Museumsschiff

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Tatsächlich war die erste Aktivität, die großen Saugrüssel auszufahren, deren Ende kilometerweite Trichter aufspreizten, und mit ihnen das hochionisierte Plasma aus dem Dunstkreis der riesigen Staubfelder zu melken. Obwohl die protostellare Wolke wie ein Staubteufel aussah, der sich braun und struppig in der afrikanischen Steppe dreht, war sie unendlich viel weniger dicht. Von den Gerinnungspunkten, wo die Materie sich zu Sternen zusammenzog, abgesehen, war die Wolke sehr viel dünner als die äußere Atmosphäre eines erdähnlichen Planeten. In ihrem Inneren herrschten kaum andere Bedingungen als im interstellaren Vakuum. Dennoch überstieg die Massenkonzentration diejenige der furchtbaren intergalaktischen Leere, der wir entronnen waren, um Faktoren, die hoch genug waren, dass wir sie anzapfen konnten. Selbst in den Randgebieten des Nebels, in denen wir gestrandet waren, erfüllte noch genügend freier Wasserstoff die Dunkelheit, dass wir, bei Kleiner Fahrt und aufgesperrten Schnäbeln, Tonne für Tonne aus dem Nichts filtern konnten. Unsere größte Sorge, das Zuendegehen des Treibstoffs, waren wir los. Zwar würde es Wochen dauern, bis die Plasmatanks der MARQUIS DE LAPLACE wieder bis zum Rande gefüllt sein würden, aber wir hatten dem Raubbau an unseren Ressourcen Einhalt geboten. Was die schwereren Elemente betraf, die wir nur in sehr begrenztem Umfang in unseren Reaktoren ausbrüten konnten, würde sich das weitere finden.

Vorderhand gab es dabei wenig zu tun. Schon unmittelbar nach Ende der Warpphase hatte ich Rogers angesprochen und ihn nach unseren Aufgaben befragt.

»Warten Sie’s ab«, hatte er gesagt, wobei er kaum stehengeblieben war, sondern im Tross seiner Adjutanten vorbeilief.

»Ich würde mich gerne nützlich machen«, rief ich ihm nach.

»Ihre Stunde wird kommen«, gab er zurück und war bereits verschwunden.

Die ENTHYMESIS-Flotte, für die ich als ranghöchster Kommandant zuständig war, hatte das Warpmanöver unbeschadet überstanden. Das festzustellen, kostete mich keine Stunde. Ich sprach mit den zuständigen Technikern einige Reparaturen durch, die routinemäßig anstanden, und erhöhte dann die Priorität meiner Anfrage um Plasmatreibstoff. Zwar lag kein Marschbefehl vor und es war nicht zu sehen, wann und ob die Explorer überhaupt wieder eingesetzt werden würden, aber im Kleingedruckten meiner Dienstvorschrift fand ich den Satz, der verantwortliche Kommandant habe sich darum zu kümmern, dass die Einsatzbereitschaft der ENTHYMESIS-Flotte jederzeit gewährleistet sei. Bei Tanks, die nur noch zu 20 Prozent befüllt waren, war die Reichweite der Explorer beschränkt. Unter Einsatzbereitschaft stellte ich mir etwas anderes vor.

Am Abend versuchte ich mit Jennifer darüber zu sprechen.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Es gibt soviele Möglichkeiten, wie du dich nützlich machen könntest!«

Ich winkte ab.

»Das ist nicht mehr der Frank Norton, den ich einmal geheiratet habe, weil er der neugierigste und entschlossenste Wissenschaftsoffizier der Union war.«

»Du verstehst es wirklich nicht«, gab ich zurück. »Ich will mich nicht irgendwie nützlich machen ...«

Sie wollte meine Hand nehmen, aber ich zog sie zurück.

»Ich begreife nicht, was dich quält«, sagte sie leise.

»Ich will nicht irgendeine Beschäftigung«, meinte ich. »Ich brauche eine Aufgabe.«

Sie holte tief Luft und rieb sich die Augen mit den geballten Fäusten. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie tagsüber, wenn sie mir Reynolds an der Sondenprogrammierung tüftelte, auch so wenig Geduld hatte.

