dieser Geschichte ist.«

»Es war ja nur ein Beispiel ...«, entgegnete ich und wurde rot, als sie in lautes Gelächter ausbrach.

»Ist schon recht, Commander, Sir«, gackerte sie.

Wie wohltuend ihr Lachen war! Es bewirkte, dass der Druck von mir abfiel. Schließlich stimmte ich ein, und wir prusteten um die Wette. Dann beruhigten wir uns. Unsere Gläser waren leer. Die Musikanlage hatte zum dritten Mal das Ende der programmierten Auswahl erreicht und wartete mit blinkendem Rotlicht darauf, wieder in Gang gesetzt zu werden.

»Es ist spät«, sagte sie auf einmal ganz nüchtern.

Als wir nach unseren Gläsern griffen, berührten sich unsere Hände. Sie fasste mich und zog mich über das niedrige Tischchen zu sich. Ihre Lippen waren dicht vor mir. Dann spürte ich ihren Atem am rechten Ohr.

»Geh schon mal vor«, flüsterte sie. »Ich komme in einer Minute nach.«

Dann erhob sie sich, wand sich mit schlangenhafter Beweglichkeit aus meiner Umarmung und stolzierte zur Bar, wo sie die Gläser versorgte und die Apparaturen für die Nacht herunterfuhr.

Ich stand auf und ging hinaus. Mit meiner ID entriegelte ich den Fahrstuhl und ließ mich zwei Decks nach unten tragen. Ohne Licht zu machen, nur im grünlichen Dämmer der Nachtbeleuchtung, schlich ich zu der letzten Tür auf der linken Seite. Dort zischte ich das Codewort in die automatische Verriegelung und drückte mich in die winzige Kabine, in der Xanýa für die Dauer ihres Ordonnanzdienstes hauste. Es war ein kleiner Raum, der nur ein schmales gravimetrisches Bett und einen in die Zwischenwand eingelassenen Schrank barg. Selbst auf der Akademie hatten wir luxuriöser gehaust. Es gab nicht einmal private Nasszellen, sondern man musste zum Duschen und Zähneputzen auf eine Sanitäranlage auf dem Gang, die sechs junge Offiziersanwärterinnen sich zu teilen hatten.

Ich streckte mich auf dem Bett aus. Dann hörte ich den generatorgetriebenen Fahrstuhl, der mit charakteristischem Summen davonschwebte und nach einigen Augenblicken zurückkehrte. Die leisen, aber harten Schritte weißer Uniformschuhe kamen näher. Schließlich sprang die Tür auf. Ohne Licht zu machen, nur im schwachen bläulichen Schein zweier Kontrollleuchten, zog sie sich aus. Mir fiel wieder auf, wie feminin ihre Figur war. Die enggeschnittene Uniform verbarg ihre weiblichen Formen, aber als sie sich über mich beugte, pendelten ihre schweren Brüste in der Dünung unserer lautlosen Leidenschaft.

»Was soll das?!«, rief sie und kam mit knallenden Schritten auf mich zugestiefelt.

Ich saß an meiner Konsole auf der Wissenschaftlichen Abteilung. Der Schirm präsentierte mir einen Ausschnitt des Sternenfeldes. Etwa ein Dutzend Planeten waren auf der Karte markiert. Wenn ich einen von ihnen antippte, erschienen sämtliche verfügbaren Daten, die in die HoloGraphik eingeblendet wurden. Masse, Spektrum, Umlaufzeiten, Temperatur, atmosphärische Zusammensetzung. Ein grünes Leuchtband malte die optimale Flugroute in den dreidimensionalen Raum.

»Bist du jetzt vollends durchgedreht«, tönte Jennifer, während sie durch die Abteilung auf mich zugestürmt kam.

Frankel, der sich einige Meter entfernt mit einer Gruppe seiner Adjutanten unterhielt, sah irritiert auf. Auf den Gesichtern einiger junger Wissenschaftler malte sich ein schadenfrohes Grinsen.

»Bist du wahnsinnig«, schnaubte sie. Sie war jetzt herangekommen und baute sich vor mir auf. Ihre Augen schleuderten Funken. Ihr Pferdeschwanz sträubte sich, als sei er elektrisch geladen. Sie stieß die Fäuste in die Hüften und starrte mich herausfordernd an.

