Der Hügel

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Der Hügel
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Martin Renold

Der Hügel

Vierzehn Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Hügel

Vater Konrad und seine Kinder

Was Hänschen gelernt…

Als der Laptop kaputtging

Ein Tag aus dem Leben eines Heimkehrers

Heimkehr

Stumme Worte in der Nacht

Jahre der Liebe

Mo

Die Klause

Das Ungeheuer von Bomarzo und die Sphinx von San Michele

Flurina

So ein Zufall

Francesca und Paolo

Impressum neobooks

Der Hügel

Arthur Eigenmann sitzt am Fenster seiner kleinen Wohnung am Rande der Stadt und schaut hinaus auf jenen Hügel, den er schon vor achtzig Jahren vom Schlafzimmer in der Wohnung seiner Eltern aus gesehen hatte. Sein Blickfeld war damals etwas weiter gewesen. Ein höherer Hügel südlich bot sich ebenfalls seinen Augen dar; dazwischen vorgelagert – die Senke der beiden Hügel in ihrem Schnittpunkt überdeckend –, wölbte sich die Rundung einer kleinen Erhöhung, auf deren Zenit sich eine Linde über den Horizont in den Himmel erhob. Dieses Bild hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Er trug es sein ganzes Leben lang in sich. Obwohl er in seiner Jugend keinen der beiden breit ausladenden Hügel je bestiegen hatte, bedeuteten sie für ihn Heimat, Geborgenheit. Sie grenzten ihn damals als kleinen Jungen ab von der dahinterliegenden unbekannten Welt. Erst jetzt drängt sich dem alten Mann das Bild auf: Die Hügel links und rechts sind wie Mutter und Vater, dazwischen die Linde, er als das von den beiden behütete Kind.

Dieses Symbol galt für damals, nicht für jetzt. Die Linde sieht er nicht von seiner Klause aus, den höheren Hügel ohnehin nur im Herbst und Winter, wenn die Blätter von den Bäumen beim nahen Schulhaus gefallen sind. Dann kann er durch die kahlen Äste hindurch einen Teil des langen Rückens sehen. Als er nach 54 Jahren in den Ort seiner Jugend zurückgekehrt war und eine Wohnung suchte, hatte er sich sofort daheimgefühlt, als er aus dem Fenster geschaut hatte und „seinen“ Hügel sah, näher als früher, doch unverändert, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Diese Wohnung wollte er, keine andere. Schon am nächsten Tag rief ihn die Verwaltung an, er bekomme sie, er könne sie sofort beziehen.

Drei Wochen später zog er ein. Er stellte seinen Schreibtisch so vors Fenster, dass er von ihm aus den Hügel sehen kann Es vergeht kein Tag, an dem er zu Hause ist, ohne dass er auf diesen Hügel schaut, am Morgen, wenn die Sonne lange Schatten von den Wäldern auf die Wiesen wirft, am Abend, wenn sich der Hügel rötlich färbt, im Herbst, wenn der Nebel vom Tal heraufdrängt und zu den paar Bauernhöfen hinaufsteigt und allmählich den ganzen Hügel verschwinden lässt.

Er kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum ihn dieser Hügel so bezaubert. Ist es die Erinnerung an seine Jugend oder einfach die schöne Form seines Rückens, die kleinen Wälder am Horizont und am Abhang, die dunkel aus der hellgrünen Wiese herauswachsen, das Spiel der Schatten am Morgen und am Abend? Immer wieder verändert sich der Hügel, mal leuchtet er in der Sonne, mal verliert er seine beruhigenden grünen Farben und wird grau, wenn schwarze Wolken ihn verdüstern.

Manchmal, wenn er ihn lange anschaut, ohne dass er dabei etwas denkt, ist es wie ein Meditieren. Ein andermal wieder denkt er nach über seine Vergangenheit, sein in mancher Hinsicht bewegtes Leben.

Kürzlich sind ihm bei einer solchen Betrachtung einige Gedanken, Verse eingefallen, die er zu einem Gedicht geformt hat:

Mein Hügel

Ein breiter, sanfter Hügelrücken,

bedeckt von Wald und grünen Matten,

und wenn die Sonn am frühen Morgen

dem Horizont entlang die Wipfel streift,

dann wirft sie lange, schräge Schatten,

und alle nächtlich, dunklen Sorgen

und alle bösen Traumgespenster

verwandeln sich in ein Entzücken,

das meine Seele still ergreift,

wenn ich durch meiner Klause Fenster

auf dich im Morgenglanze schau. –

Doch manchmal, statt des Himmels Blau,

steigt Nebel aus dem tiefen Tal

und legt sich um dich wie ein Schal

aus feinstem undurchsichtigem Gewebe.

