Wyllards wundersame Wege

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Mrs. Wyllard errötete ein wenig, als sie sich umdrehte und sah, wie ein Reiter sich näherte. Sie hatte es bis heute nicht verlernt, bei jeder plötzlichen Erwähnung des Namens von Edward Heathcote zu erröten. Und das, obwohl es schon sieben Jahre her war, seit sie ihn abgewiesen und Julian Wyllard geheiratet hatte.

Eine traurige Geschichte, alles mittlerweile vergeben, wenn auch nicht vergessen. Ein tiefes Unrecht, das eine hochherzige Frau einem hochherzigen Mann zugefügt hatte. Es war die einzige Handlung in Theodora Wyllards Leben, auf die sie nicht ohne Reue zurückblicken konnte. In allen anderen Aspekten ihres Lebens war sie vollkommen gewesen – die hingebungsvolle Tochter, die hingebungsvolle Ehefrau. Nur in dieser einen Sache hatte sie gesündigt. Dieser Mann hatte sie seit dem Heraufdämmern ihrer mädchenhaften Schönheit, seit Anbeginn ihrer fraulichen Anmut treu und zärtlich geliebt. Sie hatte seine Liebe angenommen und, so schien es ihr selbst, Maß für Maß erwidert. Sie hatte sich auf die Jahre gefreut, in denen sie eins sein würden. Und dann, in einer schicksalhafte Stunde, blitzte ein anderes Gesicht im Vordergrund ihres Lebens auf – eine neue Stimme betörte ihr Ohr, und auf sie wurde ein Einfluss ausgeübt, wie sie ihn nie zuvor gespürt hatte, eine Macht, die zu stark für Widerstand war. So war sie in einem Augenblick der leidenschaftlichen Selbstaufgabe vor Edward Heathcotes Füßen auf die Knie gefallen und hatte ihm ihre Liebe zu einem anderen gestanden. Julian Wyllard hatte alle Schranken niedergerissen, hatte sie gebeten, seine Frau zu werden, obwohl er wusste, dass sie mit einem anderen Mann verlobt war. Aber so manch einer glaubt, dass eine große, unwiderstehliche Liebe schwerer wiegt als alle Skrupel von Ehre oder Gewissen.

„Warum bittest du mich um deine Freiheit, als wäre das ein so großer Gefallen?“, sagte Heathcote bitter, als er sie von den Knien in die Höhe zog. „Glaubst du, ich wollte dich – diesen bloßen schönen Körper – noch haben, wenn dein Herz von mir gegangen ist? Glaubst du, ich, der ich dich hundertmal mehr liebe als mich selbst, würde zwischen dir und deinem Glück stehen? Du bist frei, Dora. Ich habe das Elend über mich kommen sehen, seit dieser Fremde ins Haus deiner Mutter gekommen ist.“

„Und du wirst mir verzeihen?“, bettelte sie mit zusammengepressten Händen, während sie ihn mit strömenden Tränen ansah, voller Mitleid mit ihm und zutiefst beschämt wegen ihrer Untreue.

„Kann ich dir böse sein, wo ich dich so liebe? Möge Gott dir alle deine Sünden vergeben, große und kleine. Möge er sie dir so leichthin vergeben, wie ich dir deine Sünde gegen mich verzeihe.“

Ihre Lippen leisteten keinen Widerstand, als er sie ein letztes Mal küsste. Dann verließ er sie, dem gebrochenen Herzen so nahe, wie ein Mann es nur sein kann, wenn er sich noch einmal erholt.

Und er erholte sich. Oder jedenfalls glaubte man, er sei geheilt, denn zwei Jahre nach Theodora Dalmaines Eheschließung heiratete er ein blondes junges Mädchen ohne Geld, ohne Freunde und ohne Eltern. Eine Frau, die ihn liebte, wie er geliebt zu werden verdiente, und die nach noch nicht einmal zweijähriger Ehe starb. Sie hinterließ zwei Töchter – Zwillinge. Drei Jahre war es jetzt her, seit das Grab sich über ihr geschlossen hatte. Edward Heathcote war immer noch Witwer, und allgemein war man der Ansicht, dass er bisher nicht wieder über eine Ehe nachgedacht hatte.

Im schwindenden Licht ritt er langsam die Straße entlang, ein Mann von auffälligem Äußerem – dreiunddreißg Jahre, groß und breitschultrig – auf einem hübschen Pferd. Er hatte einen dunklen Teint und dunkelbraune Haare, tief liegende graue Augen, die unter den dichten dunklen Brauen fast schwarz aussahen, eine Adlernase, einen dicken Schnäuzer und einen Bart.