»Was meinst du, Liebling?«, fragte ich arglos.

»Tu nicht so scheinheilig«, knirschte sie. »Und stehl’ dich nicht aus der Verantwortung.«

Ich wischte durch das Hologramm, das in bläulichem Rieseln erlosch. Dann drehte ich den gravimetrischen Stuhl herum, sodass ich ihr frontal gegenübersaß.

»Wovon sprichst du?«, sagte ich ruhig.

Sie warf einen gehetzten Blick in die Runde. Die Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Abteilung wandten sich erschreckt ab und taten so, als würden sie an ihre Arbeit zurückkehren. Es war jedoch klar, dass sie mit großen Ohren jedem Wort unserer Auseinandersetzung folgen würden.

»Reynolds«, stieß sie hervor. »Warum ausgerechnet Reynolds?!«

»Er ist der Leiter des Sondenprogramms«, führte ich gelassen aus. »Hier findet er optimale Arbeitsbedingungen. Zweitausend Mann werden ihm zuarbeiten. Schürfroboter, Verhüttungsstationen, ein Ingenieursteam.«

Sie atmete keuchend aus. Es klang, als entwiche der Dampf aus einer überhitzten Turbine, die kurz vor dem Zerbersten stand. »Die Kolonie ist ohne militärische Verteidigung«, lamentierte sie. »Und ohne Fluchtmöglichkeit. Das Drohnendeck ist manövrierunfähig. Wenn sie von den Sinesern entdeckt werden ...«

»Haben sie ihnen nichts entgegenzusetzen«, fiel ich ihr ins Wort. »Das gilt für uns alle, Liebes!«

»Du willst ihn abschieben«, brach es aus ihr hervor. »Du willst ihn loswerden. Das ist ein Himmelfahrtskommando.« Sie brachte sich immer mehr in Fahrt. Mir kurzen, stampfenden Schritten marschierte sie vor meiner Konsole hin und her und gestikulierte dabei mit den geballten Fäusten. »Warum«, giftete sie, »schickst du ihn nicht gleich als Unterhändler nach Sina City. Dann könntest du sichergehen, dass er nicht lebend wiederkehrt!«

Ich sah sie an, wie sie vor mir herumtobte. In wenigen Minuten würde sich das Gerücht, wir hätten öffentlich eine Ehekrise ausgetragen, bis in den letzten Winkel der MARQUIS DE LAPLACE ausgebreitet haben.

»Du phantasierst«, sagte ich knapp.

»Ohne die Ressourcen der MARQUIS DE LAPLACE kann er wenig ausrichten«, sagte Jennifer. Ihr cholerischer Ausbruch sackte in sich zusammen.

»Die Ressourcen der MARQUIS DE LAPLACE sind erschöpft«, antwortete ich. »Mir scheint, du hast den Ernst unserer Situation noch nicht begriffen.«

In ihren Augen flackerte es bedrohlich. »Auf den Ernst der Lage reden sich immer die heraus, die in Sicherheit sitzen und andere ins Feuer schicken!« Sie wandte sich ab und trommelte mit den geballten Fäusten gegeneinander.

»Jeder muss seinen Job machen«, sagte ich salomonisch.

Sie hielt auf ihrer Wanderung inne und funkelte mich an. »Dann bleibe ich auch hier«, knurrte sie leise.

»Das wirst du nicht tun«, gab ich zurück. »Du hast den neuen Einsatzbefehl bekommen!«

Sie kam jetzt ganz langsam auf mich zu. Für einen Augenblick glaubte ich, sie werde mich körperlich attackieren.

»Jaja«, höhnte sie. »Und dieser Befehl ist vom Himmel gefallen!«

Ich betrachtete meine Hände, die gefaltet auf meinem Bauch ruhten. »Es wurde von den dafür zuständigen Instanzen erlassen«, führte ich aus.

»Die zufällig in persona vor mir sitzt«, grollte sie.

Sie kam noch näher an mich heran. Ich spürte ihren Atem, der vor Erregung sauer war. Mit einemmal sah ich sie ganz nackt und unverstellt. Der wächserne Glanz ihrer Haut. Die Ringe unter ihren Augen, die von durchgearbeiteten Nächten und Schlafmangel sprachen. Der sonderbar blasse Teint an ihrem Hals und ihren Händen. Es war, als wäre ein Schleier von ihr abgefallen.