Und abends, wenn den Blick ich hebe,

der Sonne Glanz auf deinen Rücken fällt,

das Licht sich spiegelt in den Scheiben

von einem Wohnhaus oder Stall

– und tiefe Ruhe überall –

und auf dich legt das Abendrot,

dann wünscht ich, dass auf dieser Welt

ich könnt noch eine Weile bleiben,

– zum Gehen ist ja keine Not.

Jetzt sitzt er am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster zum Hügel, und das Gedicht kommt ihm wieder in den Sinn. „Zum Gehen ist ja keine Not“.

Nein, er möchte noch eine Weile leben, noch ein paar glückliche Jahre. Doch wozu? Ja, er hat eine Freundin, die er seit mehr als einem halben Jahrhundert liebt. Vor vier Jahren hat er sie wiedergefunden. Seit einer Ewigkeit hat er sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Für sie möchte er noch ein paar geschenkte Jahre auf dieser Erde bleiben können, mit ihr noch manches Mal auf den Hügel steigen, mit ihr die Schönheit der Natur bewundern, auf das weite Land und den See hinausschauen.

Aber was hat er in dem Jahr, das bald zu Ende geht, getan, geschaffen, das wert wäre, sein Leben zu verlängern, außer ein paar Gedichten? Nichts. Er ist Schriftsteller – so steht es wenigstens im Internet. Dort kann man nachlesen, was er alles geschrieben hat: Gedichte, Erzählungen, Romane. Er hat nie von seinen Büchern leben können, er hat einen Beruf und zum Glück immer eine feste Stelle gehabt – als Angestellter in einem Verlag. Damit hat er Geld verdient für die Familie, später, als die Kinder groß waren und er sich von seiner Frau hatte scheiden lassen, für sich selbst. Und von dem verdienten Geld ist einiges an Druckkostenbeiträgen für seine Bücher draufgegangen. Denn welcher Verlag würde ohne die finanzielle Mithilfe die Bücher eines unbekannten Autors herausbringen?

Ja, seinerzeit, als er noch in der Stadt seiner Jugend wohnte, da gehörte er zum erlesenen Kreis der einheimischen Autoren. Er gehörte einem Zirkel junger Schriftsteller und Musiker an. Da galt er noch etwas. Seine Bücher, vor allem sein allererstes, eine Novelle über eine kleine Pension in Rom, die während des Zweiten Weltkriegs von deutschen Soldaten besetzt war, wurde gelobt und gelesen. Er hatte bei einer Lesung mit drei anderen jungen Schriftstellerkollegen einige Abschnitte daraus vorgetragen. Es war eine ansehnliche Zahl von literarisch Interessierten gekommen. Einige hatten nach der Lesung mit ihm gesprochen, Fragen gestellt und das schmale Buch gekauft. Er bekam sogar zusammen mit vier anderen Autoren für sein literarisches Schaffen einen sogenannten Aufmunterungs- und Anerkennungspreis der Stadt. Die tausend Franken waren mehr als das Doppelte seines damaligen Monatslohnes gewesen. Seither haben viele Dutzende diesen Preis bekommen: Autoren, Maler, Grafiker, Musiker. Sie alle, glaubt er, haben Besseres geleistet als er.

Als er aus beruflichen Gründen von der Stadt wegzog, warf ihm der Stadtpräsident Untreue vor. Man habe ihn mit einem Preis geehrt, und nun lasse er schmählich die Stadt, die ihn bekannt gemacht habe, im Stich. Hatte man auf ihn so große Hoffnungen gesetzt, dass man jetzt befürchtete, er könnte in Zukunft nicht mehr als Dichter dieser Stadt gelten, und eine andere Stadt würde sich mit seinem Ruhm schmücken? Als er daran denkt, gleitet ein Lächeln über sein Gesicht, das mehr Resignation als Genugtuung oder gar Freude ausdrückt.