Er hatte sein Leben als jüngerer Sohn begonnen und einige Jahre als Anwalt in Plymouth praktiziert – er war in der Stadt Gemeindevollzugsbeamter und ein Mann von öffentlicher Bedeutung gewesen -, aber dann war sein älterer Bruder unverheiratet gestorben, und Edward Heathcote hatte ein einträgliches Landgut in der Nähe von Bodmin geerbt, zu dem ein eigenartiges altes Landhaus namens The Spaniards gehörte. Den Namen verdankte der Ort den spanischen Kastanien, die dort in überwältigender Pracht gediehen. Nachdem er Eigentümer von The Spaniards und der zugehörigen Ländereien geworden war, gab Edward Heathcote die Juristerei auf und lebte von nun an am Ort seiner Geburt, wo er sich um das Wohl seiner beiden Säuglingsmädchen und seiner kleinen Schwester kümmerte. Seine Tage ließ er in der stillen Eintönigkeit eines Gutsbesitzerlebens verrinnen: Er jagte und schoss, saß in kleinen Sitzungen zu Gericht über Wilderer und Schuldner, und war für seinen Teil der Grafschaft als Coroner tätig. Seit einem Jahr führte er jetzt dieses Leben eines ländlichen Honoratioren.

Heathcote ritt zu dem Wagen und gab Mrs. Wyllard die Hand. Er war ihr Nachbar und hatte Penmorval im Laufe des letzten Jahres besucht. In seinem Betragen und seinen Worten hatte es nie das geringste Anzeichen dafür gegeben, dass Julian Wyllards Frau für ihn mehr war als eine Freundin. Er freute sich, sie zu besuchen, war begierig darauf, dass sie sich für seine mutterlosen Kinder interessierte, und vertraute ihr mit Vergnügen seine Pläne und Gedanken an. Die Zeit hatte seine Begeisterung in allen Dingen ernüchtert und alle bitteren Erinnerungen weicher werden lassen. Er nahm das Leben jetzt als sanften Legato-Satz. Er hatte gelebt und gelitten und seine Pflicht getan. Was ihm noch blieb, war Ruhe. Er setzte sich zwischen seine Felder und machte es sich nur ein wenig früher gemütlich als andere Männer, das war alles. Ein großer, im Frühling des Lebens durchlittener Kummer lässt einen Mann um mindestens zehn Jahre altern.

„Warum warten Sie vor der Polizeiwache?“, fragte er. „Hatten Sie in Penmorval Einbrecheralarm?“

„Es ist viel schlimmer“, erwiderte Mrs. Wyllard gewichtig. Anschließend berichtete Bothwell über die Katastrophe an der Eisenbahnlinie.

Gerade als er geendet hatte, kam Julian Wyllard zurück zum Wagen.

„Es gibt etwas zu tun für Sie, Heathcote“, sagte er.

„Ja, etwas sehr Trauriges. Die Geschichte hat für mich einen brutalen Ton und erinnert an frühere Geschichten der gleichen Art“, erwiderte Heathcote. „Wenn der Schurke entkommt, soll es nicht meine Schuld sein.“

„Sie glauben also, dass es einen Schurken gibt? Sie halten es nicht für einen Fall von Selbstmord?“

„Auf keinen Fall“, antwortete der andere sofort. „Warum sollte sich ein Mädchen für eine solche Todesart entscheiden?“

„Warum sollte sich ein Mädchen vom Monument stürzen?“, fragte Wyllard. „Und doch wissen wir, dass Mädchen vor fünfzig Jahren ein Faible dafür hatten. Jedenfalls werden Sie Gelegenheit haben, Ihren juristischen Scharfsinn in einem wirklich mysteriösen Fall unter Beweis zu stellen. Ich habe alles getan, was in meinen bescheidenen Kräften stand, damit die Beamten an der Bahnlinie wachsam sind; und wenn irgendein Schurke bei dem Tod des armen Kindes seine Hand im Spiel hatte, glaube ich, dass er nicht ohne Weiteres davonkommen wird. Wohin reiten Sie?“

„Nur ein abendlicher Spazierritt über die Hügel.“

„Sie kommen besser zu uns und essen mit uns zu Abend. Es einen Imbiss zu nennen, dazu ist es zu spät.“

„Sie sind sehr freundlich, aber ich habe um sieben bereits gegessen. Nebenbei bemerkt, muss ich alles für die Untersuchung morgen vorbereiten. Ich werde mit Morris sprechen, und dann reite ich zum Vital Spark, um dort die Angelegenheit mit den Leuten zu regeln.“

Der Vital Spark war der kleine Gasthof an der Straße, in dem das tote Mädchen lag. Der Landauer von Penmorval fuhr davon, Edward Heathcote dagegen hielt an und sprach mit Morris, dem Inspektor. Man würde früh am nächsten Morgen die Jury benachrichtigen müssen. Die Leichenschau sollte nachmittags um fünf Uhr stattfinden. Das würde den Kaufleuten genügend Zeit lassen, sich von ihren Läden zu entfernen. Die Hauptgeschäftszeit in Bodmin würde dann vorüber sein.

