Wyllards wundersame Wege

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Mary Elizabeth Braddon

Wyllards

wundersame Wege

Mary Elizabeth Braddon

Wyllards wundersame Wege

Roman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Sebastian Vogel

Unter dem Titel Wyllard’s Weird

erstmals erschienen 1885.

Übersetzung © 2020 Sebastian Vogel

Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel

Umschlagbild: Astrid Gast/stock.adobe.com/pixabay.com

Verlag: Sebastian Vogel

Erikaweg 5

50169 Kerpen

www.uebersetzungen-vogel.de

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-752947-40-3

Inhalt

Erstes Buch

Kapitel 1

Ein Tal in Cornwall

Kapitel 2

Nach der amtlichen Untersuchung

Kapitel 3

Joseph Distin

Kapitel 4

Bothwell antwortet nicht

Kapitel 5

Die Leute werden reden

Kapitel 6

Eine priesterliche Warnung

Kapitel 7

Eine schnelle Bekehrung

Kapitel 8

Ein wertvoller Verbündeter

Kapitel 9

Fieberträume

Kapitel 10

Berührung der Lippen und ein

tränenreicher Abschied

Kapitel 11

Eine verhängnisvolle Liebe

Zweites Buch

Kapitel 1

Léonies Mission

Kapitel 2

Ein Fachmann für Männer und Frauen

Kapitel 3

Bothwell sieht seinen Weg

Kapitel 4

Die Wohnung von früher

Kapitel 5

Ein Gesicht aus dem Grab

Kapitel 6

Niedergeworfen

Kapitel 7

Der General erhält eine Vorladung

Kapitel 8

Verwitwet und frei

Kapitel 9

Zwei Frauen

Kapitel 10

Rosen auf einem Grab

Drittes Buch

Kapitel 1

Hochzeitskleidung

Kapitel 2

Lady Valeria kämpft

Kapitel 3

Durchbrennen auf neue Art

Kapitel 4

Im Land der Bohème

Kapitel 5

Der Sturm wird geerntet

Kapitel 6

So kann es enden

Kapitel 7

Einer muss sich erinnern

Kapitel 8

Das letzte Glied

Kapitel 9

Warten auf den Untergang

Kapitel 10

So ist die Hölle, das Paradies oder der ­Himmel

Kapitel 11

Süß ist der Tod in Ewigkeit

Kapitel 12

Wer kennt nicht Circe?

Kapitel 13

Wie ein Winter war dein Fehlen

Erstes Buch

Kapitel 1

Ein Tal in Cornwall

Viele Reisende überqueren den Tamar auf der zauberhaften, von Isambard Kingdom Brunel erbauten Brücke, welche in luftiger Höhe zwischen dem Blau des Flusses und dem Blau des Himmels aufgespannt ist; manche von ihnen glauben dann, sie hätten England an der Ostküste hinter sich gelassen und seien in ein neues Land eingetreten, ja fast in eine neue Welt. Das Land der stillen Wälder, der einsamen Täler und der klobigen braunen Hügel, karg und verlassen – die wilden Gemeingüter und großen Moore von Cornwall scheinen immer noch etwas Besonderes zu sein wie in den vergangenen Tagen, als die Provinz ein wahrhaftiges, vollständiges Königreich war, das unter niemandes Hoheit stand außer unter seiner eigenen.

Der Reisende sieht – vielleicht zum ersten Mal – eine wunderschöne Gegend, während der Zug an dem seltsamen kleinen Küstendorf Saltash vorüberdampft und in die üppigen Tiefen der vielgestaltigen, zauberhaften Wälder eintaucht. Hier scheinen die Gleise wie ein eiserner Faden in der Luft über einer tiefen Schlucht zu schweben, da winden sie sich wie eine Schlange durch ein Labyrinth aus Hügeln. Der Abschnitt zwischen Plymouth und Bodmin Road ist eine malerische Strecke, und das zu allen Zeiten; am lieblichsten ist sie vielleicht in der stillen Abendstunde, wenn ein sommerlicher Sonnenuntergang das Land in goldenes Licht taucht, während der laue Wind die Wälder kaum bewegt.