Der Beruf, den er ergriff, um seine Frau und die drei Kinder, die rasch nacheinander geboren wurden, zu ernähren, nahm ihn so sehr in Beschlag, dass er in den ersten Jahren nur noch vier kleine Kindergeschichten schrieb und unter einem Pseudonym veröffentlichte. In dem großen Dorf, das er zur Wohnstätte gewählt hatte, war er unbekannt. Andere hatten das Sagen. Einige Kunstbeflissene, ein Arzt, ein Landwirt, beide Anthroposophen, ein Pianist und noch ein paar weitere Anthroposophen organisierten Gemäldeausstellungen und Konzerte. Arthur gehörte nicht zu diesem auserwählten Kreis. Er war zu bescheiden, um sich als Schriftsteller für eine Lesung aufzudrängen oder, wie man heute sagen würde, zu outen. Bei zwei weiteren Wohnungswechseln fühlte er sich als Autor noch viel einsamer. Niemand kannte ihn. Sein Name als Schriftsteller war, wenn er überhaupt einmal ein wenig geleuchtet hatte, verblasst und – so glaubte er – ganz in Vergessenheit geraten.

 

Einmal schien sein Name noch einmal aufleuchten zu wollen. Er hatte seine Stelle gewechselt. Der Verlag, in dem er arbeitete, hatte mit einem größeren fusioniert. Stellen wurden abgebaut. Arthur hatte noch zuvor selber gekündigt. Mit dem Verlag hatte er sich so verbunden gefühlt, dass er sich nicht vorstellen konnte, in der neuen Firma mit neuen Leuten zusammenarbeiten zu können. Er hatte es im alten Verlag während beinahe zwanzig Jahren mit vielen Menschen zu tun gehabt, nicht nur mit Autoren, die ihn schätzten. Nur einer war misstrauisch gewesen, weil er keine akademische Ausbildung besaß. Arthur musste eines seiner Manuskripte lesen und korrigieren. Da stieß er auf einen peinlichen Fehler. Der Autor hatte das Zitat „Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“ Heinrich Pestalozzi zugeschrieben. Arthur ersetzte den Namen durch Jeremias Gotthelf. Er machte den Autor auf das Versehen aufmerksam und konnte ihm sogar sagen, bei welchem eidgenössischen Schützenfest Gotthelf diesen Ausspruch in seiner Festrede getan hatte. Von da an stieg seine Achtung bei diesem Autor gewaltig. Doch viele Menschen, mit denen er ebenfalls zu tun hatte, waren einfache Leute ohne große Schulbildung. In der Spedition hatte es immer viele Wechsel gegeben. Da waren komische Käuze, notorische Lügner und kleine Diebe, Faulpelze und Angeber gewesen. Einmal hatte er in einer kleinen Abendgesellschaft von diesen Sonderlingen und Originalen so lustig erzählt, dass ihn jemand aufgefordert hatte, diese Geschichten aufzuschreiben. Er hatte vorher gar nicht an so etwas gedacht. An der neuen Stelle – als ihn ein Verleger aufsuchte, der seine Kindergeschichten kannte und von ihm gerne ein Kinderbuch herausgegeben hätte – erinnerte er sich an die lustigen Geschichten. Ein Manuskript für ein Kinderbuch konnte er dem Verleger nicht anbieten, aber die Geschichten von all den Originalen wollte er gerne überarbeiten und ergänzen, manche Geschichte ein wenig verfremden und mit einer Pointe versehen. Dem Verleger gefiel dieser Gedanke. Arthur machte sich voll Eifer und auch mit einer Portion Heimweh an den alten Verlag daran, die Geschichten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Es wurde ein witziges Buch, doch der Verleger, ein humorloser Mensch, pries es nicht als amüsante Lektüre, sondern sachlich trocken als Erinnerungen eines Verlagsleiters an, womit er natürlich nicht die Leser hinter dem Ofen hervorlocken konnte, die Arthur sich für sein Buch gewünscht hätte. Es blieb bei der ersten kleinen Auflage, obwohl später noch oft von den früheren Lesern bedauert wurde, dass das Buch, das sie gerne dem einen oder anderen Freund oder Bekannten im Spital oder bei einer anderen Gelegenheit zur Aufmunterung geschenkt hätten, nicht mehr käuflich war.