»Ich weiß, dass ein Explorer hier zurückbleibt«, sagte sie. »Und ich werde eine persönliche Eingabe an Wiszewsky richten und mich um das Kommando dafür bewerben.«

Ich griff nach ihren Händen, aber sie entzog sie mir. Dabei ging sie insgesamt wieder etwas mehr auf Distanz. Das war mir recht, denn ihre körperliche Nähe hatte mich auf einmal unangenehm berührt.

»Die Endurance wird hier bleiben«, erklärte ich. »Mit ihrer angestammten Crew. Die Marschbefehle sind bereits erlassen.«

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Dann sah sie mich streng und durchdringend an.

 

»Wie ich sehe«, sagte sie mit einem Unterton sarkastischer Anerkennung, »hast du alles ganz genau durchdacht. Und die ENTHYMESIS?«

Ich lächelte. Natürlich kannte sie die Anweisungen längst, aber wenn es ihr ein gutes Gefühl gab, war ich auch bereit, sie laut und in aller Öffentlichkeit zu wiederholen.

»Taylor hat vor einigen Tagen sein Leutnantspatent erhalten«, sprach ich in ein unsichtbares Mikrofon, das meine Äußerung zu Protokoll nahm. »Er wird als unser neuer WO die Stelle von Reynolds einnehmen.«

Jennifer starrte mich noch einige Sekunden wortlos an. Dann warf sie sich auf dem Absatz herum und stiefelte davon. Als die gravimetrische Tür sich summend hinter ihr geschlossen hatte, blieb eine eisige Stille zurück. Ich seufzte demonstrativ auf und sah dann herausfordernd in die Runde. Zwei Dutzend offenstehende Münder und ebensoviele Augenpaare glotzten mir entgegen.

»Meine Damen, meine Herren«, sagte ich. »An die Arbeit!«

Ich kniff die Augen wie unter einem grellen Licht zusammen und versuchte mir das Aussehen eines Generals zu geben, der aus einer verlustreichen, aber letztlich gewonnenen Schlacht zurückkehrte. Als ich die Konsole wieder anschaltete und mich ostentativ den umeinander kreisenden Grafiken zuwandte, dauerte es jedoch geraume Zeit, bis ich wieder wahrnahm, was ich sah.

Später am Tag meldete sich auch Reynolds bei mir. Er kam in die Abteilung getrabt, nahm Haltung an, salutierte und spulte sein Sprüchlein herunter:

»WO Reynolds meldet sich in einer dienstlichen Angelegenheit!«

Dann stand er stramm, zur Salzsäule erstarrt, und wartete darauf, dass ich ihn aufforderte bequem zu stehen. So hatten wir es auf der Akademie gelernt, aber in den zwei Jahrzehnten, die seither vergangen waren und die wir gemeinsam bei der Fliegenden Crew verbracht hatten, hatten wir uns eigentlich etwas legerere Umgangsformen angewöhnt. Die ganze Art seines Auftritts war ein Affront. Ich bat ihn in eines der Besprechungszimmer, wo wir die Sache unter vier Augen durchfechten konnten. Eine zweite öffentliche Auseinandersetzung vor neugierigem Publikum ging heute über meine Kräfte.

Als die Tür sich hinter uns geschlossen hatte, trat ich breitbeinig ans Fenster und wandte ihm den Rücken zu. Vor uns schwebte der stählerne Kasten des Kleinen Drohnendecks. Es sah wie ein riesiger hellgrauer, in der kalten Sonne schimmernder Sarg aus. In der Tiefe zogen die lebensfeindlichen, aber rohstoffreichen Ebenen von Eschata I dahin. Solange ich hinausblickte, wagte er nicht zu sprechen. Nach einer Weile wandte ich mich um und sah ihn ermutigend an. Wir hatten viel zusammen erlebt, und ich schätzte ihn als brillanten Wissenschaftsoffizier, auch wenn wir uns menschlich nie sehr nahe gestanden hatten.