Im samtigen Licht eines Juliabends rumpelte der Express von Paddington mit nachlassender Geschwindigkeit um die Kurve, die das Näherkommen eines Viadukts zwischen Saltash und Bodmin Road ankündigte – eines massiven Bauwerks aus Holz, das ein Tal von alpiner Schönheit überspannt. Ein erlesenes Stückchen Landschaft, auf die der Fremde mit einem Hauch von Angst zu blicken geneigt ist, welche sich in seine Begeisterung mischt. Aber für die Bewohner des Distrikts, die mit jedem Yard der Strecke vertraut sind, hat der Talübergang nichts Besonderes. Der Reisende lässt sich in aller Ruhe durch die Luft tragen, raucht dabei seine Zigarre und liest die Zeitung. Der Gedanke an eine Gefahr kommt ihm nie.

 

Fast am Ende des Zuges, am Fenster eines Wagens dritter Klasse, saß heute Abend ein Mann und blickte träumerisch in die vertraute Landschaft. Es war ein älterer, grauhaariger Mann – ein Landarzt, hart arbeitend und schlecht bezahlt. Aber er hatte einen scharfen Blick für das Schöne in der Natur, ob tot oder lebendig, und so vertraut dieser Fleck seinem Auge auch war, er beeindruckte ihn immer wieder. Das Gesicht in Richtung der Lokomotive gewandt, schmauchte er träge seine Bruyère und betrachtete die Szenerie. Er war in jenem nicht unangenehmen Zustand der körperlichen und geistigen Müdigkeit, in dem der Geist zur Hälfte schläft und die Außenwelt kaum mehr ist als ein Traumbild.

Es war kein langer Zug – ein Gutteil der Waggons hatte man in Plymouth zurückgelassen. Dr. Menheniot steckte den Kopf aus dem Fenster und überblickte die Reihe der Wagen, während sie um die Kurve fuhren. Hier und da war an einem Fenster eine Gestalt zu erkennen, aber es schien, als sei der Zug nur spärlich besetzt. Sie näherten sich dem Viadukt. Der schmale Wasserlauf, der tief unten in der Schlucht durch sein steiniges Bett rieselte, war im Winter ein reißender Strom. Die Bahnlinie wurde an dieser Stelle gerade repariert, und im Rahmen der Arbeiten hatte man das hölzerne Brückengeländer entfernt. Die eigentliche Gefahr war durch das Fehlen der Barriere in keinster Weise gewachsen, denn sie wäre unter dem Gewicht des Zuges ohnehin wie Streichhölzer zerbrochen, wäre die Lokomotive aus den Schienen gesprungen – aber für den Reisenden, der den Blick in den Abgrund unter ihm warf, schien eine Unsicherheit zu bestehen, und Dr. Meheniot überlief ein unwillkürlicher Schauer. Im nächsten Augenblick war die Lokomotive auf dem Viadukt. Meheniot fuhr mit einem nur halb artikulierten Ausruf hoch. „Was in Gottes Namen…“ setzte er an.

Er öffnete die Waggontür, als wollte er hinausklettern und sich auf dem Trittbrett auf den Weg zu einem weiter entfernten Wagen machen. Dort stand draußen ein Mädchen und hielt sich an dem Messinggeländer neben der Tür fest. Sie war in diesem Augenblick nach draußen getreten oder gestoßen worden – welches von beiden, wusste Menheniot nicht. Er hatte zuvor nichts gesehen, und dann stand sie plötzlich da, eine schlanke Gestalt im hellen Mantel, dessen dünne Rüschen im Wind flatterten. So hing sie dort zwischen Leben und Tod, ein Mensch, den man irgendwie retten musste, und sei es unter Einsatz eines männlichen Lebens.

Aber noch bevor der Arzt sich in Gefahr begeben konnte, war die Chance auf eine Rettung vorüber. Ein wildes Kreischen klang durch den Wald – eine flatternde Gestalt wirbelte in die Schlucht hinunter, blitzte weiß auf zwischen dem sonnenbeschienenen Grün und lag schließlich halb bedeckt inmitten des Gewirrs aus Farn und Wildblumen am Boden der Schlucht.

Zwanzig oder dreißig Köpfe wurden aus den Fenstern gesteckt. Der Zug, der für Dr. Menheniots Blick gerade noch scheinbar nahezu leer gewesen war, war jetzt von Menschen bevölkert. Die Lokomotive verminderte ihre Geschwindigkeit und blieb etwa hundert Yards hinter dem Schauplatz der Katastrophe stehen. Ein Dutzend Männer unterschiedlichen Alters und Aussehens sprangen aus dem Zug und kletterten die Böschung hinunter. Unter ihnen war Julian Wyllard, Herr des Landgutes Penmorval – ein Mann mittleren Alters, schlicht gekleidet, eine große, stattliche Gestalt und eine Person von Rang in diesem Teil des Landes. Vor ihm machten alle Platz, außer dem kleinen Dr. Menheniot, der vorausstürmte in der Absicht, professionelle Hilfe zu leisten, falls diese noch von irgendeinem Nutzen sein konnte.