Im neuen Verlag, in dem Arthur nun arbeitete und der nebst einer Zeitung und mehreren Zeitschriften auch Bücher herausbrachte, wurde es von höchster Stelle nicht gerne gesehen, dass er seinen engsten Mitarbeitern von dem Buch erzählte und bald eine Bestellliste in Arthurs Abteilung herumgereicht wurde. Keiner der Angestellten sollte über die anderen durch irgendeine Leistung, sei sie literarischer oder künstlerischer Art, herausragen. Das würde nur Neid und Missgunst hervorrufen. Immerhin war er nun auch seinen Vorgesetzten als Schriftsteller bekannt geworden, und sie waren froh, ihn für den Text von zwei erfolgreichen Sachbüchern und für den Leittext zum jährlich erscheinenden Jahreskalender betrauen zu können. Doch für Erzählungen oder gar Romane fehlte ihm nicht nur die Zeit und die Muße – sondern auch die Muse.

Bei weitem war Arthur nicht das zurückgebliebene Kind, wie seine Eltern befürchteten, als er mit drei Jahren nur undeutlich sprach und oft zornig wurde, wenn ihn niemand verstehen wollte. Das änderte sich bald, und zwei Jahre später überraschte er eines Tages seine Mutter, als er auf einmal – wie wenn plötzlich aus einem verstopften Brunnenrohr Wasser heraussprudelt – ziemlich fließend aus einer Zeitschrift vorlas. Niemand hatte ihm das Lesen beigebracht.

„Woher kannst du auf einmal lesen?“, fragte die Mutter verwundert.

„Weißt du“, antwortete er, „jedes Mal, wenn ich mit dir einkaufen ging und dich nach den Straßennamen oder den Namen der Geschäfte fragte, habe ich mir die Buchstaben, die auf den Firmenschildern standen, gemerkt. Jetzt habe ich alle beisammen und kann alles lesen.“

Dass er auch alle Zahlen kannte und rechnen konnte, war nur selbstverständlich.

Sein Geburtstag fiel so ungünstig, dass er erst mit sieben Jahren die Schule besuchen durfte. In den Kindergarten gingen nur jene Buben und Mädchen, deren Mütter in einer Fabrik arbeiteten. Arthur wäre gerne zur Schule gegangen. Er sehnte sich danach, doch wie es so ist mit der Sehnsucht, wie größer sie ist, umso langsamer gehen die Tage und Monate dahin.

Alles, was dann in der ersten Klasse gelehrt wurde, konnte Arthur bereits, so dass er oft, ohne die Aufmerksamkeit zu verlieren, gelangweilt seinen Blick zum Fenster hinausschweifen ließ, wo er den weißen Wolken am Himmel zuschaute, wie sie sich bewegten und veränderten, Gesichter oder seltsame Tiergestalten bildeten. Ein Baum wuchs auf dem Schulhof nicht, in dem er die Vögel von Ast zu Ast hätte hüpfen sehen können. Nur manchmal setzte sich eine Blaumeise oder ein Buchfink auf den Fenstersims. Dann beneidete er sie um ihre Freiheit, denn die Zeit, die er im Schulzimmer verbrachte, schien ihm nutzlos zu verstreichen. Wenn ihn der Lehrer aufrief, ein oder zwei Worte im Lehrbuch zu lesen, las er dies ohne zu stocken und langweilte sich danach weiter.

In der zweiten Klasse rief der Lehrer ihn einmal am Ende eines Schulquartals nach vorne.

„Arthur, komm, setz dich hier auf mein Pult!“

Arthur sah, dass dort ein Buch aufgeschlagen war.

„Weil es die letzte Stunde vor den Ferien ist“, sagte Lehrer Kobler, „wird euch Arthur jetzt eine kleine Geschichte vorlesen.“

Ein wenig schüchtern, aber doch stolz, stieg Arthur aufs Podest und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst sein Lehrer saß. Er schaute auf seine Mitschüler hinunter, nicht hochmütig, sondern ganz erstaunt über die neue Perspektive, und dann begann er zu lesen.