„Es wird so viel Zeit sein, dass hier in der Nachbarschaft jeder, der etwas über das Mädchen weiß, sich melden kann“, fügte Mr. Heathcote hinzu. „Wenn sie in dieser Gegend eine Stellung antreten sollte, wie Mr. Wyllard vermutet, muss irgendjemand alles über sie wissen.“

„Was für ein Mann er ist, Mr. Heathcote!“, sagte der Inspektor bewundernd. „So ein klarer Verstand, so eine Entscheidungskraft! Immer auf den Punkt.“

„Ja, er ist ein sehr fähiger Mann“, erwiderte Heathcote aus ganzem Herzen.

Er hatte sich schon seit langem darin geschult, großzügig über seinen Rivalen zu denken. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Dora mit ihrer Entscheidung glücklich war, dass sie sich keinen Skorpion an ihren Busen geholt hatte, als sie ihm einen anderen Mann vorzog. Manchmal hatte er sich gefragt – nur eine kleine eitle Frage, wenn er sie in ihrem wunderschönen Heim in Penmorval sah –, ob es ihm wohl möglich gewesen wäre, ihr Leben glücklicher zu machen als Julian Wyllard. Forschend hatte er nach irgendeinem Makel in der Vollkommenheit dieser Verbindung gesucht, aber ihm war keiner aufgefallen. Und er war so großherzig, darüber froh zu sein.

Der Wagen fuhr langsam eine lange Steigung hinauf und über eine weite Heidefläche, bevor er schließlich das Tor von Penmorval durchquerte, das zwei Meilen vom Ort entfernt war. Das schöne alte Haus stand auf einer Anhöhe, die aber so dicht bewaldet war, dass sie es vor der Außenwelt abschirmte. Nur Roughtor und Brown Willie, die Riesen von Cornwall, zeigten ihre dunklen Grate über dem breiten Gürtel aus Holz, der das schöne alte Tudorbauwerk umgab. Eine Doppelreihe aus Ulmen und Eiben führte zu der steinernen Vorhalle. Die lange, nach Norden gerichtete Steinfassade blickte auf einen ebenen Rasen, der vom Park durch eine Mauer und einen Graben getrennt war. Die Südfront war mit Rosen und Myrten bewachsen, und davor lag einer der lieblichsten Gärten von Cornwall – ein Garten, der Stolz und Freude vieler Generationen gewesen war, ein Garten, auf dem die Ehefrauen und Witwen der Gutsbesitzer aus drei Jahrhunderten ihre Mühen und Gedanken verwendet hatten. Nirgendwo fand man prachtvollere Rosen oder einen solchen Schatz ungewöhnlicher Blüten, von den schönsten bis zu den einfachsten. Nirgendwo sonst fiel die Aprilsonne auf solche Tulpen und Hyazinthen, nirgendwo sonst krönte sich der Juni mit schöneren Lilien, und nirgendwo sonst prunkte der Herbst mit einer größeren Pracht von Dahlien, Malven und Chrysanthemen. Der Boden strotzte vor Blumen. Für Unkraut war kein Platz.

 