Julian Wyllard war als Knabe und Halbwüchsiger sehr sportlich gewesen. Er schritt die steile, zerklüftete Böschung leichter hinunter als viele Männer über die Regent Street gehen. Am Fuß des Abhangs blieben alle gewissermaßen unwillkürlich zurück und ließen Mr. Wyllard die Prozession anführen. Sie gingen, so schnell es auf dem unebenen Untergrund möglich war, zertrampelten unterwegs Farn und Blumen, winzige scharlachrote Erdbeeren, purpurne und orangefarbene Pilze, jede Lippe atemlos, jedes Auge starr auf die Stelle im Unterholz gerichtet, auf die der Arzt zustürmte.

„Ich fürchte, es nützt nichts“, sagte Mr. Wyllard, als würde er den gemeinsamen Gedanken aller aussprechen. „Das arme Wesen muss mausetot sein.“

„Was um alles in der Welt hat sie sich dabei gedacht?“, spekulierte ein stämmiger Bauer. „Glauben Sie, sie hatte Angst vor irgendeinem Rüpel im Zug? Oder wollte sie sich selbst um die Ecke bringen?“

Die Passagiere in der kleinen Gruppe sahen sich neugierig an, als suchten sie unter den rustikalen Gestalten nach dem Gesicht eines Schurken, der fähig war, eine ungeschützte Unschuld anzugreifen. Aber wenn Schuld in der Versammlung war, gab es keine äußeren Anzeichen für ein solches diabolisches Element. Nahezu jeder kannte alle anderen: Kleinbauern, der eine oder andere Gutsherr, der ältliche Anwalt aus Camelford, der Vikar von Wadebridge, ein Friedensrichter aus Bodmin, ein Getreidehändler und ehrbarer Bewohner derselben Ortschaft. Ganz sicher sah keiner von ihnen nach jenem würdelosen, wilden Menschenschlag aus, der in seinen Instinkten boshafter ist als die wilden Bestien des Dschungels.

In dem Zug dürften noch andere Fahrgäste gelauert haben, darunter dort oben die geschwätzigen Frauen, die jetzt die Hälse reckten, um ihren Anteil am Mitleid und Entsetzen über die Tragödie dort unten zu erhaschen.

Mr. Wyllard und seine Begleiter fanden den kleinen Dr. Menheniot kniend vor der bedauernswerten Gestalt, die zusammengekrümmt wie ein schlaffer Stofffetzen zwischen Farnwedeln und Bodenefeu lag.

Er hatte den blutigen Kopf auf seinen Arm gelegt und blickte hinunter auf das tote Gesicht, dessen offene Augen den starrenden Blick großen Entsetzens zeigten. Entsetzen über den Bösewicht, der sie hinuntergestoßen hatte, oder über den Abgrund des selbst gesuchten Todes? Wer konnte es wissen? Die blutbesprenkelten Lippen waren für immer stumm, es sei denn, man könnte Tote zum Sprechen bewegen.

„Ist sie ganz dahingeschieden?“, fragte Julian Wyllard, die mitfühlende Haltung voller Ruhe inmitten der aufgeregten kleinen Gruppe.

Das Schauspiel eines plötzlichen gewaltsamen Todes war für seine Augen nichts Neues. Er hatte während der Belagerung und der Kommune in Paris gewohnt, hatte die Leichen in langen Reihen auf den Friedhöfen liegen sehen, aber auch aufgestapelt zu blutigen Haufen auf den Straßen.

„Ganz tot, und das ist auch ein Segen“, erwiderte der Arzt. „Ich glaube, sie hat im ganzen Körper keinen heilen Knochen mehr. Sie hätte nur noch kurze Zeit durchhalten und Qualen erleiden können. Das Genick ist gebrochen. Armes kleines Ding! Sie ist noch ganz jung und muss hübsch gewesen sein.“

Ja, es war ein hübsches kleines Gesicht, und das noch in der Blässe des Todes. Eine kleine Stupsnase; große dunkle Augen mit langen Wimpern; geschürzte Kinderlippen; eine zart geformte Figur, adrett gekleidet in hellgraues Alpaka, ein vorne niedrig geschnittener Leinenkragen, welcher ein gutes Stück des schlanken weißen Halses sehen ließ, Manschetten aus Leinen, lange, bestickte Handschuhe und kleine Tuchstiefel.