»Du weißt ganz genau, was der Sinn dieser Mission ist«, sagte sie müde. »Und es gibt an Bord dieses Schiffes unendlich viel zu tun, wo du mit anpacken könntest.« Sie lächelte schmerzlich und gequält. Immerhin ließ sie die Bereitschaft erkennen, mich verstehen zu wollen. »Was ist los mit dir, Frank«, sagte sie zärtlich, aber abgespannt. »Bist du für eine Midlife Crisis nicht schon zu alt?«

Das war ein gutes Manöver, um meinen Weltschmerz ins Lächerliche zu ziehen, denn nach irdischer Zeit war ich über einhundert Jahre alt.

»Morgen rede ich mit Reynolds«, setzte sie noch hinzu. »Vielleicht kann er dich irgendwo unterbringen.«

»Ich bin doch kein Praktikant«, sagte ich nur, »den man irgendwo unterbringen muss.«

Sie nickte, tätschelte wohlwollend meine Schulter und begab sich kurz darauf in die Nasszelle, um sich für die Nacht fertig zu machen. Dann lagen wir nebeneinander. Jennifer schlief augenblicklich ein. Ihre Atemzüge waren so tief und gleichmäßig wie in der Prana-Bindu-Trance. Ich vermutete, dass sie sich bewusst in diesen Tiefschlaf versetzt hatte, um sich für den nächsten anstrengenden Tag zu regenerieren. Mein eigener Tagesablauf war leider nicht so erschöpfend gewesen. Ich lag wach, lauschte der Stille des Schiffes, das jetzt mit abgeschalteten Reaktoren auf seiner Bahn lag, und versuchte mir die Verlorenheit, in der wir hier draußen hausten, zu vergegenwärtigen. Als ich nach mehreren Stunden immer noch keinen Schlaf gefunden hatte, stand ich wieder auf, zog mich im Dunkeln an und trat auf den Gang hinaus. Dort brannte nur die grüne Nachtbeleuchtung, die eine sonderbar submarine Stimmung verbreitete, während ich zum nächsten Fahrstuhl tappte.

In den nächsten Tagen fand ich tatsächlich eine Beschäftigung. Als einer der dienstältesten Offiziere der Fliegenden Crew übernahm ich die Leitung des neugebildeten Stabes, der die Welten dieser Region zu kartieren und auf ihre Tauglichkeit hin zu untersuchen hatte. Die neue Tätigkeit brachte es mit sich, dass ich mit Dr. Frankel zusammenarbeiten musste. In seinem weißen Laborkittel rannte er durch die Institute und Gänge der Planetarischen Abteilung, wo er mehr Wind verbreitete als zur Arbeit beizutragen. Die Aufteilung unserer Kompetenzen war ein wenig heikel. Denn als Stellvertretender Leiter der Planetarischen war er offiziell mein Vorgesetzter, auch wenn er als Zivilist mir gegenüber nicht weisungsbefugt war. Da er wusste, dass ich den besseren Draht zu Rogers hatte, war klar, dass er mir nicht offen ins Handwerk pfuschen würde. Gefährlich würde es allerdings, wenn irgendetwas schief ginge. Dann würde das Gerangel um Zuständigkeit sich plötzlich umkehren, und er würde alle Verantwortung weit von sich weisen. Ich musste also vorsichtig sein. Die eigentlichen Vorwürfe, die aus meiner Tätigkeit erwuchsen, handelte ich mir allerdings von gänzlich anderer Seite ein.

Aus dem Randbezirk des protostellaren Nebels heraus kartierten wir zahllose neuer Sterne, deren Spektren wir analysierten. Es handelte sich um junge Sonnen, von denen die wenigsten stabile Planetensysteme ausgebildet hatten. Dennoch hatten wir bald ein Dutzend und mehr Welten in die engere Wahl aufgenommen. Da wir nicht auf der Suche nach Leben waren, sondern lediglich unsere Ressourcen an primären Rohstoffen auffrischen wollten, konnte uns das nur recht sein.