»Commander Norton, Sir«, begann er. «Ich habe den Marschbefehl erhalten, der meine Versetzung nach Eschata I vorsieht.«

Ich nickte und ließ ihn fortfahren.

»Für das in mich gelegte Vertrauen möchte ich Ihnen danken«, sagte er förmlich.

»Selbstverständlich«, murmelte ich. »Aber das ist doch selbstverständlich ...« Ich nahm hinter dem kleinen Schreibtisch Platz, der mir hier für den Papierkram zur Verfügung stand, und bedeutete ihm, sich ebenfalls zu setzen. »Wir alle setzen große Hoffnungen in Sie und Ihr Programm«, führte ich weiter aus.

Er schwieg und starrte auf seine ineinander verkrallten Hände. »Das erfüllt mich mit Stolz«, gab er angestrengt zurück. Jedes seiner Worte knirschte wie eine überlastete Maschinerie, der man das Äußerste abverlangte.

»Was führt Sie her?«, fragte ich.

Er gab sich einen Ruck und sah mich offen an. Auch in seinem Gesicht, das von jeher hager und ausgemergelt war, nistete eine fast übermenschliche Erschöpfung. Seine Augen waren schwarz umrandet und hatten sich wie furchtsame Nagetiere tief in ihre Höhlen zurückgezogen. Die bleichen Wangen waren eingefallen. Der schüttere Bart gab seinen Zügen etwas Verwahrlostes. Seit Monaten hatte er keinen freien Tag mehr gehabt und keine Nacht mehr als drei Stunden geschlafen. Ich überlegte, was dieser abgezehrte Johannes der Täufer haben mochte, dass eine Frau wie Jennifer sich lieber gemeinsam mit ihm in der äußersten Einöde aussetzen ließ, statt in der Sicherheit und dem Komfort der MARQUIS DE LAPLACE die Reise fortzusetzen.

»Ich schätze Sie«, begann er stockend, »als Kommandanten. Wir haben viel miteinander durchgemacht. Ich respektiere jede Ihrer Entscheidungen, und wenn ich sage, dass ich den neuen Einsatzbefehl als große Ehre auffasse, dann ist das keine Floskel ...« Er wand sich wie ein Rekrut, aber ich durfte ihn nicht zu tief sinken lassen.

»Worauf wollen sie hinaus?«, fragte ich, ohne meine Ungehaltenheit zu verbergen.

Er gab sich jetzt endlich einen Ruck, hob den Blick von seinen ineinander verstrickten Fingern und sah mich offen an. »Es laufen gewisse Gerüchte um ...«, stammelte er.

Ich winkte ab. »Dieses Schiff ist ein Dorf«, sagte ich. »Ich gebe nichts darauf, was die Leute tratschen. Sie etwa?«

Er kämpfte immer noch mit sich. Warum war er überhaupt hergekommen? »Ich möchte nur einiges klarstellen«, sagte er, »unter Offizieren und unter Männern.«

Ich ließ ihn weiterreden. Kurz nur flammte die Furcht vor einer beschämenden Eröffnung in mir auf. Aber dann hatte ich mich wieder im Griff. Er war nicht der Mann, der mir Hörner aufsetzte. Aber allein schon, dass er diesen Gedanken in mir aufkeimen ließ, war Grund genug, ihn für einige Zeit entfernen zu lassen. Je näher die Gefahr herankam, umso selbstgewisser wurde ich, denn ich würde ihr begegnen; ich war ihr schon begegnet.

»Man sagt, dass Major Ash hier war«, fuhr er fort. »Und dass sie sich für mich verwandt habe.«

Ich bemühte mich, eisiges Schweigen zu erzeugen, konnte aber nicht verbergen, dass die ganze Auseinandersetzung mich in Bedrängnis brachte.

»Ich möchte lediglich klarstellen«, sagte Reynolds, »dass dies nicht mit mir abgesprochen war und dass es auch nicht in meinem Interesse geschah. Ich sehe ein, dass Eschata I mir optimale Arbeitsmöglichkeiten bietet ...«

Ich brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen.

»Auf Klatschereien gebe ich nichts«, wiederholte ich. »Und was Major Ash und ich zu besprechen haben, geht, mit Verlaub, niemanden etwas an.«

Er sank kleinlaut in sich zusammen.