„Sieht aus wie ’ne Ausländerin“, sagte Mr. Nicholls, der stämmige Bauer, der zuvor Spekulationen über die Ursache ihres Todes angestellt hatte.

„Sollte man nicht in ihren Taschen nachsehen, ob da Papiere sind, die sie identifizieren könnten?“, fragte eine Stimme hinter Wyllard.

Es war die Stimme eines jungen Mannes, der als Letzter aus dem Zug gestiegen war. Er war den anderen im Abstand von einigen Schritten gefolgt und konnte erst jetzt über Wyllards Schulter einen Blick auf das tote Mädchen werfen.

„Sie hier, Bothwell?“, rief Wyllard, wobei er sich schnell umwandte.

„Ja, ich war den ganzen Tag in Plymouth und hatte gedacht, ich könnte mit dem Zug zurückfahren“, erwiderte Bothwell Grahame leichthin. „Glauben Sie nicht, dass man ihre Taschen untersuchen sollte?“

„Natürlich. Die Frage ist nur, ob man es jetzt tut oder erst später“, sagte Wyllard. „Sie ist offensichtlich allein gereist, das arme Ding, und sie muss allein in einem Abteil gesessen haben, denn anscheinend weiß niemand etwas über sie. Das Wichtigste ist jetzt, dass sie nach Bodmin Road gebracht wird, und dort muss eine Leichenschau stattfinden.“

Das war die Stimme der Klugheit, da waren sich alle einig. Dr. Menheniot drehte die Tasche des adretten Alpakamantels um. Darin war nichts als ein Taschentuch, ein kleiner Schlüsselbund und eine Eisenbahnfahrtkarte zweiter Klasse nach Plymouth. Kein Visitenkartenetui, keine Geldbörse, nicht einmal ein alter Brief, der einen Hinweis auf die Person des toten Mädchens gegeben hätte. Nachdem das erledigt war, gab der Arzt dem zerschmetterten Körper eine anständige Form; zwei kräftige Männer hoben die Tote aus dem Grün und trugen sie vorsichtig den Abhang hinauf zum Zug, wo die leblose Hülle auf den Sitz eines leeren Zweiter-Klasse-Abteils gesetzt wurde.

„Genau in diesem Wagen hat sie gesessen“, sagte Bothwell und zeigte auf einen abgerissenen Streifen aus hellgrauem Alpaka, der an dem metallenen Handgriff hing. „Ihr Mantel muss sich an dem Griff verfangen haben, als sie fiel, und der Fetzen hier ist zurückgeblieben.“

Bothwell gab Dr. Menheniot das Stoffstück.

„Das können Sie dem Coroner zeigen“, sagte er. „Sie sind natürlich ein Zeuge.“

„So ungefähr der einzige, der notwendig ist, denke ich“, sagte der Arzt. „Ich habe gesehen, wie sie gefallen ist.“

„Wirklich?“, rief Wyllard aus. „Das ist ja ein Glück! Und welchen Eindruck hatten Sie, was die Art ihres Sturzes angeht – hat sie sich absichtlich hinuntergestürzt, oder wurde sie von einem Bösewicht gestoßen?“

Die Frage wurde mit gesenkter Stimme gestellt; denn wenn es sich um Mord handelte, konnte der Täter durchaus in Hörweite sein.

„Bei meiner Seele, das kann ich nicht sagen“, wandte Menheniot mit beunruhigtem Blick ein. „Das ging alles so schnell. Es war vorüber wie ein Blitz. Ich habe geraucht, war müde und in einem ganz und gar schläfrigen Zustand, und diese schreckliche Angelegenheit kam mir vor wie ein Traum. Ich habe an dem Wagenfenster kein anderes Gesicht gesehen. Ich habe nichts gesehen außer dem Mädchen. Sie stand auf dem Trittbrett, als der Zug auf die Brücke fuhr, und dann sah ich sie in die Schlucht hinunterwirbeln wie eine Feder, die aus einem Fenster geweht wird. Wenn es Selbstmord war, hat sie sicher gezögert, denn als ich sie das erste Mal sah, stand sie auf dem Trittbrett und hielt sich an dem Handgriff neben der Tür fest. Sie sprang nicht mit einem verzweifelten Satz aus dem Zug. So entschlossen sie vielleicht war, sich das Leben zu nehmen, sie muss währenddessen schwankend geworden sein.“

„Das wäre nur menschlich. Armes junges Ding – sie war ja noch ein Kind!“, sagte Wyllard bedauernd.