Für eine kinderlose Ehefrau wie Dora Wyllard war ein solcher Garten eine Art Scheinfamilie. Sie richtete ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Begeisterung und ihr Streben auf die Rosen und Chrysanthemen, wie eine Mutter sie auf ihre Mädchen und Jungen richtet. Sie zählte die Blüten an einer bestimmten Gloire de Dijon. Sie erinnerte sich an den strengen Winter, als der ausgezeichnete John Hopper dem Frost zum Opfer fiel. Sie hatte ihre Geheimmittel und Tränke für die grüne Fliege wie eine Mutter für Masern. Der prachtvolle alte Garten trug dazu bei, den Kelch von Mrs. Wyllards Glück zu füllen, verschaffte er ihr doch unerschöpfliche Beschäftigung. Als Besitzerin eines solchen Gartens konnte sie niemals mit dem trägen Gähnen der Müßigen und Wohlhabenden sagen: „Was soll ich heute mit mir anfangen?“ Aber Dora war, was Beschäftigung anging, nicht auf ihren Garten angewiesen. So anspruchsvoll die Rosen und Lilien auch waren, so mannigfaltige Pflege die Gewächshäuser und Farnplantagen und Gehölze auch brauchten, Mrs. Wyllards Ehemann war noch anspruchsvoller. Wenn Julian zu Hause war, konnte sie dem Garten nur wenig Zeit widmen. Er ertrug es kaum, wenn seine Frau für eine halbe Stunde außer Sichtweite war. Sie musste sich für alle seine Vorhaben interessieren, für seine Briefe, noch für die trockensten geschäftlichen Einzelheiten. Sie ritt und fuhr mit ihm, und da Freiluftsport nicht nach seinem Geschmack war, hielten weder Gewehre noch Jäger ihn von ihr fern. Er war lernbegierig, ein Mann von künstlerischem Temperament, ein Liebhaber seltener Bücher mit hübschen Einbänden, ein Liebhaber von Bildern und Statuen, Porzellan und Email – er betete die Schönheit in jeder Form an. Seine Vorlieben waren derart, dass eine Frau sie leicht und ganz natürlich mit ihm teilen konnte. Das machte ihre Verbindung nur umso vollkommener. Andere Ehefrauen wunderten sich beim Anblick einer solchen häuslichen Eintracht. Es gab manche, deren Männer keine zehn Minuten am heimischen Herd sitzen konnten, ohne trübselig zu gähnen, Männer, die mit ihrem Zeitvertreib auf die Zeitung angewiesen waren, Männer, deren Gedanken ständig im Pferdestall weilten. Julian Wyllard war der ideale Ehemann: Er gähnte nie beim tête-a-tête mit der Frau seiner Wahl, sondern teilte jede Freude und jeden Gedanken mit ihr.

Als die beiden heute Abend gegen halb zehn mit Both­well beim Essen saßen, der als einzige Gesellschaft nicht schlechter war als ein Neufundländer, zeigte schon die erste Frage der Frau, wie vertraut sie mit den Geschäften war, die ihren Mann nach London geführt hatten.

„Nun, Julian, hast du den Raffael bekommen?“

„Nein, mein Liebes. Das Bild ist für das Dreifache des Wertes weggegangen, den ich ihm beigemessen hatte.“

„Und einen solchen Preis wolltest du nicht zahlen?“

„Hm, nein. Selbst für einen Monomanen wie mich gibt es Grenzen. Ich hatte mir eine Grenze gesetzt. Ich war bereit, hundert oder zweihundert Pfund mehr zu bezahlen als die tausend, die ich als Preis für das Bild angesetzt hatte; aber als es auf fünfzehnhundert ging, habe ich mich aus dem Wettbewerb zurückgezogen, und am Ende wurde es Lamb, dem Händler, für zweitausend Guineen zugeschlagen. Eine einzige Figur – ein Brustbild des kreuztragenden Jesus vor einem Hintergrund aus leuchtend blauem Himmel. Aber eine solche Göttlichkeit in seinem Äußeren, und so ein leidender Blick! Ich habe gesehen, wie Frauen sich mit Tränen in den Augen abwandten, nachdem sie das Bild betrachtet hatten.“

„Du hättest es kaufen sollen“, sagte Dora. Sie wusste, dass ihr Mann viel mehr Geld hatte als er ausgeben konnte, und nach ihrer Ansicht hatte er das Recht, in seinen Launen zu schwelgen.

„Liebste, wie ich schon sagte: Es gibt Grenzen“, antwortete er, wobei er über ihre Begeisterung lächelte.

„Dann hast du die Reise unternommen, und ich musste den Verlust deiner Gesellschaft drei trostlose Tage lang ertragen, und alles für nichts?“, sagte Dora.

„Nicht ganz für nichts. Ich hatte das Vergnügen, eine sehr schöne Bildersammlung und einige großartige Emaillen aus Limoges zu sehen. Es ist mir gelungen, einen kleinen Greuze für dich zu kaufen. Von französischen Kunstkritikern habe ich gehört, Greuze zu bewundern, sei ordinär und ein Zeichen für vulgären Geschmack. Er ist der Maler des bourgeois, der épicier. Aber trotz alledem waren wir beide uns doch einig, dass wir Geuze mögen; deshalb habe ich dieses kleine Bild für dein Ankleidezimmer gekauft. Ich habe es für fünfhundertfünfzig bekommen, und ich glaube, es ist ein echtes Stück in der besten Manier des Malers.“

„Wie gut du zu mir bist!“, rief Dora, stand auf und ging hinüber zu ihrem Mann.

