Buch lesen: «Besonderes Verwaltungsrecht», Seite 12

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2. Einwohnerantrag und Bürgerversammlung

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Ein weiteres, den Volksinitiativen in den Landesverfassungen vergleichbares Element plebiszitärer Bürgerbeteiligung stellt der Einwohnerantrag dar (vgl § 18 KV M-V; § 31 NKomVG; § 25 GO NRW; § 17 rh.pf.GO; § 23 sächs.GO; § 16f schl.h.GO; § 16 thür.KO; § 20b I 1 bd.wtt.GO – in Bayern und Bremen nur als „Bürgerantrag“, vgl Art. 18b bay.GO; Art. 87 II bremVerf.). Hierbei handelt es sich um das Recht der Einwohner, durch die Vorlage einer Unterschriftenliste zu beantragen, dass die Gemeindevertretung über bestimmte Angelegenheiten berät, welche im Rahmen ihrer Entscheidungszuständigkeit liegen. Anders als bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (o. Rn 108) geht es also nicht um die Herbeiführung einer Sachentscheidung im Wege der unmittelbaren Demokratie, sondern lediglich um eine Initiativkompetenz, um bestimmte Agenden auf die Tagesordnung der Gemeindevertretung setzen zu können (Anregungsrecht). Einen Anspruch auf eine bestimmte Sachentscheidung bietet der Einwohnerantrag allerdings nicht, weshalb seine Bedeutung für die kommunale Praxis eher gering zu veranschlagen ist[43].

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Die Bürgerversammlung (Art. 18 bay.GO; § 8a hess.GO; zu Einwohnerversammlungen siehe etwa § 23 II GO NRW; § 20a bd.wtt.GO; § 16 I 2 KV M-V; § 16 rh.pf.GO, § 22 sächs.GO, § 16b schl.h.GO, § 15 I 2 thür.KO) dient der Unterrichtung über bedeutsame Gemeindeangelegenheiten und der plastischen Präsentation und bürgernahen Erörterung gemeindlicher Angelegenheiten.

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Zutreffend hat der BayVerfGH freilich die gesetzgeberische Verpflichtung betont, „die die Kommunalverfassung nach wie vor prägenden Elemente der repräsentativen Demokratie“ mit den vorgenannten Elementen unmittelbarer Demokratie in einer Weise zu verbinden, die sicherstellt, dass die Gemeinden handlungsfähig bleiben. Die Befugnisse der gewählten Vertretungsorgane dürfen nicht so beschnitten werden, dass dadurch das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt wird.

Als verfassungswidrig wurde so der gesetzgeberische Verzicht auf ein Beteiligungs- oder Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid im Zusammenhang mit einer mehrjährigen Bindungswirkung angesehen[44].

Wiederholungs- und Verständnisfragen


1. Wie unterscheiden sich Einwohner und Bürger? Rn 99, 106
2. Wie unterscheiden sich Bürgerbegehren und Bürgerentscheid? Rn 108, 111

Anmerkungen

[1]

Zum historischen Hintergrund dieser Zweiteilung vgl Mann, in: HKWP3, § 17 Rn 2 ff.

[2]

Insoweit kommt es nicht auf melderechtliche Besonderheiten, sondern allein auf die tatsächlichen Verhältnisse an, wie sie auch für die §§ 7–11 BGB relevant sind, vgl im Detail Mann, in: HKWP3, § 17 Rn 6 ff.

[3]

Dazu im Überblick H. Meyer, HKWP3, § 20.

[4]

Zur Frage eines Kommunalwahlrechts von „Drittstaatern“ s. Pfaff, ZAR 2011, 102.

[5]

Zum aktiven Wahlrecht mit 16 Jahren vgl § 48 I 1 Nr 1 NKomVG; § 7 KWG NRW; § 4 II Nr 1 LKWG M-V; §§ 14 I, 12 I GO BW; §§ 23 I, 21 II 1 KVG LSA; § 3 I Nr 1 GKWG SH; § 8 S. 1 Nr 2 Bbg.KWahlG; § 1 I Nr 1 ThürKWG. In neuester Zeit die Vereinbarkeit der Absenkung mit dem GG bzw. der Landesverfassung bejahend BVerwG, NJW 2018, 3328; zur darin bestätigten Vorinstanz vgl Waldhoff, JuS 2018, 501 und ThürVerfGH, NVwZ-RR 2019, 129.