Er sprach abseits mit dem Schaffner und empfahl dem Beamten, einen genauen Blick auf die Fahrgäste zu werfen, die in Bodmin Road und an allen weiteren Stationen entlang der Bahnlinie ausstiegen, auf jeden Mann mit ungehobeltem Aussehen oder aufgeregtem Betragen zu achten und jede derartige Person in Gewahrsam zu nehmen, wenn er auch nur den leisesten Anlass für einen Verdacht erkannte.

Mittlerweile hatten die Fahrgäste ihre Plätze wieder eingenommen, und der Zug fuhr langsam weiter. Die ganze Verzögerung hatte nicht länger als zwanzig Minuten gedauert, und die Strecke zwischen Plymouth und Penzance war um diese Uhrzeit einigermaßen frei. Der Zug würde die Verspätung bis zum Ende seines Weges wieder aufholen können.

„Sie kommen besser mit in meinen Wagen“, sagte Wyllard zu dem jungen Mann, den er mit dem Namen Both­well angesprochen hatte.

„Ich habe nur eine Fahrkarte dritter Klasse“, erwiderte der andere. „Und ich habe geraucht.“

„Ich habe nie gesehen, dass Sie etwas anderes getan hätten“, sagte Wyllard mit einem Anflug von Spott. „Setzen Sie sich wieder in Ihr Dritter-Klasse-Abteil. Sie wollen zweifellos noch eine Pfeife rauchen.“

„Ich glaube, nach dem Schock wird mir das gut tun“, erwiderte der junge Mann, brachte augenblicklich seinen Tabaksbeutel zum Vorschein und machte sich daran, seine kleine Tonpfeife zu stopfen.

 

Mr. Wyllard begab sich wieder in das Abteil, in dem er den ganzen Tag gemütlich und allein gesessen hatte. In Gegenwart eines solchen Mannes herrscht eine rätselhafte Kraft, die ihm – außer während der angespannten Touristensaison – im Allgemeinen das Alleinsein sichern kann. Die Touristensaison hatte noch nicht begonnen, und Mr. Wyllard war dafür bekannt, dass er immer für eine Halfcrown gut war; deshalb war sein Abteil heilig. Selbst Bischöfe und Honoratioren aus der Gegend wurden von der Tür verscheucht und mit dem Versprechen auf etwas Besseres beschwatzt.

Er hatte Zeitungen und Zeitschriften im Abteil verstreut. Jetzt machte er sich daran, die ganze Literatur einzusammeln und ordentlich zu bündeln, bevor er am Ende der Reise war. Er war in allen kleinen Dingen ein ordentlicher, methodischer Mensch und doch in keinster Weise ein Tugendbold oder Pedant. Seine hoch gewachsene, kräftige Gestalt und die starken, markanten Gesichtszüge waren von großen Maßen. Er hatte ein großes Gehirn und großzügige Manieren.

Betrachten wir ihn, wie er dort vor einem Hintergrund aus hellgraubraunem Stoff in der Ecke des luxuriösen Abteils sitzt. Ein Mann in der Blüte seiner Männlichkeit, höchstens fünfundvierzig Jahre alt; ein schöner, gepflegter Kopf; hellbraune Haare, dicht und seidig, seitlich aus der breiten, eckigen Stirn gekämmt, in der alle Anzeichen für Geisteskraft sprechen. Große, leuchtend blaue Augen mit gewöhnlich ernstem Ausdruck – aber der Ausdruck wird weicher, wenn der Mann lächelt, und er wird heller und sprüht Funken, wenn der Mann lacht. Er hat ein hübsches Lächeln, ein voll tönendes Lachen und eine Stimme voller Kraft und mit einem Umfang, wie man ihn unter englischen Stimmen nur selten findet. Die Gesichtszüge sind fest modelliert, ausgeprägt, massiv; wenn die Lippen wie jetzt fest geschlossen sind, sieht der Mund aus, als wäre er aus Stein gehauen. Ein Mann, der wahrscheinlich zutiefst liebt und wahrscheinlich nicht leichtfertig hasst. Ein zuverlässiger Freund, wie in diesem Teil des Landes jeder weiß; aber unter Umständen auch ein Todfeind, wo eine große Provokation stattgefunden hat; ein Mann, der ein Geheimnis bewahrt wie ein Grab. Ein Mann, der mit Geld so freigebig ist, als wäre es Wasser.