»Ich denke, wir brauchen das nicht weiter zu vertiefen«, sagte ich und erhob mich mit zackiger Gebärde.

Er schnellte ebenfalls in die Höhe und legte die Hand an die Schläfe.

»Lassen Sie das«, machte ich unwirsch.

Ich reichte ihm die Hand und schüttelte die seine, die er mir zögernd reichte, heftig.

»Sie haben zehn Tage Zeit«, setzte ich hinzu. »Gehen Sie die Personal- und die Materiallisten sorgfältig durch. Wenn Sie noch irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich wissen!«

Er knallte die Hacken zusammen, wirbelte herum und verschwand durch die Tür, deren Flügel ein wenig zu langsam auseinanderglitten, sodass er sich seitlich hindurchwinden musste. Ich blieb allein zurück. Müde ließ ich mich wieder auf den gravimetrischen Sessel fallen. Einige Minuten genoss ich die kalte Lust einer einsamen Entscheidung. Dann kehrte ich in meine Abteilung zurück, wo die Leute es jetzt geflissentlich vermieden, von ihrer Beschäftigung aufzusehen.

Der Chronist

Die Menschheit gibt es nicht. Es gibt nur Menschen. Der Gang der Völker durch die Untiefen und Einöden der Geschichte gleicht den Bewegungen überpersönlicher Individuen. Dabei gibt es nur die Je-Einzelnen. Konkrete Menschen. Und diese haben Schwächen. Planspiele für lange schlaflose Nächte sind es, in der Ziellosigkeit des Irrealis zu ergründen, was hätte sein können. Wäre die Weltgeschichte einen anderen Gang gegangen, wenn Alexander nicht jähzornig, Caesar kein von Genie beherrschter Epileptiker, Napoleon nicht zwergenhaft und Hitler nicht verblendet gewesen wäre? Die grundsätzliche Frage, erlauben wir uns noch einmal den älteren Ash zu zitieren, ist die, wie der scheinbar folgerichtige Gang des Weltgeschehens sich aus den Zufälligkeiten der tatsächlichen Begebenheiten rekrutiert. Wie Zwangsläufigkeit aus Kontingenz hervorgeht. Wie all die winzigen Schnipsel des Empirischen die durchgehende Woge des Sinnvollen ergeben. Ein Gebirge besteht aus lauter Steinen. Und dennoch sehen wir Berggestalten vor uns, individuelle Persönlichkeiten von großer Ausdruckskraft – mal wild, mal trotzig, mal schroff und mal erhaben –, und keine ungestalten Schotterhaufen. So baut sich auch Geschichte aus lauter tagtäglichem und allzumenschlichem Kieselkleinkram auf und gerinnt dabei zu einem Schauspiel, dass kein Dramatiker, kein Regisseur gewaltiger ersinnen könnte. Und es entzieht sich letztlich der Grübelei im Irrealis der Vergangenheit. Wenn Alexander zaudernder und Hannibal zupackender gewesen wäre? Wäre die Weltgeschichte anders verlaufen, wenn Alexander nach Gaugamela abgewartet hätte, statt nach Babylon zu marschieren? Und wenn Hannibal nach Cannae stracks auf Rom marschiert wäre, statt abzuwarten? Wenn Wellingtons Verstärkung bei Waterloo eine Viertelstunde später eingetroffen wäre? Wenn die deutschen Truppen Moskau eingenommen hätten, statt am Stadtrand liegenzubleiben? Geschichte setzt sich aus Myriaden Einzelheiten zusammen. Vielleicht ist es bedeutsam, dass Napoleon ein Magengeschwür hatte und dass Hitler bei einem Giftgasangriff beinahe erblindet wäre. Doch je weiter der Historiker den Fokus nimmt, umso mehr schmilzt derlei aus dem Bild wieder heraus. Am Ende bleiben die überzeitlichen Wesenheiten zurück. Und dann kämpft Griechenland gegen Persien, Rom gegen Karthago, Frankreich gegen England, Deutschland gegen Russland. Im kleinen wird das alles ausgetragen von menschlichen Personen, von Charakteren und ihren Fehlern, von Vorlieben und Ressentiments, von unerklärlichen Fixierungen wie Alexanders Weltherrschaftsgedanke und Hitlers Judenhass. Aber im Großen-Ganzen mendelt sich’s heraus. Wie in einer großen Schlacht die Ängste und der Mut, die Schwächen und das Heldentum des Einzelnen von der Gesamtstärke des Heeres aufgesogen werden, so in der Geschichte die Rolle und Bedeutung alles Individuellen, und seien es die Marotten eines Caesar. Ein Perikles konnte nicht verhindern, dass Griechenland sich selbst zerfleischte. Und Rom war Weltreich, ob es nun gerade von einem Nero oder einem Marc Aurel regiert wurde. Napoleons Brillanz vermochte nichts gegen die schiere Übermacht bei Leipzig, und dass die Angelsachsen zweimal als Sieger aus den globalen Kriegen hervorgingen, lag nicht daran, dass sie die besseren Soldaten oder die edleren Menschen waren, sondern daran, dass sie über die industriellen Ressourcen zweier Kolonialreiche geboten. Und gerade deshalb, schloss der alte Ash seine Untersuchung, in der er, Jahre vor dem ersten Schuss, die Geschichte der Auseinandersetzungen mit Sina vorausgesehen hatte, gerade deshalb ist Geschichte interessant. Sie lehrt uns Demut. Alexander konnte Dareios zweimal besiegen, aber nicht das Fieber. Und die deutsche Wehrmacht konnte einen Kontinent unterwerfen, aber nicht den russischen Winter. Und wenn nun der General a.D. Dr. Rogers seine verstümmelten und dezimierten Truppen gegen Sina führt, das er schon einmal, vor Persephone, entscheidend geschlagen zu haben glaubte?