[6]

Vgl § 48 I 1 Nr 2 NKomVG; § 12 I 1 GO BW; § 13 II Nr 3 rh.pf.GO; § 18 II KSVG Saarl.; § 15 I sächs.GO; abweichend etwa § 4 II 1 Nr 2 LKWG M-V: 37 Tage; § 3 I Nr 2 GKWG SH: 6 Wochen; Art. 1 I Nr 3 bay. GLKrWG: 2 Monate; § 7 KWahlG NRW: 16 Tage.

[7]

Vgl § 49 I 1 Nr 1 NKomVG; § 12 I KWG NRW; § 6 I 1 LKWG M-V; § 28 I GO BW; § 40 I 1 KVG LSA; § 6 I 1 Nr 1 GKWG SH; § 11 I 1 Bbg.KWahlG; § 12 ThürKWG.

[8]

Vgl § 50 I NKomVG, § 29 I GO BW; Art. 31 III bay.GO; § 37 HGO; § 25 KV M-V; § 32 sächs.GO; § 41 KVG LSA; § 31a GO SH; § 23 IV thür.KO.

[9]

Vgl BVerwG, JuS 2018, 311 m. Anm. Waldhoff zur Notwendigkeit der Gefahr einer Interessenkollision; VG Düsseldorf, NWVBl. 1999, 64 zu einem Beamten der Kommunalaufsicht; BayVGH, BayVBl. 2004, 270 zum Ärztlichen Direktor einer landkreiseigenen Krankenhausgesellschaft; VG Braunschweig, NdsVBl. 2018, 296 zur Unvereinbarkeit von Oberbürgermeisteramt und Kreistagsmandat krit. Mann/Bellroth, NdsVBl. 2018, 289 ff; vgl. auch Fn 97 zu § 2.

[10]

Eingefügt durch das 38. GG-ÄndG v. 21.12.1992 (BGBl. I S. 2086).

[11]

Zur seinerzeitigen verfassungsrechtlichen Diskussion vgl nur Erichsen, Jura 1988, 549; zur heutigen Diskussion um das Kommunalwahlrecht für Drittstaatsangehörige s. nur Sieveking, ZAR 2008, 121; Schwarz, AöR 2013, 411.

[12]

Vgl BVerfGE 83, 37 ff und 60 ff; in jüngerer Zeit im Rahmen einer präventiven Normenkontrolle (Art. 140 I 1 BremVerf iVm § 10 Nr 2 BremStGHG) ebenso BremStGH, NordÖR 2014, 262.

[13]

BVerfGE 83, 37 und 60. In diesem Sinne auch schon BVerfGE 47, 253 (272); BVerwG, DVBl. 1985, 169.

[14]

Siehe dazu Mann, in: BK, Art. 28 Rn 108; K.-A. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Komm., 7. Aufl., Bd. 2, 2018, Art. 28 Rn 125.

[15]

Die Subsidiaritätsklausel des § 90 II BVerfGG griffe hier nicht, da ein Rechtsweg nicht eröffnet ist. Zwar hat D gegen die Eintragung von Ausländern in das Wählerverzeichnis ggf die Möglichkeit eines Einspruches, nicht aber die einer Klage gegen die Entscheidung über den Einspruch. Nur im Falle der Wahl eines ausländischen Mandatsbewerbers wäre eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Gültigkeit der Wahl möglich (vgl §§ 49 II, 46 NKWG §§ 41, 40 Ia KWahlG NRW).

[16]

Vgl BVerfGE 4, 35 (39); Stern, StaatsR I, S. 303.

[17]

BVerfGE 99, 1 (7 ff); dazu H. Meyer, in: HKWP3, § 20 Rn 41, 122. Die in Art. 28 I 2 GG normierten Rechte wirken somit nur noch objektiv-rechtlich und können nicht mehr mit der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG verteidigt werden, siehe aus der Folgerspr. BVerfG-K, NVwZ-RR 2005, 494 (495); BVerfG, NVwZ 2009, 776; BVerfG, Beschluss vom 10.11.2010 – 2 BvR 1946/10, BeckRS 2010, 56337.

[18]

Dazu näher H. Meyer, in: HKWP3, § 20 Rn 126 ff; siehe auch unten Rn 133.