Der Zug hielt in Bodmin Road in einem malerischen Tal tief inmitten kiefernbewachsener Hügel und neben einem Park von außergewöhnlicher Schönheit. Etwa fünf Minuten vom Bahnhof entfernt lag an der Straße ein kleiner Gasthof, und in diese seltsame Unterkunft brachte man das tote Mädchen, eine verhüllte Gestalt, die auf einem Fensterladen lag und von zwei Eisenbahn-Gepäckträgern getragen wurde. Man legte sie in eine abgedunkelte Kammer im hinteren Teil des Hauses, wo sie auf die Ankunft des Coroners warten sollte, eines Gentleman von gewisser Wichtigkeit, der zehn Meilen entfernt wohnte.

Auf Julian Wyllard wartete ein offener Wagen. In dem Fahrzeug saß eine wunderschöne Frau, die ihn zur Begrüßung anlächelte, als er aus dem Bahnhof trat. Das tote Mädchen hatte man auf der anderen Seite herausgetragen. Die Dame in dem Wagen wusste noch nichts von der Tragödie.

„Der Zug kommt heute Abend so spät!“, sagte sie. „Ich hatte schon unbehagliche Gefühle.“

„Es ist ein Unglück geschehen.“

„Ein Unglück! Ach, wie entsetzlich! Aber du bist nicht verletzt?“, rief sie ängstlich und musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, als vermutete sie irgendeine tödliche Wunde, die er vielleicht heldenhaft vor ihr verbarg.

„Nein, es war kein Zugunglück. Es ist niemand verletzt außer einem armen Mädchen, das sich selbst aus dem Zug gestürzt hat oder gestürzt wurde.“

„Wie schrecklich!“, rief Mrs. Wyllard. „Ist es jemand, den wir kennen – jemand hier aus der Gegend?“

„Nein, es ist eine völlig Fremde, das arme Kind, und nach ihrer Kleidung und ihrem allgemeinen Aussehen würde ich sie für eine Französin halten. Aber nach der amtlichen Untersuchung werden wir mehr wissen.“

„Wie entsetzlich traurig! Eine Fremde, allein in einem fremden Land, und dann ereilt sie ein solcher Tod! Glaubst du wirklich, dass jemand sie aus dem Zug gestoßen hat, Julian? Das hört sich zu schrecklich an, um wahr zu sein.“

„Mein Liebling, ich glaube gar nichts. Das Schicksal des armen Geschöpfs ist in Rätsel gehüllt. Ob sie sich selbst das Leben genommen hat oder von jemandem getötet wurde, ist eine offene Frage. Ich habe dem Schaffner und dem Stationsvorsteher gesagt, sie sollen wachsam sein und jede verdächtige Gestalt festhalten. Wenn wir durch den Ort fahren, werde ich bei der Polizeiwache vorsprechen. Da ist Bothwell“, fügte Wyllard hinzu, als der junge Mann träge einhergeschlendert kam. „Wusstest du, dass er nach Plymouth gefahren war?“

„Nein“, antwortete Mrs. Wyllard. „Er ist zum Mittagessen nicht aufgetaucht, aber da er immer unstet ist, habe ich mich darüber nicht gewundert. Was hat dich denn heute Morgen nach Plymouth geführt, Bothwell?“, fragte sie, als ihr Cousin an den Wagenschlag kam.

Sie waren Cousin und Cousine ersten Grades, und die Verwandtschaft mit Julian Wyllards schöner Frau sicherte Bothwell Grahame in Penmorval freien Aufenthalt. Sie waren die Kinder von Zwillingen, die mehr als nur die übliche Liebe füreinander empfunden hatten und sich selten getrennt hatten, bis der Tod sie allzu frühzeitig voneinander schied. Bothwells Mutter war in der Blüte ihrer Jugend und Schönheit abberufen worden; sie hatte ihr einziges Kind als Säugling und ihren Ehemann mit gebrochenem Herzen zurückgelassen. Captain Grahame war ein knappes Jahr nach dem Tod seiner Frau mit seinem Regiment nach Indien gegangen, um im Panjab zu kämpfen und zu sterben. Bothwell, die Waise, war von Mrs. Tregony Dalmaine, der Schwester seiner Mutter, in einem hübschen alten Herrenhaus nicht weit vom Land’s End groß gezogen worden.