Wir hatten noch nie in einer solchen Himmelsgegend gearbeitet, wo, nach kosmischen Maßstäben, andauernd neue Sterne aufflammten, die meistens noch von staubförmigen Akkretionsscheiben umgeben waren, und wo feste Planeten eine rare Ausnahme darstellten. Die automatischen Scanner der Vorfeldaufklärung der MARQUIS DE LAPLACE nahmen uns den mechanischen Teil der Arbeit ab. Sie filterten 99 Prozent der Weltkörper, die das Deepfield Tag für Tag erfasste und in die Quantenspeicher schrieb, wieder heraus, da sie für unsere Zwecke nicht in Betracht kamen. Die übrigen, immer noch zweistellige Zahlen an stellaren Systemen, deren standardisierte Daten allmorgendlich auf meinen Schirm kamen, mussten manuell gesiebt werden. Da kam es auf zahllose Faktoren an. Spektrum und Alter des Zentralsterns, Abstand und Umlaufperiode des Planeten sowie dessen Masse und Magnetfeld. Auch der Abstand zum Nachbarstern musste beachtet werden, sowie die Bewegung der gesamten Sterngruppe und die Kontaminierung des Gebietes durch Strahlung, ionisierte Nebelreste und vagabundierende, noch nicht durch stabile Gravitationsinseln gebundene Asteroidenschwärme. Die Planeten als solche sollten ein möglichst breites Repertoire an schweren Elementen aufweisen. Sekundäre Faktoren wie Vorhandenheit und Beschaffenheit der Atmosphäre kamen hinzu. Zwar hatten wir nicht vor, diese Regionen dauerhaft zu besiedeln, und ein ernsthaftes Terraforming der zu kolonisierenden Welten lag deshalb nicht in unserer Absicht. Aber ein Planet, dessen Masse und Rotationszeit in etwa der irdischen entsprach, der durch ein Magnetfeld vor Strahlung und durch eine Atmosphäre vor Meteoritenregen sicher war, der mittlere Temperaturen aufwies und neben den auszubeutenden Erzvorkommen über Wasser und Sauerstoff verfügte, käme unseren Teams entgegen. Schließlich sollten diese nicht einen Großteil ihrer Zeit und Energie auf die eigene Lebenserhaltung verwenden, sondern eine möglichst hohe Produktivität erreichen.

Dies waren die Vorgaben der Arbeit, die mich in den nächsten Wochen beschäftigte. Auf eine offizielle Dienstvorschrift kamen mehrere ungeschriebene. Eine Hundertschaft an Exogeologen und Planetenmechanikern aus Rogers Stab arbeitete mir zu, während Frankel sich in einer Mischung aus Desinteresse und Skepsis verhielt. Ich lernte, ihn als externe Kontrollinstanz zu benutzen, als ausgelagertes Gewissen, das mir schon rechtzeitig sagen würde, wenn ich mir Flüchtigkeiten hatte zuschulden kommen lassen. So genügte es nicht, mehrere Planeten ausfindig zu machen - was an sich schon kompliziert genug war -, die in allen genannten Faktoren geeignet waren; sie mussten auch allesamt innerhalb eines geeigneten Quadranten liegen, der sich durch eine möglichst ökonomische Flugroute darstellen ließ. Schließlich waren auch das nur die mechanischen Faktoren, deren Komplexität von den menschlichen in den Schatten gestellt wurde. Denn es waren Vorlieben und Abneigungen zu berücksichtigen. Bei den designierten Kommandanten der Basen waren Rangordnungen, Lebensläufe, Spezialgebiete und private Ressentiments einzukalkulieren. Die Intensität der zu erwartenden Zusammenarbeit von Nachbarkolonien war zu den entsprechenden Fähigkeiten der auf ihnen zu stationierenden Personen in Bezug zu setzen. Militärische und verwaltungstechnische Gegebenheiten mussten respektiert werden. Einheiten, die sinnvollerweise auf mehrere Kolonien verteilt worden wären, durften aus organisatorischen Gründen nicht auseinandergerissen werden. Ranggleiche Ehepartner durften nicht weiter als eintausend Flugstunden voneinander entfernt eingesetzt werden, während Sanitätsstaffeln nicht unter eine gewisse Mindestgröße gesplittet werden durften. Und dergleichen mehr. Zwar stand es nicht unmittelbar in meiner Zuständigkeit, derlei Albernheiten zu regeln, aber der Pool an Welten, den ich schließlich zur Verfügung stellte, musste darauf abgestimmt sein, Regelungen zuzulassen, die wiederum mit den Verwaltungsvorschriften kongruierten. Selbst in Krieg und Verbannung musste berücksichtigt werden, dass Luftwaffeneinheiten andere Schichtpläne und wissenschaftliche Teams andere Urlaubsregelungen hatten als die Fliegende Crew.