Weder am Ende dieser Stunde, als sie auf den Schulhof strömten, noch nach den Ferien hatte Arthur das Gefühl, dass seine Mitschüler, zwanzig Buben und zwanzig Mädchen, wegen dieser Bevorzugung durch den Lehrer eifersüchtig waren oder ihn hänselten und plagten, wie das leider oft bei Schülern vorkommt, die sich durch Strebertum oder sonst eine Besonderheit hervortun. Im Gegenteil, er selbst hielt sich nicht für etwas Besseres, und auch seine Kameraden behandelten ihn als Ihresgleichen. Nur das eine oder andere Mädchen begann ihn still zu verehren, und eines der Mädchen wollte unbedingt am Kinderfest mit Arthur zusammen fotografiert werden, natürlich mit der Fahne, die Arthur im Umzug der Klasse vorausgetragen hatte.

Arthur musste doch auch das eine oder andere Mal einen Verweis des Lehrers entgegennehmen, doch nur, weil er da oder dort einen Buchstaben oder eine Zahl unsauber oder gar unleserlich hingeschrieben hatte. Doch dies betrachtete er nicht als Fehler. Wenn alles andere stimmte, war ihm dies egal.

So gingen die ersten drei Schuljahre problemlos vorbei. Für die nächsten drei Schuljahre wechselten die Buben in ein anderes Schulhaus und bekamen nicht nur einen neuen Lehrer, sondern auch zwanzig neue Mitschülerinnen. Man könnte sagen, Arthur sei auch hier ein Musterschüler gewesen. Er selbst hielt sich allerdings nicht dafür. Doch während die anderen Kinder, Buben wie Mädchen, oft sogenannte Tatzen, Streiche auf die Hand mit einem Rohrstöckchen, bekamen, blieb Arthur während all der Jahre davon verschont. Ein einziges Mal hatte der Lehrer ihn an den Haaren hinter den Ohren gezerrt, weil er seinem Banknachbarn etwas zugeflüstert hatte, während der Lehrer etwas erklärte. Unglücklicherweise war der Lehrer gerade hinter ihm gestanden. Das ist wie beim Fußball, wenn der Schiedsrichter nahe beim Spieler steht, wenn der gerade ein Foul verursacht, das einen Penalty zur Folge hat. Die Rüge schmerzte Arthur mehr als das Haarezupfen. Auch bei Lehrer Fink war er der beste Schüler. Er lernte schnell. Ein Gedicht mit mehreren Strophen musste er nur zweimal anschauen, dann konnte er es auswendig hersagen. Keiner konnte so schnell Deklinieren und Konjugieren wie er, die Diktate schrieb er fehlerlos, und im Kopfrechnen war er meistens der Schnellste.

In der fünften Klasse floss sozusagen zum ersten Mal Blut durch seine dichterische Ader. Zu Weihnachten überraschte er seinen Lehrer mit einem Weihnachtsstück, das er geschrieben und mit einigen seiner Mitschüler einstudiert hatte. Es muss allerdings gesagt werden, dass dieses kleine Weihnachtsspiel nicht ganz seiner Fantasie entsprungen war. Er hatte die Geschichte in einem Kalender gelesen und für die Aufführung am letzten Schultag vor Weihnachten dramatisiert.

Der Lehrer war des Lobes voll. Dass einige Mädchen auch in dieser Klasse Arthur bewunderten und sich verliebten, erfuhr er erst viele Jahre später bei einer Klassenzusammenkunft. Dabei erzählte ihm auch Albert Schwendener, der früher immer sein Intimfeind und Plagegeist gewesen war, mit Stolz, er habe bei der letzten Klassenzusammenkunft, bei der Arthur nicht dabei gewesen war, jene Schnitzelbank vorgelesen, die er, Arthur, für die Abschlussfeier am Ende der sechsten Klasse verfasst habe. Woher Albert den Text hatte, wusste Arthur nicht. Doch als er daheim das alte, vergilbte Blatt nach langem Suchen fand und die Verse zu lesen begann, wurde ihm mulmig zumute, einerseits, weil er sie schlecht fand, anderseits aber auch, weil er eines der Mädchen – sie war die Dickste und auch nicht gerade die Intelligenteste gewesen – etwas unfreundlich, um nicht zu sagen, beleidigend dargestellt hatte, worüber er sich nun nachträglich schämte. Er hoffte nur, dass dieses Mädchen nicht bei der Klassenzusammenkunft dabei gewesen war. Das war normalerweise nicht seine Art gewesen, dass er die Mädchen verachtet hätte, schon damals nicht. Im Gegenteil, er hatte sich immer auf die Seite der Mädchen gestellt, wenn ihnen die Buben im Winter Schneebälle nachwarfen oder sie beleidigten oder hänselten.