[19]

Hierzu gehören etwa genaue Auskünfte über Zuständigkeiten, Hilfestellung beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen, Einsichtgewährung in öffentlich-rechtliche Vorschriften und Hinweise auf anderweitige Informationsmöglichkeiten. Vgl auch § 25 VwVfG u. § 15 SGB I. sowie für Bay, BW und Hessen jeweils auch § 94 LVwVfG.

[20]

Als Formen der Unterrichtung kommen neben der Einberufung von Versammlungen namentlich öffentliche Anhörungen, Flugblattaktionen und Postwurfsendungen in Betracht.

[21]

Zur Genese Mann, in: HKWP3, § 17 Rn 2 ff.

[22]

Gleichwohl ist eine Übertragung ehrenamtlicher Tätigkeiten an Einwohner nicht ausgeschlossen, vgl zB § 38 II 3 NKomVG (Übertragung an Einwohner mit deren Einverständnis); § 18 II GO Rh.-Pf. (Übertragung vorübergehender Tätigkeiten).

[23]

Inzwischen besteht in einigen Ländern auch die Möglichkeit, den „sachkundigen Einwohner“ in die Rats- bzw Ausschussarbeit einzubeziehen (vgl § 33 III GO BW; § 36 V KV M-V; § 58 IV 1 GO NRW; § 44 I sächs.GO; § 43 IV Bbg.KVerf); hierzu Mann, NWVBl. 1990, 222 ff.

[24]

Burgi, KommR, § 11 Rn 11.

[25]

Siehe etwa Art. 2 Verf. NRW: „Das Volk bekundet seinen Willen durch Wahl, Volksbegehren und Volksentscheid“. – Demgegenüber restriktiv zum Gesetzesinitiativrecht des Volkes in Bayern BayVerfGH, BayVBl. 1995, 46 ff.

[26]

Ausführlich zu diesen Rechtsfiguren Neumann, in: HKWP3, § 18.

[27]

So OVG NRW, NWVBl. 2003, 312 – „Verlegung des Busbahnhofes“.

[28]

Näher Ritgen, KommJur 2007, 288 ff.

[29]

Mehrdeutige Fragestellungen führen zur Unzulässigkeit, OVG NRW, NWVBl. 2013, 491.

[30]

Gerade dieser Punkt, der die Verantwortung der Bürger für die Finanzierung des Vorhabens wecken soll, ist in der Praxis oftmals schwer zu realisieren, was in Nds. Grund dafür gewesen ist, dieses Erfordernis 2016 durch Änderung des § 32 III 2 NKomVG entfallen zu lassen (vgl LT-Drs. 17/5423, 32 f); ausführliche Erläuterungen bei Neumann, in: HKWP3, § 18 Rn 43 ff.

[31]

Vgl § 25 I 1 SächsGO. In vielen Ländern ist die Höhe des Quorums innerhalb des Bundeslandes außerdem noch abhängig von der Einwohnerzahl der Gemeinde, vgl hier § 32 IV NKomVG und § 26 IV GO NRW.

[32]

Diese Möglichkeit eröffnen zB § 32 VI 5 NKomVG; § 26 VI 4 GO NRW; Art. 18a XIV bay.GO; § 20 V 5 KV M-V.

[33]

Mindestens 20% in Niedersachsen (§ 33 III 3 NKomVG), abhängig von der Einwohnerzahl zwischen 10 und 20% der Bürger in NRW (§ 26 VII GO NRW) und (bundesweit am höchsten) 30% im Saarland (§ 21a VI 1 saarl.KSVG).

[34]

VGH Mannheim, NVwZ-RR 2015, 149 (150).

[35]

Vgl OVG NRW, NWVBl. 2003, 312 (314).

[36]

Vgl OVG NRW, NWVBl. 2004, 151; NVwZ-RR 2017, 251.

[37]

Dazu OVG SH, NVwZ-RR 2007, 478 (479 f).

[38]

So OVG NRW, NWVBl. 1998, 328 – „Gesamtschule“.

[39]

Vgl OVG NRW, NWVBl. 2008, 106 (108) – Feststellung der Unzulässigkeit eines Bürgerbegehrens zur Verhinderung einer Grundstücksveräußerung als – vorgebliches – Begehren zur Bauleitplanung. Vgl zu dieser Konstellation auch OVG NRW, NWVBl. 2008, 67 sowie, mit anderer Wertung, OVG Schl.H, NVwZ-RR 2007, 478.