 

Jennifer sah ich während dieser ganzen Phase kaum noch. Die Dimensionen der MARQUIS DE LAPLACE brachten es mit sich, dass es auch außerhalb des eigentlichen Wohntraktes genügend Unterkünfte gab. Jede Abteilung verfügte über Gästezimmer, und da die Arbeit den ganzen Schichttag einnahm und Freizeit momentan nicht vorgesehen war, war ich damit zufrieden, mir eine kleine spartanische Kabine anweisen zu lassen, wo ich die Nächte verbringen und allabendlich auf einem privaten Kanal mit Jennifer sprechen konnte. Wir berichteten einander von den Ergebnissen des jeweiligen Tages und wünschten uns dann eine Gute Nacht. Obwohl die Entfremdung zwischen uns anfangs in meiner Untätigkeit begründet gewesen zu sein schien, nahm sie nicht ab, als ich ein neues Tätigkeitsgebiet gefunden hatte, sondern sogar noch zu. Wir gingen beide ganz in unserer Arbeit auf. Die abendlichen Gespräche auf unseren lokalen Kommunikatoren glichen eher Briefings als Unterhaltungen von Eheleuten. Mir fiel auf, dass sie Reynolds Namen in ihren Erzählungen mied und ihm sogar auswich, wenn ich sie direkt nach den Fortschritten meines WO befragte. Das machte mich argwöhnisch, weil ich nicht wusste, ob darin ein bewusstes Verhalten lag. Ich stellte irgendwann fest, dass es mir gleichgültig war.

Laertes war unsichtbar. Obwohl er keine offizielle Aufgabe übertragen bekommen hatte, lag darin nichts Ungewöhnliches. Er durchstreifte oft wochen- und monatelang die entlegensten Gegenden des riesigen Schiffes, oder er schloss sich in seiner winzigen Kabine ein und verfasste Essays über den Substanzbegriff bei Lukrez oder über die ontologische Differenz. Eines Tages würde er wieder auftauchen. Er würde, den brustlangen weißen Bart streichend, auf die Messen geschlurft kommen oder sich auf einem privaten Kanal melden und einen mit just dem Gedanken überfallen, der ihn in genau diesem Augenblick beschäftigt hatte. Bei unseren Zusammenkünften in der Sky Lounge ließ er sich verleugnen, und ich ging von nun an allein dorthin, um zum Abschluss eines anstrengenden Tages einen Drink unter der Kuppel zu nehmen, die atemberaubende Blicke auf die zimtfarbenen Staubwolken der Sternenkrippe gestattete.

Steingraue und staubblaue Ebenen. Von Gebirgen durchzogen, die sich ringförmig zu großen Ketten zusammenschlossen. Zwischen ihnen lagen ausgedehnte Mare. Die Atmosphäre war zwar nicht zu atmen, entsprach nach Dichte und Zusammensetzung jedoch in etwa der irdischen. Die mittleren Temperaturen lagen nur knapp unter dem Gefrierpunkt. Außenarbeiten würden in leichten Schutzanzügen möglich sein, in denen die Teams sich ohne Einschränkungen bewegen konnten. Große Mengen Wassers und gefrorenen Kohlendioxids waren im Permafrostboden, vor allem im Bereich der Polkappen, gebunden. Aus den Stickoxiden der Atmosphäre ließ sich Sauerstoff gewinnen. Die Gebirgszüge enthielten große Vorkommen an Zink, Kupfer, Bauxit und anderen Erzen, sowie Uran und Wolfram, das für den Aufbau einer Serienproduktion von Warpspulen unerlässlich war. Der Planet zog friedlich unter uns dahin. Die an Methan und Edelgasen reichen Atmosphäre bildete fast keine Wolken, sodass die Felsregionen und die geröllbedeckten Ebenen klar einzusehen waren, wie eine Steppen- und Gebirgslandschaft Zentralasiens. Die Polkappen schimmerten bläulich. Die Nachtseite war von undurchdringlichem Schwarz. Aber gegenwärtig schwebten wir in einem hohen Orbit über der beleuchteten Hemisphäre, die vom kalten, stahlweißen Licht der Zentralsonne in die Aura eines scharfen Wintermorgens getaucht wurde. Die Scherzkekse von der Planetarischen hatten diese Welt auf den bedenklich stimmenden Namen Eschata I getauft, nach Alexanders letzter Gründung im fernen Skythien.