Charmant war ein Wort, das Arthur erst später kennen lernte. Aber Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit lernte er vor allem von seiner Mutter. Wenn auch manche Nachbarn sie für stolz oder streng hielten, weil sie jedem Getratsche auf der Straße aus dem Wege ging, war sie doch eine warmherzige und liebevolle Frau, die andere Menschen achtete und von jenen, die sie besser kannten, geschätzt und geliebt wurde.

Arthur war nicht in dem Haus geboren worden, in dem er seine Jugend verbrachte und aus dem er jeden Tag von seinem Schlafzimmer aus auf jene Hügel schaute, hinter denen oft der Vollmond aufging, was in Arthur schon damals romantische Gefühle erweckte.

Es war ein ganz gewöhnliches graues Haus mit vier Stockwerken und einem Giebel und ohne Balkon. Sein Grundriss war quadratisch, und hätte es den Giebel nicht gehabt, hätte es ausgesehen wie ein abgesägter Turm. Es stand an einer damals verkehrsarmen Nebenstraße – die hauptsächlich sein Spielplatz war –, parallel zu der Hauptstraße, die in die nächste kleinere Stadt führte. Die Eltern waren mit ihm und seiner Schwester in dieses Haus gezogen, als er drei Jahre alt war.

Das Haus wäre trotz der paar Kakteen, die Arthurs Vater auf die Simse vor den beiden Stubenfenstern gestellt hatte, schmucklos gewesen, wenn die Besitzerin, Frau Dubler, auf der Straßenseite nicht einen kleinen Rosengarten angelegt und in die Ecke ein kleines Gartenhäuschen gesetzt hätte, von dem eine Seite offen war, während die anderen drei Seiten, aus lichten Holzgittern bestehend, blendend weiß angestrichen waren. Innen lief an den drei Seiten eine Bank um einen kleinen Holztisch. Doch es waren wenige, glückliche Momente, an denen die Kinder in das Gärtchen treten durften, um im Gartenhäuschen zu spielen oder zu plaudern. Dies durfte nur geschehen, wenn Frau Dubler es erlaubte und sie in der Nähe war und die Kinder im Auge behalten konnte. Die Ballspiele mussten weiter oben oder weiter unten auf der Straße stattfinden, damit keine Rose von einem fehlgeleiteten Ball abgedrückt würde. Die Kinder hielten sich an diese Vorschrift und ließen die Bälle lieber in den Gemüsegarten der Nachbarin fallen, die darüber allerdings auch nicht erbaut war und oft einen Ball zurückhielt, bis eines der Kinder, meistens war es Arthur, hinging und sich entschuldigte.

Zum Eingang auf der Ostseite des Hauses führte ein schmaler zementierter Weg. An der Wand vor dem Eingang spross ein Pfirsichspalier.

 

„Arthur, da fehlt ein Pfirsich. Hast du oder ein anderes Kind den Pfirsich genommen?“, konnte es oft geschehen, dass Frau Dubler ihn ansprach, wenn er aus dem Haus trat und sie auf der Bank gegenüber dem Pfirsichbäumchen saß. Sie hatte immer ein wachsames Auge und sah es sofort, wenn eine Frucht fehlte. Vielleicht war der reife Pfirsich heruntergefallen. Arthur und alle anderen Kinder im Haus wussten, dass jeder auf dem Boden liegende Pfirsich der Frau Dubler gebracht werden musste. Anders war es mit dem Aprikosenspalier hinter dem Eingang. Der war grösser und trug im Sommer mehr Früchte. Hier durften alle abgefallenen Aprikosen von den Kindern aufgelesen und gegessen werden.

Frau Dubler fragte meistens Arthur nach den fehlenden Pfirsichen, weil sie von ihm eine wahre Antwort erwartete, während sie bei allen andern Kindern voraussetzte, dass sie schwindeln würden.