Er war zwei Jahre jünger als Theodora Dalmaine und für das Kind wie ein kleiner Bruder. Sie wurden zusammen erzogen, spielten zusammen und teilten sowohl das gleiche Schulzimmer als auch die gleiche Gouvernante, bis Bothwell nach Woolwich eingezogen wurde; er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Soldat zu werden, und das im Regiment seines Vaters. Das kluge, schlagfertige Mädchen war dem Jungen in allen ihren gemeinsamen Studien beträchtlich voraus. Sie war fleißig, wo er trödelte, und man muss einräumen, dass Bothwell schon von Anfang an in Geist und Gewohnheiten ein kleiner Lausbube war.

In Woolwich machte er sich ganz gut – seine Prüfungen bestand er leidlich, wenn auch nicht mit Bravour. Er war ein guter Soldat und einer der beliebtesten Männer in seinem Regiment. In Afghanistan versah längere Zeit Dienst als Offizier der Pioniere, und das nicht ohne Anerkennung. Aber trotz seiner vielen guten Qualitäten scheiterte er. Er vergeudete sein kleines Erbe bis auf den letzten Shilling, geriet in Schulden, verließ schließlich die Streitkräfte. Damit brach er die Karriere ab, für die Natur und Erziehung ihn besonders vorbereitet hatten, und wandte sich von dem einzigen Weg ab, der ihn zu Ehre und Ruhm hätte führen können. Jetzt war er ein Müßiggänger ohne Rang und Stand in der Welt, ohne Geld oder guten Ruf, und wie er jeden Tag zu sich selbst sagte, war er für seine Familie eine Belastung und Bürde. Er hatte ungenaue Vorstellungen davon, wie er sich selbst eine Karriere schmieden wollte; hatte Visionen von einem Paradies in den Kolonien, wo er Wunder wirken wollte; aber seine Bestrebungen hatten noch keine handfeste Form angenommen. Ständig fiel er auf einen neuen Ratgeber herein, der alle seine Ideen aus dem Boden riss, in dem sie Wurzeln geschlagen hatten, und sie an einen anderen Ort verpflanzte.

„Spanisch-Amerika!“, sagte Smith, „daran brauchst du gar nicht zu denken. Dort wärest du innerhalb von einer Woche tot. Hast du nie vom vomito negro gehört, der tödlichsten Krankheit, die der Mensch kennt? Der richtige Ort für dich ist Otaheite1! Hervorragendes Klima und ein neues Revier für einen unternehmungslustigen jungen Engländer! Dort würdest du in drei Jahren ein Vermögen machen.“

1 Heute Tahiti (Anm. d. Übers.)

Dann kam Jones. Der lachte über den Gedanken an Südseeinseln und gab Bothwell den Rat, ein Stück Brachland nicht weit von der Girondemündung zu kaufen, Fichten anzubauen und das Harz zu exportieren; das sei der einzige sichere Weg zum Reichtum. Zuerst hatte man das Harz und ein hohes Jahreseinkommen, dann das Holz für Eisenbahnschwellen, das sich Cent für Cent bezahlt machte. Zu fragen, woher das Harz kommen sollte, nachdem das Holz verkauft war, wagte Bothwell nicht.

Wenig später kam Robinson, der Kanada und den Holzhandel empfahl. Dann folgte Brown, der erklärte, die einzig wahre Arena für intelligente junge Leute sei das Innere Afrikas. In der Vielzahl der Berater liegt die Weisheit, sagt die Schrift; aber Bothwell musste feststellen, dass in der Vielzahl der Berater eine Verwirrung lag, die an Wahnsinn grenzte. Er hatte den ehrlichen Wunsch, selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen; aber bisher versperrte ihm die Unsicherheit, wie das zu bewerkstelligen sei, den Weg ins Glück.

„Was mich nach Plymouth geführt hat?“, wiederholte er. „Ehrlich gesagt, eigentlich weiß ich es nicht. Heute Morgen war es in Penmorval so totenstill. Ich wollte die Stimmen anderer Menschen hören. Weißt du, Dora, ich bin dritter Klasse gefahren. Es war keine aufwendige Unternehmung“, murmelte er selbstzufrieden. „Soll ich vielleicht auf dem Wagenkasten sitzen?“

„Kommʼ doch herein“, sagte Wyllard. „Hier ist reichlich Platz.“ Also setzte sich Bothwell auf den Rücksitz des Landauers, seiner Cousine und ihrem Mann gegenüber.