Wir befanden uns an Bord der ENTHYMESIS. Da selbst in dieser Phase der Menschheitsentwicklung, in der wir uns anschickten, entlegene Galaxien zu besiedeln, immer noch galt, dass drei oder vier Paar menschlicher Augen mehr sahen als hunderte von Drohnen, hatte Wiszewsky die ENTHYMESIS-Flotte ausgesandt, um die komplizierten Manöver zu überwachen. Gegenwärtig schwebten wir über der Segmentkupplung, die von den Nachschub- und Versorgungstrakten in Segment V zum Kleinen Drohnendeck in Segment VI führte. In den letzten Wochen hatten komplexe Umgruppierungen am Titanstahlleib der MARQUIS DE LAPLACE stattgefunden. Dutzende Decks in jedem Segment waren umgebaut worden. Tausende von Tonnen an Material wurden bei den Umrüstungen bewegt. Ein Drittel der Besatzung unseres Mutterschiffes, war innerhalb seiner endlosen Sektoren umgesiedelt worden. Das Ergebnis lag nun vor uns im Raum, einige tausend Kilometer über den anthrazitfarbenen Geröllebenen des Planeten Eschata I; wir sahen auf ein Schiff, das mehrere autonome Habitate in sich barg. Drei völlig autarke Einheiten waren geschaffen worden, die aus jeweils über eintausend Personen bestanden und die zu Erprobungszwecken schon seit etlichen Tagen von den Kreisläufen des restlichen Schiffes abgeschnitten worden waren.

Die Automatik der ENTHYMESIS war online mit der Hauptsteuerung des Mutterschiffes. Wir verließen unsere Plätze und begaben uns an die große Panoramascheibe, die die ganze Backbordseite der Brücke einnahm. Vor uns öffnete sich die Schlucht, die zwischen den Segmenten V und VI ausgespart geblieben war. Ein Abgrund, mehrere hundert Decks tief und dreißig Meter weit. Parallele, spiegelglatte Stahlfluchten, die das fahle Licht der fremden Sonne hin und herwarfen. Die Verbindungsgänge, die alle zehn Decks von einem Segment zum anderen führten, wurden eingezogen. Manche verschwanden zur Linken in Segment V, während die anderen nach rechts eingefahren und in Segment VI verankert wurden. Auch zahllose Schläuche, Kabelbäume, Treibstoff- und Energieleitungen und offene Laserverbindungen wurden gekappt. Mit unhörbarem Klicken und Knacken, das in den luftleeren Weiten des Kosmos verschollen ging, wurden überall Schleusen geschlossen, Kupplungen getrennt, Stutzen ausgestoßen und Schotte ausgeklinkt. Für eine Weile hingen Dutzende Stränge wie gekappte Arterien in den Raum hinaus, ehe sie von einer der beiden Seiten eingeholt wurden.

Wir bestätigten die Informationen der Instrumente, dass alles einwandfrei abgelaufen war. Der Vorgang der Segmenttrennung war zuvor ein einziges Mal in der Praxis erprobt worden. Das war vor mehr als zwanzig Jahren im erdnahen Orbit gewesen, und man hatte die unmittelbar angrenzenden Segmente bis auf den letzten Mann geräumt. Noch nie hatte man ein komplettes Segment aus dem Leib des Mutterschiffes herausgelöst. Geschweige, dass man es dann sich selbst überlassen und in einer vollkommen unbekannten Region des Universums ausgesetzt hätte. Die technische Autonomie einer so großen Einheit ließ sich improvisieren. Das Heikle dabei war, dass das separate Segment manövrierunfähig war. Die Binnensegmente verfügten lediglich über Steuerelemente, die geringfügige Manöver und Positionskorrekturen erlaubten. Das ausgekoppelte Kleine Drohnendeck würde von sich aus also zu keinen weiterreichenden Bewegungen mehr fähig sein. Es dümpelte auf seinem Orbit wie ein Stück Treibgut.