Arthur war ein schwächlicher Junge. Eine Quecksilbervergiftung hatte seinen Körper geschwächt und ihn an den Rand des Todes geführt. Noch mit achtzig Jahren erinnert sich Arthur, wie er als kleiner Bub auf dem Boden im Wohnzimmer saß und mit den silbernen Kügelchen auf dem Boden spielte, die aus dem zerbrochenen Fiebermesser gekollert waren, weil er den Arm gehoben hatte, unter den ihm die Mutter das Thermometer gesteckt hatte. Er erinnert sich auch noch, wie erschrocken die Mutter war, als sie aus der Küche zurückkam und wie sie rasch die Stube wieder verließ und mit Schaufel und Besen zurückkam und die Kügelchen zusammenwischte und sie wieder hinaustrug. Daran, dass sie mit einem Waschlappen zurückkehrte und ihm die Hände wusch, erinnert er sich allerdings nicht mehr, auch nicht an die vier Wochen, in denen er wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen gefüttert wurde. Erst wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und ihm die Hände und Füße festhielt, konnte ihm die Mutter die Nase zudrücken, damit er ein oder zwei Löffelchen Milch schluckte. Das war die einzige Nahrung während der ganzen Zeit, bis seine Verkrampfungen sich lösten und er wieder zu essen begann. Während seiner ganzen Jugendzeit aß er so wenig, dass seine Muskeln sich nur wenig entwickelten und er immer spindeldürr war. Viele Jahre später einmal, es war nach dem Krieg und während seiner Mittelschulzeit, als er bereits neunzehn Jahre alt war, als sie mit der Schule an einem Weiher badeten und er im Gras lag, als er hörte, wie ein kleiner Knabe zu seinem Kameraden sagte: „Schau dort, das ist einer aus einem Konzentrationslager.“ Es war jene Zeit, als man in allen Zeitungen die schrecklichen und Erbarmen erheischenden Bilder von den aus den Lagern befreiten Gefangenen sah.

Doch jetzt sind wir noch nicht so weit.

Der Krieg brach aus, als Arthur in der sechsten Klasse war. Auf dem Schulhof wurden die Soldaten vereidigt und auf den Straßen fuhren Panzerwagen vorüber an die Grenze.

„Der Krieg wird bald zu Ende sein“, erklärte Albert Schwendener siegesgewiss.

„Freu dich nicht zu früh“, meinte Peter Meile, „die Deutschen sind stark. Die haben viele Waffen und lassen sich nicht so leicht unterkriegen.“

„Meinst du, der Krieg dauere länger als bis Weihnachten?“, fragte Anna Bögli ängstlich.

„Ich weiß nicht, wie lange der Krieg dauert“, beschwichtigte sie Arthur. „Aber eines ist sicher, die Deutschen werden nicht gewinnen.“

Woher nahm Arthur diese Sicherheit? Sein Vater war ein politisch interessierter Mensch. Er hatte sich schon früh einige Schriften über den aufkommenden Nationalsozialismus gekauft und hörte am Radio alle Nachrichtensendungen, die man damals hören konnte. Das waren eigentlich nur der schweizerische und der deutsche. Er wusste von den Konzentrationslagern, die es damals schon gab und in die Sozialisten, Kommunisten, Zigeuner und Homosexuelle gesteckt wurden.

Arthur hörte diese Nachrichten mit, auch die Reden, die Hitler hielt. Für ihn war sicher, dass dieser Unmensch nicht siegen durfte. Ihm und seinen Kumpanen, auch seinem italienischen Freund Mussolini, die in den Zeitungen abgebildet waren – vom Fernsehzeitalter war man noch lange entfernt –, sah man doch schon von weitem an, was für miese Typen das waren. Was immer geschähe, am Ende würden die Alliierten siegen. Daran glaubte Arthur auch noch, als die deutschen Truppen halb Europa und den Norden Afrikas besetzt hatten. Und die Geschichte gab ihm schließlich Recht.

Arthur schaut zu dem Hügel. Im Italienischen, denkt er, ist der Hügel weiblich, la collina. Das tönt schön, rund, mütterlich. Das würde passen zu seinem Hügel, der wie ein weiblicher Bauch vor ihm liegt. Seine Mutter hätte gelacht, wenn sie gewusst hätte, dass Arthur sie mit dem Hügel in Verbindung brachte, und gesagt:

„Du dummer Bub, wie kommst du auch auf so komische Gedanken?“

Jetzt gehen seine Gedanken zurück zu dem Haus seiner Jugend. Er strengt sich an, es so zu sehen, wie es damals war mit dem Gartenhäuschen und dem Rosengärtchen, den Spalieren, aber auch mit den Fenstern in den kahlen Mauern. In der Nacht darauf träumt er. Er ist in dem Haus, in seinem ehemaligen Zimmer. In der Stube daneben sind Vater und Mutter. Die Schwester ist nicht da. Wie er zum Fenster hinausschaut, sieht er zwei düstere Gestalten auf der Straße vorüberschreiten. Todesangst ergreift ihn, schnürt ihm die Brust zusammen. Es sind deutsche Sol-daten, vielleicht auch SS-Männer. Ihm wird bewusst, dass die Schweiz von den deutschen Heeren besetzt worden ist. Die beiden Männer haben ihn gesehen. Sie kehren um und treten auf das Haus zu, er muss fliehen. Er warnt seine Eltern und klettert, er der sein Leben lang unter Höhenangst leidet, aus einem Seitenfenster und gleitet an der kahlen Wand – hier gibt es kein Spalier – hinab. Er weiß, auch seine Eltern haben sich irgendwie in Sicherheit gebracht. Dann erwacht er – nass vor Schweiß.

Arthur ist kein Psychologe. Ein solcher würde wahrscheinlich viel aus diesem Traum herausdeuten. Er denkt einfach, dass er bei seinen Gedanken am Vorabend den Krieg, die Angst, die damals vor einem Einmarsch deutscher Truppen stets gegenwärtig in ihm war, verdrängt hatte und in diesem Traum wieder aus seinem Unterbewusstsein auftauchte.

Der einzige Wunsch, den Arthur für Weihnachten in diesem ersten Kriegsjahr hatte, war ein Blatt Papier, nämlich das Anmeldeformular für das Gymnasium. Es war sein sehnlichster Wunsch, obwohl er wusste, dass es für seinen Vater nicht leicht sein würde, da in der Mittelschule nicht mehr wie in der Grundschule alle Bücher und Hefte und was man sonst noch an Materialien brauchte, kostenlos abgegeben wurden.

Arthur wusste, dass das Einkommen seines Vaters gerade reichte, um die Familie zu ernähren und Arthur und seine Schwester in den Sommerferien zu Verwandten in einem hundert Kilometer entfernten Dorf am Rande des Juras zu schicken. Manchmal musste die Mutter sogar auf die Kantonalbank gehen, wo sie ein Sparbüchlein deponiert hatte, auf dem zwei- oder dreitausend Franken lagen, die sie von ihrer Mutter vor langer Zeit als „Notpfennig“ bekommen hatte. Dann hob sie 20 oder 50 Franken ab, um die neuen Hosen für Arthur oder einen Mantel für seine Schwester zahlen zu können. Das meiste an Kleidern schneiderte sie jedoch selbst.

Auch für das Abonnement einer Wochenzeitschrift mit einer angeschlossenen Unfallversicherung und 100 Franken Sterbegeld reichte es noch. Arthurs Mutter las gerne. Doch die Lektüre bestand meistens nur in dem in Fortsetzungen erscheinenden Roman und den verschiedenen Artikeln in der Zeitschrift. Bücher holte die Mutter ab und zu in einem Bücherverleih. Doch auch das kostete jedes Mal ein paar Rappen. Arthur erinnert sich, dass nur drei Bücher immer auf dem Buffet lagen, von denen eines der Roman „Die Heilige und ihr Narr“ von Agnes Günthers war, das zweite hieß „Stine Menschenkind“ von Martin Andersen Nexö, und das dritte war ein Roman von Rösy von Känel. Die ersten zwei Bücher waren Geschenke, das dritte hatte sie gekauft, weil die Familie einen der dargestellten Romanhelden zufälligerweise selber kannte. Der Vater las, abgesehen von den paar wenigen politischen Schriften, ohnehin keine Bücher. Das wollte er sich auf die Zeit, wenn er pensioniert wäre, aufsparen.

Unter solchen pekuniären Voraussetzungen war es nicht selbstverständlich, dass Arthur das Gymnasium besuchen durfte, obwohl er der beste Schüler der sechsten Klasse der Grundschule war und Lehrer Fink seinen Eltern geraten hatte, ihren vielversprechenden Sohn in die Kantonsschule zu schicken, um ihm vielleicht einmal eine akademische Laufbahn zu ermöglichen, was auf Grund seiner Intelligenz durchaus möglich schien.