Sie beugte sich hinunter, um ihn zu küssen, während er am Tisch saß. Sie hatten die Dienstboten für diese informelle Mahlzeit entlassen, deshalb brauchte Mrs. Wyllard nicht zu befürchten, dass man sie für wunderlich hielt, wenn sie ihre Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Um Bothwell kümmerte sie sich nicht. Fünfhundertfünfzig! Wie sorglos dieser Mann über seine Hunderte sprach – so jedenfalls erschien es Bothwell, der durch das Bewusstsein für Schulden geplagt wurde, für die der Preis des Bildes gereicht hätte; es waren kleine Schuldenkeime, vor langer Zeit entlang des Weges verstreut, die jetzt in Form der Briefe von Kreditgebern zu winterharten Pflanzen herangewachsen waren und dafür sorgten, dass er den Anblick des Briefträgers hasste.

Weder Wyllard noch Grahame griffen beim Essen herzhaft zu. Im Geist der Beiden war das Bild des toten Gesichts nur allzu lebhaft gegenwärtig. Fleisch, Getränke und angenehme Gespräche standen nicht im Einklang mit dem Schrecklichen, das beide vor drei Stunden gesehen hatten. Sie tranken mehr Wein als gewöhnlich und aßen kaum etwas.

„Kommst du mit zu einem Spaziergang im Garten, Julian?“, fragte Dora, als sie sich vom Tisch erhoben.

Es war halb elf und ein angenehmer Sommerabend. Knapp über dem Blattwerk leuchtete der große Mond golden vom purpurfarbenen Himmel. Es war nicht der ferne Mond, welcher der ganzen Welt gehört, sondern ein großer gelber Lampion, der den eigenen Garten beleuchtete.

„Komm doch“, sagte sie, „es ist so ein herrlicher Abend!“

„Ich wage es nicht, mir das zu gönnen, Liebes; vor dem Zubettgehen muss ich noch Briefe lesen. Ich wollte gerade in der Bibliothek das Kaminfeuer anzünden lasen.“

„Das Kaminfeuer an einem solchen Abend! Ich fürchte, du hast dich erkältet.“

„Das halte ich nicht für unwahrscheinlich“, antwortete ihr Mann, während er nach dem Diener läutete.

„Glaubst du nicht, dass deine Briefe bis morgen warten können, Julian?“, bettelte Dora. „Wir könnten im Salon ein Feuer anzünden lassen, und dann setzen wir uns zusammen und reden.“

„Das wäre wunderschön, aber ich darf mich nicht in Versuchung führen lassen. Ich habe heute Abend keine Ruhe angesichts eines Haufens ungeöffneter Briefe.“

Er gab dem Diener seine Anweisungen. Seine Briefe und Papiere lagen auf dem Tisch in der Bibliothek. Dort würde man sofort ein Feuer anzünden.

„Ich fürchte, bei dir wird es spät“, sagte Dora.

„Es könnte ein wenig später werden. Warte auf keinen Fall auf mich, Liebste. Gute Nacht!“

Er küsste sie, und sie sagte Gute Nacht, aber sie nahm sich die Freiheit, ebenso lange aufzubleiben wie er. Es hat keinen Sinn, wenn ein Ehemann zu einer Frau von Mrs. Wyllards Temperament sagt, sie solle seinetwegen nicht aufbleiben und sich keine Sorgen machen. Schlaf zu finden, solange sie nicht wusste, dass auch ihr Mann sich zur Ruhe gelegt hatte, war für Dora ebenso unmöglich wie Glück für sie unmöglich war, wenn er nicht in ihrer Nähe weilte. Sie hatte sich zu einem Teil seines Seins gemacht, hatte ihr ganzes Dasein mit dem seinen verschmolzen; getrennt von ihm hatte sie keinen Wert, ja kaum überhaupt eine Individualität.

„Julian sieht müde und besorgt aus“, sagte sie zu ihrem Cousin, der, eine Zigarette rauchend, unmittelbar vor dem Fenster stand.