Das Kleine Drohnendeck, das in den letzten Wochen zu einer Art kosmischem Flugzeugträger mit einer Kapazität von 2000 Mann umgebaut worden war, hing jetzt nur noch über die beiden Hauptsegmentkupplungen an seinem vorderen und hinteren Ende mit dem Rest der MARQUIS DE LAPLACE zusammen. Einige Minuten lang wurden Daten abgeglichen und neue Messergebnisse überprüft. Als alle Parameter stabil blieben, wurde das Manöver fortgesetzt. Zunächst wurden noch einige kleinere Schächte und Verbindungsstränge abgesprengt, die, wie geschwollene Arterien auf einem muskulösen Arm, der eigentlichen Kupplung auflagen. Dann öffnete sich die Hauptsegmentkupplung. Der zentrale Verbindungsschacht hatte einen Durchmesser von zwölf Metern und war damit geräumig genug, alle Arten von Shuttles und Drohnen von einem Segment zum anderen und so in Längsrichtung durch den ganzen Leib des Mutterschiffes zu bugsieren. Die Kupplungen mussten außerdem stabil genug sein, die Kräfte, die beim Start oder in Beschleunigungsphasen auftraten, von einem Segment des riesigen Stahlleibs auf das nächste zu übertragen. Vom Reaktorblock abgesehen, fanden sich hier die schwersten Elemente des ganzen Schiffscorpus’. Sie wurden jetzt in Bewegung versetzt. Das dunkle Knirschen, mit dem die schweren Stahlringe sich gegeneinander drehten, musste sich im gesamten Bau der MARQUIS DE LAPLACE fortpflanzen. Nur hier draußen war nichts davon zu hören. Als die riesigen Kupplungen sich geöffnet hatten, wurden die Verbindungstunnel zurückgezogen.

Als auch von der anderen Seite das OK kam, atmeten wir auf. Ein wesentlicher Teil des Manövers war damit abgeschlossen. Jennifer begab sich an die Pilotenkonsole, um die ENTHYMESIS um einige hundert Meter zurückzunehmen. Bei Kleiner Fahrt sahen wir die Masse der MARQUIS DE LAPLACE zurückfallen. Schon aus geringer Entfernung war nicht mehr auszumachen, dass eines ihrer zwölf Segmente nicht mehr mit dem Rest ihres Körpers verbunden war. Unbewegt schwebte Segment VI immer noch an Ort und Stelle. Das anschließende Manöver war noch um einiges heikler. Dann zündeten die Steuerdüsen an Segment VI. Während sowohl der vordere Teil des Schiffes als auch die abgetrennten hinteren Segmente bewegungslos blieben, wurde das Kleine Drohnendeck in einer seitlichen Rollbewegung aus dem Verbund getrennt. Es wälzte sich auf die Seite und öffnete so die Lücke zwischen den Segmenten V und VII. Als das Segment VI sich in seitlicher Bewegung um mehrere Kilometer von der Achse der MARQUIS DE LAPLACE entfernt und sich dabei einmal um sich selbst gedreht hatte, wurde es durch eine neuerliche kurze Zündung der Steuerdüsen gestoppt und trieb dann friedlich, ein vierkantiger Klotz, vor der sandfarbenen Tagseite von Eschata I.

Die Hauptsteuerung der MARQUIS DE LAPLACE zündete, über einen Abgrund von anderthalb Kilometern hinweg, in dem der materielle Zusammenhalt des Schiffes ausgesetzt war, das Haupttriebwerk. Bei kleinstmöglicher Leistung wurde die ungeheure Masse des Reaktorblocks, der die Segmente X bis XII einnahm, sowie der im Vergleich dazu vernachlässigbaren Segmente VII bis IX herangeführt. Meter für Meter schob sich das abgetrennte Heck an den Torso der ersten fünf Segmente heran, der steuerlos auf seiner Umlaufbahn lag. Meter für Meter wurde die Einheit, deren Ende mit bloßen Augen kaum auszumachen war, an den Kupplungsstutzen des Segmentes V zubewegt. Der Vorgang dauerte über eine Stunde. Dann dockte Segment VII an die Hauptkupplung von V an. Das Schiff hatte die Integrität seiner Gestalt wiederhergestellt.