[40]

Vgl BayVGH, BayVBl. 1998, 85.

[41]

So BayVerfGH, BayVBl. 1999, 624 (625).

[42]

Vgl etwa Nds. OVG, Nds.VBl. 1998, 96; OVG NRW, NWVBl. 1998, 273; BayVGH, NVwZ-RR 2003, 448; OVG Schleswig, NVwZ 2006, 363 f; OVG NRW, NWVBl. 2008, 106 (108); Fallbearbeitung bei Muckel, Klausurenkurs zum Besonderen Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2009, S. 202 ff (Fall 23); eingehend zum Rechtsschutz Mann, Neumann/Renger (Hrsg.), Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext, Baden-Baden 2010, S. 79–95.

[43]

Näher zum Einwohnerantrag Mann, in: HKWP3, § 17 Rn 13 f.

[44]

Vgl BayVerfGH, NVwZ-RR 1998, 82 (84 f).

Teil I Kommunalrecht › § 4 Die innere Gemeindeverfassung

§ 4 Die innere Gemeindeverfassung

Inhaltsverzeichnis

I. Überblick über typische gemeindliche Organisationsstrukturen in den Ländern

II. Der Rat als unmittelbar demokratisch legitimiertes Gemeindeorgan

III. Ratsausschüsse

IV. Der Bürgermeister

V. Die Vertretung der Gemeinde gegenüber Dritten

VI. Exkurs: Die innere Kreisverfassung

VII. Der kommunale Organstreit

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Fall 4: „Die Mini-Fraktion“

Gertrud Akaweh (A) und Joschka Biolek (B) wurden bei den letzten Kommunalwahlen in Niedersachsen als einzige Listenvertreter der „Bundweite 90/Die Grübler“ in den Gemeinderat von Hinterwalde, einer 16 000 Einwohner zählenden niedersächsischen Gemeinde im Landkreis Wesermarsch, gewählt. Sie wollen in dem Gremium, nach dessen Geschäftsordnung eine Fraktion „mindestens drei Gemeinderäte“ umfassen muss, eine eigene Fraktion bilden, was ihnen aber durch den Ratsvorsitzenden unter Hinweis auf die Geschäftsordnung des Rates verwehrt wird. A und B verweisen darauf, dass in benachbarten Gemeinden und insbesondere auch in anderen Bundesländern bereits zwei politisch gleichgesinnte Mandatsträger eine Fraktion bilden können.

Hätte eine Klage von A und B beim Verwaltungsgericht Aussicht auf Erfolg? Rn 148, 191

Teil I Kommunalrecht › § 4 Die innere Gemeindeverfassung › I. Überblick über typische gemeindliche Organisationsstrukturen in den Ländern

I. Überblick über typische gemeindliche Organisationsstrukturen in den Ländern

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Besonders mannigfaltig ist das Bild, das die innere Gemeindeverfassung in den einzelnen Ländern bietet. Abgesehen von der einheitlichen Differenzierung zwischen der Rechtsstellung des Bürgers und der des Einwohners (dazu vorstehend § 3) lässt sich als übereinstimmende Strukturierung lediglich die Existenz eines den Erfordernissen des Art. 28 I 2 GG entsprechenden Repräsentativorgans – allerdings mit divergierenden Bezeichnungen (Rat, Gemeinderat, Gemeindevertretung, Stadtverordnetenversammlung, Stadtrat oder -vertretung) – nachweisen, dem vor allem die Befugnis zukommt, Ortsrecht in Gestalt gemeindlicher Satzungen zu erlassen. Neben diesem repräsentativen Beschlussorgan ist der Gemeinde noch eine Verwaltung zu Eigen, deren Spitze als gleich- oder nachgeordnetes Organ fungiert, wobei die Zuständigkeitsverteilung im Einzelnen jeweils in der betreffenden Gemeindeordnung geregelt ist.

Die oberste Entscheidungsgewalt kann dabei entweder allein bei der Gemeindevertretung liegen (sog. monistische Verfassung), wobei freilich mehr oder minder umfassende Delegationsmöglichkeiten eingeräumt sind, oder sie kann auf zwei Organe aufgeteilt sein, nämlich auf die Gemeindevertretung (Rat) einerseits und auf den Gemeindevorstand (Bürgermeister, Magistrat) andererseits (sog. dualistische Verfassung).