*

Jennifer blieb hartnäckig. Sie versuchte es noch einmal auf dem Dienstweg. In einer offiziellen Eingabe an Commodore Wiszewsky, die ich zur Kenntnisnahme erhielt, legte sie dar, dass neben Leutnant Taylor und Jill Lambert auch sie selbst an maßgeblicher Stelle an Reynolds Sondenprogramm mitgewirkt hatte und daher auf Eschata I zurückgelassen werden musste. Ob dieser Vorstoß mit ihren beiden Gewährsleuten abgesprochen war, wagte ich nicht zu mutmaßen. Die Beharrlichkeit jedenfalls, mit der sie sich an Reynolds Seite wünschte, hätte mich stutzig machen können. In einem vertraulichen Vieraugengespräch, das, wie man so sagt, in guter Stimmung erfolgte und von wechselseitigem Respekt getragen war, legte ich dem Commodore dar, dass es absurd sei, drei Mitglieder der Fliegenden Crew, die sich bisher aus reinem Beschäftigungsmangel nützlich zu machen versucht hatten, ganz aus der Crew auszugliedern, ihrer Verantwortung bei der ENTHYMESIS-Flotte zu entheben und sie hier auszusetzen, wo ihre Zukunft, wohlwollend gesprochen, ungewiss war. Ich brachte überzeugend zum Ausdruck, dass es mir schwer genug fiel, meinen WO zu entbehren, wozu ich mich nur bereitgefunden hatte, weil ihm in Leutnant Taylor mittlerweile ein fähiger Nachfolger herangewachsen war. Wiszewsky leuchtete das ein. Ohnehin interessierte ihn das ganze Gezänk nicht sonderlich. Er war verstimmt, weil ich dezidiert um eine Unterhaltung von Mann zu Mann gebeten hatte, und er hatte es eilig, in die Obhut der Komarowa zurückzugelangen, die ihm um diese Zeit die morschen Knochen zu massieren pflegte. Er gab meinem Einspruch gegen Jennifers Einspruch statt und wedelte mich dann wie einen lästigen Fliegenschwarm mit der gichtgezeichneten Linken aus dem Besprechungszimmer.