Der Chronist

Die Geschichte der Diaspora ist eine Geschichte der Verlassenheit. Wer ahnt die Schicksale derer, die ausgesetzt und zurückgelassen wurden. Wer verfasst die Chronik all’ der Kolonien, Brückenköpfe, Satrapien und Garnisonen, die aufgegeben oder von den einsamen Winden der Geschichte geschleift wurden. Die Veteranen, Verwundeten und Kampfesmüden, die Alexander in seinen zahlreichen Gründungen zurückließ, in den anderthalb Dutzend Statthalterschaften in Kleinasien, Ägypten, in Baktrien und der Sogdiane, in Persien und am Indus, wer erzählt von ihrer Verlorenheit hundert Tagesmärsche von der Heimat, eingepfercht in rasch hochgezogenen befestigten Plätzen, die bloße Knotenpunkte im Netz der Heerstraßen und Provinzen waren. Was wissen wir von den Spaniern, die die ersten Conquistadoren an den Gestaden einer Neuen Welt aussetzten, kleine Haufen illusionsloser Männer, deren Palisadensiedlungen zwischen dem Meer, das sie nie wieder überqueren würden, und dunkel stöhnenden Kontinenten eingeklemmt waren, oder von den Siedlern in Neuengland, fern einer Heimat, die sie niemals wiedersehen würden, von blutiger Urbevölkerung umzingelt, von einer erbarmungslosen Natur dezimiert, einzig auf sich und ihren unnachgiebigen Gott zurückgeworfen. Wie könnten wir noch nachempfinden, was in den britischen Truppen vorging, die auf den strategisch auserlesenen Stützpunkten rund um den Globus saßen, lebende Relaisstationen im Nervengeflecht des Weltreichs, kleine kasernierte Welten auf dem affenkreischenden Felsen von Gibraltar, dem steinernen Flugzeugträger Malta, dem Nadelöhr von Suez oder dem fernen malariasatten Eiland Singapore. Und was ahnen wir endlich von den nächtlichen Gedanken deutscher Landser, die in der Namib oder an den Füßen des Kilimandscharo ausharrten und später am Nordkap, im russischen Winter, in der libyschen Wüste oder an den Hängen des Kaukasus. Schweiften ihre Träume zu der zerstörten Heimat oder zu ihren frühen Brüdern, den römischen Legionen, die am Limes oder im Partherland die Stellung hielten, am Hadrianswall oder in Arabia felix? Immer schweiften harte kalte Blicke über die Ebenen und Steppen, und immer wälzten sich schweißwache Schläfer und verzehrten sich nach einer Heimkunft, die es niemals geben würde. Geschichte ist eine Geschichte der Einsamkeit und der Verlorenheit. Ohne Zahl sind auch und namenlos, die in der äußersten Verlassenheit starben, in Kesselschlachten und in tropischen Fiebern, in Vorposten, wo die Langeweile brütender war als Hitze und Barbarenüberfälle, und in Alexandria Eschata.

 

*

Rostrote Staubtürme, wie gefrorene Fontänen, die von ungefähr die Formen langgestreckter Pferdeschädel angenommen hatte. Es waren die braunen Hälse und wehenden Mähnen galoppierender Pferde, die sich in dichtem Verband der Unendlichkeit entgegenwarfen, die struppigen Köpfe wiehernder Hengste, die über eine tosende Ebene jagten, empor, mit donnernden Hufen stürmten sie in die Vertikale hinauf, und der Wind der Ewigkeit striegelte ihr schäumendes Fell.

Wenn man den Blick ein wenig senkte, sah man den vierkantigen Kasten des Großen Drohnendecks, das im gemessenen Abstand von einigen Kilometern längsseits neben uns schwebte. Ein Quader von beeindruckender Kantenlänge, der dennoch vor den lichtjahrhohen Staubwolken des protostellaren Nebels sehr verloren wirkte. Shuttles und kleine Drohnen flitzten zwischen dem ausgekoppelten Segment und dem Mutterschiff hin und her. Noch herrschte lebhafter Verkehr zwischen den beiden Einheiten, auch wenn das Drohnendeck autark war und selbständig arbeitete.

Und indem die MARQUIS DE LAPLACE ihren Umlauf fortsetzte, rückte allmählich die steingraue Tagseite von Eschata I ins Bild, ein von Kratern und Maren übersäter Planet, dessen Atmosphäre so klar war, dass er von keiner Luftschicht umgeben schien. Die großen Ebenen und ringförmigen Gebirgszüge lagen in überwirklicher Deutlichkeit unter uns, man konnte sich einbilden, einzelne Felsen unterscheiden zu können. Mit seiner genarbten Oberfläche bildete diese erzreiche Welt einen starken Kontrast zu den glatten Flächen aus poliertem Titan, die die Außenfronten des Großen Drohnendecks bildeten. Und gegen die unstofflichen Nebelstrukturen waren die Geröllwüsten von einer geradezu obszönen Gegenständlichkeit.

»Noch ein Drink, Commander?«

Die Aufmerksamkeit der Ordonnanz weckte mich aus meiner Versunkenheit. Den ganzen Tag hatte ich am Deepfield verbracht und die unermessliche Ausdehnung dieses Sternenfeldes nach weiteren Sonnen und ihren Planeten durchforstet. Jetzt war ich abgespannt. Ich ging ganz im Schauen auf. Wie am Meer oder im Gebirge konnte ich auch angesichts dieser eindrucksvollen Strukturen stundenlang dasitzen und die Blicke selbstvergessen über die Gasausbrüche und Staubwirbel schweifen lassen.