1. Die traditionelle Unterscheidung nach Verfassungstypen

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Ausgehend von regionalen Besonderheiten und unterschiedlichen historischen Entwicklungslinien des jeweiligen Landesrechts, hatten sich in Deutschland Modelle von Kommunalverfassungen herausgebildet, die durch deutliche Unterschiede in den Grundstrukturen der Organisation der Kommunalverwaltung gekennzeichnet gewesen waren. Im Übergang zum demokratischen Verfassungsstaat nach 1949 haben sich diese Varianten unter Einfluss der Besatzungsmächte zu vier klassischen Grundtypen von Kommunalverfassungen verdichtet, denen alle deutschen Flächenländer über Jahrzehnte hinweg zugeordnet werden konnten, während die Besonderheiten in den Stadtstaaten eine solche Zuordnung unmöglich machten[1]. Durch die Wiedervereinigung hat sich an diesem Zustand zunächst nichts geändert, weil die Kommunalverfassung der DDR[2] in den fünf neuen Ländern durch Kommunalgesetze abgelöst wurde, die seinerzeit weitgehend die Kommunalverfassungstypen der jeweiligen Partnerländer abbildeten. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch eine deutliche Angleichung der Kommunalverfassungssysteme vollzogen (dazu Rn 123 ff), sodass die überkommene Unterteilung nach den Kommunalverfassungstypen heute nur noch kommunalhistorischen Erkenntniswert besitzt[3].

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Die norddeutsche Ratsverfassung, die von der britischen Besatzungsmacht beeinflusst war und lange den Gemeindeordnungen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zu Grunde lag, war im Ansatz ein monistischer Verfassungstypus, weil die Zuständigkeit für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung hier grundsätzlich bei der Gemeindevertretung (Gemeinderat) lag. Der Gemeinderat war Dienstvorgesetzter des Hauptverwaltungsbeamten (Gemeinde-, Stadtdirektor), der als nachgeordnetes Verwaltungsorgan unter Verantwortung und Kontrolle des Rates tätig wurde. Den Vorsitz im Rat führte der ehrenamtlich tätige Bürgermeister, dem im Übrigen noch Repräsentationsfunktionen zufielen[4].

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Kennzeichen der in ihrer organschaftlichen Kompetenzzuordnung dualistisch geprägten süddeutschen Ratsverfassung, die seit dem 19. Jh. in Bayern und dem heutigen Baden-Württemberg anzutreffen ist und später auch in Sachsen, Thüringen und (mit Modifikationen) in Sachsen-Anhalt übernommen wurde, sind zwei unmittelbar von den Bürgern gewählte Gemeindeorgane: der Gemeinderat und der (erste) Bürgermeister. Anders als die Bezeichnung dieses Verfassungstyps nahelegt, ist die Stellung des unmittelbar demokratisch legitimierten Bürgermeisters, der die Verwaltungsgeschäfte erledigt, die Gemeinde nach außen vertritt und zugleich als Ratsvorsitzender fungiert, bei der süddeutschen Ratsverfassung besonders stark ausgeprägt[5].

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In der Magistratsverfassung, deren Wurzeln in der Steinʼschen Städteordnung von 1808 liegen[6] und die in den Städten Schleswig-Holsteins und in Hessen anzutreffen war, existierten zwei Kollegialorgane mit selbstständigen Entscheidungsbereichen: Neben der aus unmittelbarer Wahl hervorgegangenen Gemeindevertretung (Stadtverordnetenversammlung), dem Beschlussorgan, trat als Vollzugsorgan der von der Gemeindevertretung gewählte Gemeindevorstand (Magistrat), der sich aus dem Bürgermeister und einer bestimmten Zahl von hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Beigeordneten zusammensetzte. Zum Kompetenzbereich des Gemeindevorstands gehörten die Erledigung der laufenden Verwaltungsgeschäfte nach Maßgabe der Beschlüsse der Gemeindevertretung und die Vertretung der Gemeinde. Nach der „echten“ Magistratsverfassung bedurften die Beschlüsse der Gemeindevertretung sogar der Zustimmung des Magistrats[7]. In Hessen findet sich auch heute noch eine „unechte“ Magistratsverfassung, bei welcher der vorerwähnte Zustimmungsvorbehalt entfallen ist und der Bürgermeister vom Volk gewählt wird (vgl §§ 39, 65 ff hess.GO)[8].