 

Ich ging zum nächsten offenen Terminal und setzte den Marschbefehl ab, wie er aus Wiszewskys nicht weiter hinterfragbarer Entscheidung resultierte. Da Laertes unauffindbar war und da ich den Bogen nicht überspannen wollte, verzichtete ich darauf, den Abend in der Sky Lounge zu verbringen, und fand mich stattdessen in unserer privaten Kabine ein. Seit das Kleine Drohnendeck abgekoppelt war und Reynolds Arbeitsgruppe ihr Equipment für die Expedition nach Eschata I verpackt hatte, war Jennifer genötigt, wieder in unserer kleinen Suite zu nächtigen. Sie sah nicht auf, als ich das Zimmer betrat, und würdigte mich keines Wortes. Ich ging in die Nasszelle, um mich für die Nacht fertigzumachen. Dann stand ich, nur noch mit der Uniformhose bekleidet, am Fenster, dessen Polarisation ich hatte aufheben lassen, und schaute zu den graublauen Einöden des Erzplaneten hinunter.

»Hast du den Marschbefehl erhalten«, fragte ich.

Sie tat eine Weile so, als habe sie mich nicht gehört, und räumte in ihrer Ausrüstung herum.

»Ja«, sagte sie schließlich.

»Ich wollte nur klare Verhältnisse haben«, gab ich zurück.

Sie stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus. Dann warf sie sich herum und verschwand für eine Stunde in der Nasszelle. Ich legte mich aufs Bett und studierte auf einem kleinen MasterBoard die Daten für den morgigen Einsatz, bei dem wir Reynolds offiziell verabschieden würden.

Als sie aus der Dusche kam, war sie in ein großes Tuch aus weißem flauschigen Elastil gewickelt. Sie überwand die drei Schritte von der Nasszelle bis zum Bett wie ein Stoßtruppführer, der ungedeckt einen Streifen Feindesland überwinden muss. Dann stand sie da und glühte mich herausfordernd an. Ich sah, dass sie sich ein paar neue Schachzüge zurechtgelegt hatte.

»Man tratscht über dich«, stieß sie hervor.

»Du bist tatsächlich wie das alte Waschweib Reynolds«, versuchte ich so herablassend wie möglich zu kontern. »Glaubst du, es schiert mich, was die Leute reden.«

»Es fällt auch auf mich zurück«, antwortete sie rasch. »Noch sind wir verheiratet. Und wir galten einmal als das ideale Paar, zu dem die ganze Fliegende Crew aufsah.«

Ich musste lachen. »Gerüchte gibt es, seit dieses Schiff den Jungfernflug angetreten hat. Die Mannschaften sind nervös, da werden ihre Tratschereien notwendig ein wenig gehässiger.« Ich musterte sie intensiv, die das Haar in den Nacken warf und meinen Blicken selbstgewiss standhielt. In ihrem stolzen Zorn war sie von strahlender Schönheit.

Sie holte zum Gegenschlag aus, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. Mit erhobener Hand wehrte ich ihre Attacke ab.

»Was dich dagegen angeht«, sagte ich langsam, »so weiß ich nicht, was für einen Eindruck dein übertriebenes – Engagement für Reynolds auf die Besatzung macht.«

Sie hatte den Kopf gesenkt und atmete tief, in den schweren gleichmäßigen Zügen, die sie ihrem Prana-Bindu-Training verdankte. Sowie sie sich wieder im Griff hatte, hob sie ganz langsam und drohend den Kopf. Ihr Blick hatte stoffliche Qualität. Er ging wie kalter Stahl durch mich hindurch.

»Im Gegensatz zu dir«, grollte sie, »habe ich nicht mit Reynolds geschlafen.«

Mein Kichern geriet etwas zu gekünstelt, dennoch war es spontan und absolut authentisch.

»Wüsste nicht, dass ich mit meinem WO Unzucht getrieben hätte«, witzelte ich.

»Du weißt genau, was ich meine!«, brüllte sie.

Mit einemmal war sie flammendrot. Ihr Gesicht brannte lichterloh. Selbst ihre Oberarme verfärbten sich. Ihre Hände zitterten in einer Art von Starrkrampf.

»Du wolltest, dass ich mir eine Beschäftigung suche«, sagte ich kraftlos.

Sie lachte hysterisch auf. »Ist ein Verhältnis mit einem zwanzigjährigen Flittchen eine Beschäftigung?«, schleuderte sie mir entgegen. »Oder, ich vergaß, wenn man seine treuesten Untergebenen abserviert?!«

Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Und obwohl diese theatralische Geste hätte einstudiert wirken können, machte sie auf mich einen echten Eindruck. Ich starrte vor mich hin und versuchte krampfhaft, mir eine neue Verteidigung einfallen zu lassen. Aber ich war auf einmal vollkommen leer.