„Darüber brauchst du dich nicht zu wundern“, erwiderte Bothwell. „Die Angelegenheit an der Bahnlinie hätte gereicht, damit jeder Mensch sich unwohl fühlt. Ich werde sie noch lange nicht vergessen.“

„Es muss ein schrecklicher Schock gewesen sein. Und Männer mit kräftigen Gesichtszügen und einem starken Körperbau sind manchmal sensibler als zarte Wesen mit nervösem Temperament“, sagte Dora. „Mir ist oft aufgefallen, welche kränklichen Gefühle Julian bei Dingen hat, die ein Mann eigentlich mit Gleichgültigkeit betrachten sollte.“

„Er ist ein verdammt guter Bursche“, sagte Bothwell, der vom Ehemann seiner Cousine großzügiger behandelt worden war als von irgendjemandem aus seiner eigenen Familie. „Willst du nicht auf eine Runde in den Garten kommen? Ich zünde mir auch keine neue Zigarette an, wenn du etwas dagegen hast.“

„Du weißt, dass mir Rauch nichts ausmacht“, erwiderte sie und gesellte sich zu ihm. „Aber was ist das, deine Hand zittert ja, Bothwell. Du kannst dir ja kaum die Zigarette anzünden.“

„Habe ich nicht gesagt, dass mich die Angelegenheit durcheinander gebracht hat? Ich glaube, ich werde heute Nacht kein Auge zutun.“

Mehr als eine Stunde spazierten sie durch den Rosengarten. Garten und Nacht waren gleichermaßen vollkommen. Es war ein italienischer Garten mit angelegten Terrassen, Rosenbeeten und einer Fontäne in der Mitte, einem kräftigen, üppigen Strahl, der aus einem Becken aus massivem Marmor aufstieg. Rosen, Magnolien, Jasmin und Lilien füllten die Luft mit ihren Düften. Der Mond hatte sich von Gold in Silber verwandelt und stand hoch am Himmel.

Jetzt war es der Mond aller: Er versilberte die bescheidenen Dächer von Bodmin, schien über der Kirche, dem Gefängnis, dem Irrenhaus, und beleuchtete auch den fünf oder sechs Meilen entfernten Landgasthof, unter dessen klobigem Dach die Fremde lag, ohne dass neben ihrem Bett jemand betete.

Bothwell schlenderte schweigend neben seiner Cousine. Auch sie schwieg und empfand keine Neigung, zu reden oder zuzuhören. Sie war froh, draußen im Garten zu sein, während ihr Mann seine Briefe las. Sie wusste, dass ein ganzer Stapel mit Korrespondenz auf ihn wartete – Briefe, die einem Landedelmann von Reichtum und hohem Stand seine Zeit stehlen, weil sie meistens uninteressant und sehr oft lästig sind. Sie alle zu durchforsten, würde Julian Wyllard viel Zeit kosten. Aber als die Dielenuhr zwölf schlug, glaubte Dora, sie könne darauf hoffen, dass die Tätigkeit beendet war.

„Gute Nacht, Bothwell“, sagte sie. „Ich werde nach Julian sehen.“

Die Bediensteten waren alle zu Bett gegangen, und man hatte außer in der Diele und in den Korridoren sämtliche Lampen gelöscht. Vom Garten in die Diele führt eine Fenstertür, die immer unverschlossen blieb, weil Bothwell gern lange, späte Spaziergänge auf dem Anwesen unternahm. Die Bibliothek am anderen Ende des Hauses war ein prächtiges Zimmer mit einer Sammlung ausgewählter Bücher, der Ausbeute der letzten sieben Jahre: Julian Wyllard wohnte noch nicht lange in der Grafschaft und war erst seit dieser Zeit der Eigentümer von Penmorval.

In dem künstlerisch gefliesten Kamin – eine moderne Verbesserung gegenüber der alten Konstruktion aus Schmiedeeisen – brannte ein kräftiges Feuer. Mr. Wyllard hatte alle seine Briefe geöffnet und offensichtlich einige von ihnen verbrannt, denn ein Geruch nach kalziniertem Papier und Siegelwachs zog durch den Raum.

Er saß in gebeugter Haltung und tiefem Nachdenken auf einem Sessel neben dem Kamin und betrachtete einen Gegenstand, den er in den Händen hatte. Tief in Gedanken versunken, bemerkte er Dora erst, als sie dicht neben ihm stand.

Der Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit so fesselte und seine Gedanken in die weit entfernte Vergangenheit hatte schweifen lassen, war eine lange Strähne aus kastanienbraunen Haaren. Er hatte sie um den Finger gewickelt – eine weiche, seidige Strähne, die im fröhlichen Licht des Feuers mit goldenen Strahlen aufblitzte.

 

„Was für schöne Haare!“, sagte Dora leise, als sie über seine Schulter nach unten blickte. „Von wem sind sie, Julian?“

„Es waren die von meiner Schwester“, antwortete er.