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Die dem französischem Vorbild folgende Bürgermeisterverfassung kennzeichnete traditionell die innere Gemeindeverfassung in Rheinland-Pfalz und (mit Abweichungen) dem Saarland sowie in den schleswig-holsteinischen Landgemeinden. Sie war ebenfalls dualistisch geprägt, weil sie den Bürgermeister als zweites Organ konzipierte, der gleichzeitig Ratsvorsitzender und Leiter der Verwaltung war und dabei über eine Reihe von eigenen, vom Rat unabhängigen Kompetenzen verfügte. Im Unterschied zur süddeutschen Ratsverfassung wurde der Bürgermeister jedoch nicht unmittelbar von den Bürgern, sondern vom Gemeinderat gewählt[9].

2. Zunehmende Konvergenz der Kommunalverfassungen

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Wie bereits vermerkt (Rn 118) haben sich diese vier Grundtypen von Kommunalverfassungen spätestens seit den 90er-Jahren durch vielfältige Modifikationen und Überlagerungen einander angenähert. Auch wenn insoweit noch nicht von einer Einheitlichkeit der Kommunalverfassungen ausgegangen werden kann, ist doch unverkennbar, dass vor allem die Elemente der süddeutschen Ratsverfassung mit einem infolge unmittelbarer Wahl durch die Bürger in seiner Position gestärkten Bürgermeister, der in sich die zentralen Funktionen des stimmberechtigten Vorsitzes im Rat, der Leitung der (monokratisch strukturierten) Verwaltung und der Repräsentation der Gemeinde nach außen hin vereinigt, beispielgebend für die kommunale Binnenorganisation in beinahe allen Ländern geworden ist[10].

In Kauf genommen wird damit freilich zugleich, dass bei dem Bürgermeister eine gegenüber der Ratsmehrheit unterschiedliche parteipolitische Ausrichtung besteht, die für die kommunale Willensbildung (bis hin zu gegenseitiger Neutralisierung) relevant werden kann. Gerade dies aber kann auch als „Filzbremse“ wirken[11].

In der Literatur wurde so bereits von einem Umbruch im deutschen Kommunalrecht hin zu „plebiszitären Bürgermeisterverfassungen“[12] und von „Verfassungssynkretismus“[13] gesprochen.

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Insbesondere in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die früher der Norddeutschen Ratsverfassung folgten, haben sich zahlreiche Veränderungen ergeben:



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Insofern wurden hier gewisse Elemente der Magistratsverfassung appliziert.

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In nahezu allen Gemeindeordnungen wurden die Mitspracherechte der Bürger erweitert. Dies gilt nicht nur für die Urwahl des Bürgermeisters, sondern auch für die Einfügung zusätzlicher plebiszitärer Elemente (s. oben Rn 107) wie – den Einwohnerantrag, durch den der Rat zur Beratung und Entscheidung einer bestimmten Frage gezwungen werden kann (o. Rn 113), – Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, durch die in Gemeindeangelegenheiten an Stelle des Rates entschieden werden kann (o. Rn 108 ff), – regelmäßige Erörterungsmöglichkeiten aktueller Planungen und Vorhaben im Rahmen von Einwohnerversammlungen (o. Rn 114) und für die Ausweitung der Zuständigkeiten der Bezirksvertretungen (vgl § 37 GO NRW) und Stadtbezirksräte (§§ 90 ff NKomVG).

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Die Regelungen des Kommunalwirtschaftsrechts wurden novelliert (dazu unten Rn 288 ff) und die Vorgaben des Haushaltsrechts modifiziert. So ist in fast allen Ländern die Möglichkeit eröffnet worden, kommunale Unternehmen in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts zu führen (vgl Art. 89 ff bay.GO; §§ 141 ff NKomVG; § 114a GO NRW – u. Rn 308). Auch in NRW ist die Genehmigungspflicht für die Haushaltssatzung entfallen, das Instrument des Haushaltssicherungskonzepts (vgl § 75 IV GO NRW) aber beibehalten worden. In MV und Nds. ist die Haushaltssatzung der Aufsichtsbehörde „vorzulegen“, die Teile der Haushaltssatzung, zB Kassenkredite ab einer bestimmten Höhe, genehmigen muss (vgl §§ 48 f m.v.KVerf.; §§ 114, 119 ff NKomVG).

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Umfang:
1469 S. 16 Illustrationen
ISBN:
9783811453593
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