»Gerne«, sagte ich und nickte der Kleinen in ihrer adretten weißen Luftwaffenuniform wohlwollend zu.

Sie verschwand hinter ihrer Bar und kam mit einem neuen Glas zurück.

»Ganz allein, Sir?«, fragte sie scheinheilig, als sie es vor mich hinstellte. »Treffen Sie sich gar nicht mehr mit Ihrem Kollegen?«

Ich nippte am Whisky und sah zum Drohnendeck hinüber. Wie imposant musste erst der Blick in umgekehrter Richtung sein. Man würde die, um ein Segment verkürzte und dadurch ein wenig untersetzt wirkende MARQUIS DE LAPLACE vor der Schwärze des intergalaktischen Kosmos schweben sehen. Es bedurfte scharfer Augen, um in einer unbestimmten Entfernung dahinter die restlichen Galaxien der Lokalen Gruppe auszumachen, die um Andromeda und die vergleichsweise kleine Milchstraße kreisten. Und in einigen Wochen würde man gar nichts mehr sehen, denn die MARQUIS DE LAPLACE hätte sich in den Nachbarquadranten begeben und die ausgesetzte Einheit sich selbst und einer ungewissen Zukunft überlassen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Er ist, sagen wir: beschäftigt«, meinte ich ausweichend. »Es gibt für die operativen Einheiten derzeit viel zu tun.« Ich nickte zu Segment VI hinüber, das auf Augenhöhe jenseits der künstlichen Palmeninseln schwebte. Dann fasste ich sie am Handgelenk und zog sie heran. »Und im übrigen«, setzte ich leise hinzu, »waren wir nicht schon beim Du?«

Sie grinste kokett und machte sich von mir los. »Waren wir das, Commander?«, zwitscherte sie schnippisch und entfernte sich wieder Richtung Bar.

Ich sah ihr schmunzelnd nach und vertiefte mich in den Alkohol, in die gedämpfte Musik und in die alles Begreifende zersprengende Aussicht. Noch vierzehn Tage, dachte ich, oder drei Wochen, dann würden wir zweitausend Mann und wertvollstes Gerät hier zurücklassen. Ihr Überleben in dieser Einöde würde ebenso ungewiss sein wie unsere Wiederkehr.

Ich sah mich in der Bar um. Seit einiger Zeit war ich der einzige Gast. Und die kleine Ordonnanz war die einzige Bedienung, die ihre beiden Kollegen vor mehr als einer Stunde fortgeschickt hatte. Es war lange nach Mitternacht. Die Bar hatte offiziell längst geschlossen. Der Fahrstuhl war abgeschaltet. Die Kasse war für heute durchgebucht. Die Musik wiederholte sich, seit ich hier saß, zum dritten Mal. In weniger als sechs Stunden musste ich meinen Dienst in der Planetarischen antreten. Noch waren die Listen der Angehörigen der Wissenschaftlichen Abteilungen wie auch der Fliegenden Crew, die auf Eschata I zurückgelassen werden würden, nicht durchgesehen und abgezeichnet. Morgen jedoch würde ich Rogers die endgültige Auswahl vorlegen müssen, damit Commodore Wiszewsky sie unterzeichnen konnte. Zweitausend Namen. Die meisten davon waren mir gleichgültig. Nur bei einigen Dutzend verband ich eine Person damit. Und nur bei zwei oder drei Positionen auf der langen Liste spürte ich das Gewicht der Verantwortung, das mit der endgültigen Unterfertigung verbunden war. Es war, als spiele man Gott. Ich hatte zu entscheiden, wer hier blieb und wer mit uns kam. Wenn abzusehen gewesen wäre, auf welcher Seite das größere Risiko lauerte, hätte man mich der Befangenheit zeihen können.

»Haben der Herr Commander noch einen Wunsch?«, fragte die Kleine

Sie sah nach der Uhr und kam dann auf mich zugeschlendert.

»Setz’ dich «, sagte ich. »Ich lad’ dich zu einem Drink ein.«

Sie zog ihr herablassendes Grinsen noch ein wenig mehr in die Breite. Dann zuckelte sie mit ausladendem Hüftschwung zur Bar und ließ sich eines dieser grellbunten Modegetränke ein.