»Dein Schweigen spricht für sich«, stellte sie fest. »Ich könnte dich jetzt fragen: wer ist es, wie lange geht das schon? Aber ich will es überhaupt nicht wissen.« Sie stand am Fußende des Bettes und sah auf mich herab. Und dann geschah etwas sehr Seltsames. Sie streifte das Badetuch ab, in das sie eingeschlungen gewesen war, und warf es fort. Splitternackt zog sie meine erstaunten Blicke auf sich.

»Was glotzt du so«, fuhr sie mich an, als ich mit Wehmut ihre vollendeten Formen betrachtete und mir keine geistreiche Entgegnung einfiel. »Offensichtlich bedeutet dir dieser Anblick nichts mehr. Sie ist wohl besser gebaut? Vermutlich könnte sie deine Tochter sein?!«

Ich setzte mich ruckartig auf und wandte mich von ihr ab. »Jennifer«, rief ich. »Bitte ...«

Mit verächtlichem Lachen warf sie sich herum. Sie hob das Tuch auf und brachte es in die Nasszelle zurück. Als sie zurückkam, trug sie einen Pyjama und hatte das Haar für die Nacht gebündelt. Sie schlüpfte auf ihre Seite des Bettes und schlief augenblicklich ein. Ich saß auf der Bettkante und sah durch das Fenster in den Raum hinaus. Genau gegenüber trieb die schimmernde Box des Kleinen Drohnendecks. Eines der Hangartore hatte sich gerade geöffnet. Eine automatische Sonde schoss heraus, drehte bei, warf sich der gewölbten Planetenfläche entgegen und trat wenig später mit glühendem Schweif in die Atmosphäre ein.

Die ENTHYMESIS löste die Gravitationskupplung, schwebte auf und schob sich bei Kleiner Fahrt langsam auf die geöffneten Hangartore zu.

Ich stand auf der Brücke und fragte den Status ab, wie ich es hunderte von Malen gemacht hatte. Jennifer saß am Hauptbedienplatz und antwortete rasch und präzise, wie sie es ebenfalls über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg verlässlich getan hatte.

»Geschwindigkeit?«

»Zwei Meter pro Sekunde.«

»Beschleunigung?«

»Dreißigtausend KaWe.«

»Trimmung?«

»Zehn Punkt sechs Komma dreiundzwanzig.«

»Systemcheck?«

»Einwandfrei ...«

Dennoch war heute alles anders. Die Atmosphäre auf der Brücke schien aus flüssigem Sauerstoff zu bestehen. Jennifer funktionierte reibungslos wie ein Roboter. Ihre Ansagen waren in ihrer tonlosen Exaktheit nicht von denen der Schiffsautomatik zu unterscheiden. Lambert assistierte ihr auf der Position der Zweiten Pilotin. Auch sie ließ sich keine Emotionen anmerken. Reynolds saß auf einem der Plätze, die für Passagiere vorbehalten waren. Seine hagere Miene war eine Maske stoischer Schicksalsergebenheit. Den rückwärtigen Sessel des WO hatte Leutnant Taylor eingenommen, der als einziger vergnügt vor sich hinsah. Er war auch der einzige gewesen, der mich am Morgen fröhlich begrüßt hatte. Offensichtlich bekam er gar nicht mit, dass etwas nicht stimmte.

»Park Off Completed«, meldete Jennifer mit kalter Automatik.

»Voller Schub«, kommandierte ich mit fester Stimme. »Atmosphäreneintritt einleiten. Keine weiteren Meldungen mehr.«

Ich suchte den Platz zwischen meinem alten und dem neuen WO auf, setzte mich und aktivierte die GraviGurte. Jennifer hatte listig gewartet, bis ich vor dem gravimetrischen Sessel stand, und dann volle Leistung auf das Haupttriebwerk gegeben. Ich wurde unsanft an meinen Platz gedrückt. Die Feldgeneratoren heulten entgeistert auf. Die Gravitationsgurte rasteten selbsttätig ein und pressten mich noch tiefer in die sensoriellen Polster.

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