„Von der Schwester, die vor so vielen Jahren gestorben ist. Armer Julian! Da sitzt du ganz allein hier und gibst dich traurigen Erinnerungen hin.“

„Ich habe diese Strähne gerade zwischen ein paar alten Papieren gefunden, als ich nach Martins Pachtvertrag gesucht habe.“

Er rollte die Haare schnell zusammen und warf sie zwischen die flackernden Kohlen.

„Aber Julian, warum tust du das?“, fragte seine Frau vorwurfsvoll.

„Was nützt es, solche Dinge aufzubewahren und damit nur kummervolle Erinnerungen am Leben zu halten? Wir haben weiß Gott genug mit unseren Toten zu tun. Sie verfolgen und quälen uns in jeder Phase unseres Lebens. Wir werden sie nicht los.“

Die Bitterkeit seiner Worte schnitt seiner Frau in die Ohren.

„Liebster, du bist erschöpft und außer dir“, sagte sie. „Du hast zu lange gearbeitet. Waren deine Briefe unangenehm?“

„Nicht unangenehmer als sonst, mein Liebling. Ja, ich bin sehr müde.“

„Und das schreckliche Ereignis an der Bahnlinie hat dich beunruhigt. Der arme Bothwell ist auch ganz durcheinander. Es tut mir so Leid für dich, Julian“, sagte seiner Frau besänftigend. Sie lehnte sich an seine Schulter und strich die Haare von den breiten, vollen Augenbrauen zurück.

„Mein liebes Kind, es gibt keinen Grund, mich zu bemitleiden. Schreckliche Dinge ereignen sich jeden Tag auf der ganzen Welt. Wir hören davon und spüren, was für ein zerbrechliches Ding das Leben unter den Bedingungen ist, unter denen wir alle unser Dasein fristen. Heute Abend habe ich von Angesicht zu Angesicht einem entsetzlichen Todesfall gegenübergestanden. Das ist der einzige Unterschied.“

Kapitel 2

Nach der amtlichen Untersuchung

Am Nachmittag der amtlichen Untersuchung herrschte in Bodmin große Aufregung. Es war ein köstlicher Sommernachmittag, wie gemacht für stille, idyllische Vergnügungen; ein Nachmittag, den man tagträumend unter Bäumen verbringen konnte, oder auch indem man sich träge einen ruhigen Wasserlauf hinuntertreiben ließ, statt sich in einem stickigen Gastzimmer zu versammeln, dem dröhnenden Tonfall eines Polizeiwachtmeisters oder den verworrenen Aussagen und arglosen Tatsachenverdrehungen eines Gepäckträgers zuzuhören. Aber vielleicht hatten die Bewohner von Bodmin bereits ihr Maß aus dem Kelch der ländlichen Freuden getrunken, oder sie hatten mehr als genug von heidebewachsenem Moorland, Fingerhut-gesäumten Landstraßen, Hagebutten und Heckenkirschen, wiegenden Baumkronen und gewundenen Bächen, und vielleicht ließ diese Übersättigung sie in den kleinen Gasthof jenseits des Bahnhofs Bodmin Road strömen, wobei sie mit Ellenbogen und Stößen versuchten, sich einen guten Blick auf den Coroner und die Zeugen zu verschaffen.

Eine amtliche Untersuchung als solche war kein allzu spannendes Ereignis. Man hatte derartige Veranstaltungen schon in Bodmin abgehalten, ohne dass sie in den Köpfen der Bewohner Neugier oder Erregung verursacht hätten. Aber für die heutige Untersuchung interessierten sich alle. Wer wusste schon, welches Rätsel – welche Geschichte von Falschheit und Lüge – diesem traurigen, seltsamen Todesfall vorausgegangen war? In dem Bericht hatte es geheißen, die Tote sei Ausländerin, was dem Geheimnis einen noch tiefgründigeren Anstrich gegeben hatte. Warum war sie an diesen Ort gekommen, um sich das Leben zu nehmen? Oder wer hatte sie hierher gelockt, um sie zu ermorden? Das waren die Fragen, die in Bodmin an diesem schönen Julimorgen freimütig erörtert wurden; Fragen, die verschiedene kluge oder abstruse Theorien hervorbrachten, von denen jede für ihren Erfinder die plausibelste Erklärung für dieses dunkelste Rätsel der Menschheitsgeschichte zu sein schien.

„Wenn jemand Licht in die Angelegenheit bringen kann, dann Squire Heathcote“, sagte Mr. Bate, Gemüsehändler, Kolonialwarenverkäufer und Kirchenältester.