Der Ort Bodmin war einige Meilen von Bodmin Road entfernt. An dem stillen Juliabend war es eine angenehme Fahrt. Aber beide Männer wurden von dem Anblick des toten Gesichts heimgesucht, den verrenkten Gliedmaßen, die lose herunterhingen wie bei einem toten Hirsch, den der Jäger hinter sich herschleift, während die Hunde sich um ihre Beute sammeln. Ein so entsetzliches Ereignis ließ sich nicht ohne weiteres abtun.

„Wer war sie wohl, und wohin wollte sie?“, fragte Both­well.

„Ich würde sagen, eine kleine Kindergouvernante auf dem Weg zu ihrer neuen Stellung.“

„In diesem Fall werden wir bei der amtlichen Untersuchung alles über sie erfahren. Dann hat man sie erwartet, und ihre Dienstherren werden auf der Bildfläche erschienen.“

„Wie schrecklich für ihre Eltern, falls sie noch leben; vor allem für die arme Mutter!“, sagte Mrs. Wyllard.

Das letzte Wort sprach sie mit besonderer Sanftheit aus. In ihrer überhöhten Vorstellung war die Beziehung zwischen Mutter und Kind etwas Heiliges. Sie hatte ihre eigene Mutter innig geliebt und sich in den früheren Jahren ihrer Ehe leidenschaftlich ein Kind gewünscht. Aber nun war sie schon sieben Jahre verheiratet, und kein Kind hatte überlebt, um ihr Glück zu bringen. Ein Jahr nach der Eheschließung war ein Sohn geboren worden – geboren, nur um zu sterben. Mittlerweile hatte sie die Hoffnung, auf Erden irgendwann einmal mit liebevollen Namen „Mutter“ angesprochen zu werden, aufgegeben.

Sie fuhren an den vertrauten Wäldern und Hügeln vorüber, an farnbewachsenen Tälern und klaren Bächen. In der Ferne sahen sie die großen braunen Bodenerhebungen vor dem bernsteinfarbenen Himmel. Aber der Gedanke an den entsetzlichen Todesfall verfolgte sie und vergällte ihnen alle landschaftliche Schönheit. Sie hatten keine Augen für die Szenerie, sondern saßen nur in ernstem Schweigen da.

Mr. Wyllard stieg beim Polizeirevier von Bodmin aus und unterhielt sich etwa zehn Minuten mit dem Inspektor. Dieser war wegen des seltsamen Todesfalles an der Eisenbahnstrecke erschrocken, zugleich aber auch freudig erregt angesichts des Gedankens an die Leichenschau und eine Untersuchung, die für ihn Ehre und Gewinn mit sich bringen konnten.

Mrs. Wyllard blieb mit Bothwell in der Kutsche sitzen, während ihr Mann und der Beamte auf der Schwelle der Polizeistation ihr ernstes Gespräch führten. Bothwell redete von dem Mädchen und ihrem rätselhaften Tod. Er beschrieb das arme kleine, weiße Gesicht und den Ausdruck des Entsetzens in dem glasigen Starren des Todes.

„Sah sie aus wie eine Lady?“, fragte Dora voller schmerzlichem Interesse.

„Ich glaube kaum. Sie hatte ein hübsches, adrettes Äußeres, wie man es bei französischen Mädchen aller Klassen oberhalb der Dirnen beobachtet. Ihr Rock, ihre Stiefel und die Baumwollhandschuhe passten sehr hübsch zu ihr und ihrer Stellung. Da war kein Hauch von jener vulgären Verfeinerung, die ein halbseidenes englisches Mädchen so anrüchig macht. Ich wage zu sagen, dass Wyllard recht hat: Sie war eine arme kleine Gouvernante, die in ein fremdes Land gereist ist, um ihr Brot zu verdienen und eine Fremdsprache zu erlernen. Tausende tun das jedes Jahr, daran habe ich keinen Zweifel. Aber nur dieser ist es gelungen, bekannt zu werden und gleichzeitig in einen frühen Tod zu springen. Du liebe Güte! Da kommt der Coroner. Wir werden die ersten sein, die ihm sagen, dass er morgen gebraucht wird.“