Edward Heathcote war einer der beliebtesten Männer im Umkreis von zehn Meilen um Bodmin, ein Sohn der Gegend und in der Nachbarschaft seit Kindertagen bekannt. Er entstammte einem Geschlecht, das in hohen Ehren gehalten wurde und in vergangenen Tagen viele berühmte Männer mit Schwert und Mantel hervorgebracht hatte. Den Heathcotes, so hieß es, lagen Ehre, Mut und alle großzügigen Gefühle im Blut. Er hatte ein kleines Landgut geerbt und dazu ein schönes altes Herrenhaus, in dem seine Vorväter von Generation zu Generation gelebt hatten. Schon im tiefsten Dunkel der entfernten Vergangenheit hatte es Heathcotes in der Gegend gegeben. Deshalb und obwohl er im Vergleich zu Julian Wyllard keineswegs ein reicher Mann war, stand er in der Wertschätzung der guten alten Konservativen, für die Geld nicht alles ist, höher als dieser. Mr. Wyllard war ein Zugereister: Er hatte Penmorval erst kurz vor seiner Eheschließung gekauft – diesen Teil der Welt hatte er nicht aus eigener Neigung als Wohnort gewählt, sondern weil Theodora Dalmaine ihn liebte. Man wusste, dass er sein Geld zum größten Teil selbst verdient hatte – was für einen Mann ordinär war. Selbst Geschäftsvermögen werden gepriesen, wenn sie über drei oder vier Generationen vom Vater zum Sohn geflossen sind. Obwohl er also die wichtigste Persönlichkeit in der Gegend war und durch das Recht des kürzlichen Kaufs zum Landadel gehörte, blickte manch einer auf Julian Wyllard als Parvenu herab, und manch einer hatte etwas dagegen, dass sein Reichtum ihm in den lokalen Angelegenheiten ein so großes Gewicht verschaffte.

Der Squire Heathcote galt als der beste Coroner, der dieses Amt in Bodmin seit den Erinnerungen der ältesten Einwohner innegehabt hatte. Seine juristischen Erfahrungen waren breiter gefächert als die eines durchschnittlichen Provinzanwalts. Er hatte seine Fähigkeiten in die Dienste einer bekannten Londoner Kanzlei gestellt, war viel gereist und hatte zahlreiche Menschen und Städte kennen gelernt. Er war unter vielfältigen Bedingungen mit seinen Mitmenschen in enge Verbindung getreten; und man sagte, er sei ein hervorragender Menschenkenner sowie ein unparteiischer, klarsichtiger Richter. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er einen Scharfsinn an den Tag gelegt, wie man ihn bei einer Leichenschau auf dem Land selten antrifft; und er hatte mehr als einen verknoteten Faden entwirrt. Deshalb war man sich einig: Wenn irgendjemand das Rätsel um das Schicksal des toten Mädchens lösen konnte, dann war Squire Heathcote der richtige Mann.

Als er seinen Platz am Kopf des langen Tisches im Vital Spark einnahm, hätte sein Benehmen stiller und zurückhaltender nicht sein können; aber in dem düsteren Feuer der tief liegenden grauen Augen und auch in den nervösen Bewegungen der sonnengebräunten Hand, die mit dem dunkelbraunen Bart spielte, standen Anzeichen von Furcht oder Gefühl. Er setzte sich, sah einige Minuten auf seine Notizen, hob dann langsam den Blick und ließ ihn durch den gut gefüllten Raum schweifen.

Julian Wyllard saß nicht weit vom entgegengesetzten Ende des Tisches, neben sich den kleinen Dr. Menheniot. Bothwell Grahame hatte einen Platz weiter weg in der Nähe der Jury eingenommen. Er sah nach Mr. Heathcotes Einschätzung abgespannt aus wie ein Mann, der eine unruhige Nacht hinter sich hat.

Anwesend waren auch drei oder vier Eisenbahnbeamte, und sie waren die wichtigsten Zeugen. Als Erster war der Schaffner des Zuges von Paddington an der Reihe; seine Aussage war mager: Anscheinend hatte er nur gesehen, wie das Mädchen einen Augenblick auf dem Trittbrett gestanden hatte, bevor sie abstürzte. Sie stand auf dem Trittbrett und hielt sich, das Gesicht zum Wagen gewandt, an dem Handgriff fest; es schien, als würde sie mit jemandem im Wageninneren sprechen. Für ihn hatte es nicht den Anschein, als hätte sie sich selbst von dem Trittbrett gestürzt. Es hatte eher so ausgesehen, als wäre sie hinausgestoßen worden.