Die Großen und die Kleinen

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Die Großen und die Kleinen
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Martin Renold

Die Großen und die Kleinen

Begegnungen mit Menschen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Mein Patenonkel

Tante Frieda

Der Schwachsinnige

Die beiden Blinden

Die Französischlehrerin

Die abgeschminkte Schriftstellerin

Der Hohe Kommissar

Der große Theologe

Der deutsche Bundespräsident

Der Privatdozent

Der janusköpfige Redakteur und der Schundroman

Der gelehrte Schlossherr

Der zaubernde Schriftsteller

Der hoch geachtete Buchhändler

Der feinsinnige Dichter und Maler

Der ruhelose Poet

Der Auswanderer

Der verkannte Pianist

„Ein ehrlicher Mensch wie ich…“

Ein sonderlicher Appenzeller

Eugenli

Nino

Impressum neobooks

Mein Patenonkel

Er war der Größte. Ich war sehr stolz auf ihn; denn damals war ich kaum halb so groß wie er. Wir sagten, er sei zwei Meter groß. Aber ich glaube, das war übertrieben. Später, als ich erwachsen war und selber einen Meter neunzig maß, war er nicht größer als ich. Vielleicht war er ein wenig eingegangen. Aber gleich eine Handbreit?

In Wirklichkeit war sein Sohn, mein Cousin, eine Spur größer als er. Aber für mich war er dennoch der Größte.

Er hatte die Hand eines Riesen. Wenn er mir die Hand zum Gruß reichte, krümmte er seine vier Finger, von denen jeder einzelne stärker war als meine zarte Kinderhand. Ein Glück für mich, dass der Daumen fehlte. Ich glaube, seine Hand hätte meine glatt zerquetschen können.

Es war jedes Mal ein recht seltsames Gefühl, wenn meine schmale Hand in seiner breiten, kräftigen, daumenlosen lag. Den Daumen hatte er an der Maschinensäge verloren. Man muss wissen, dass mein Pate Schreiner war. Wenn meine Mutter, seine Schwester, ihm schrieb, dann setzte sie auf den Umschlag unter seinen Namen die Bezeichnung „Schreiners“ und den Ort. Das genügte. Das Dorf zählte damals keine dreihundert Einwohner, aber verschiedene Familien mit dem Namen Renold. Ich glaube, wenn an der Werkstatt meines Paten nicht die Anschrift „Bau- und Möbelschreinerei Renold“ geprangt hätte, wäre manch einer, der nicht selber auch ein Renold war, in Verlegenheit geraten, wenn man ihn nach dem richtigen Namen des „Schreiner „Walti“ gefragt hätte.

Den Daumen habe er fortgeworfen, in einen Sägemehlhaufen, erzählte er später. Er habe nur noch an einem Stück Haut gehangen, wie an einem Faden. Da habe er ihn abgerissen. Die hätten sonst im Spital weiß Gott noch versucht, ihn wieder anzunähen.

Main Pate hat mich schon im zartesten Kindesalter beschenkt. So weit reicht meine Erinnerung gar nicht zurück. Das Schaukelpferd und die hölzerne Eisenbahn gehörten jedenfalls schon immer zu meinen Requisiten auf den alten, vergilbten Fotos, die mein Vater mit seinem damals sicher modernen, aber nichtsdestoweniger umständlich zu handhabenden Fotoapparat geschossen hatte.

Die Eisenbahn bestand aus einer Dampflokomotive mit einem großen und einem kleinen Kamin und hinten offenem Führerstand, einem Kohlenwagen, einem ungedeckten Güterwagen und einem Personenwagen mit drei quadratischen Löchern als Fenster auf jeder Seite und einem schwarzen Deckel als Dach, den man abnehmen konnte. Die Lokomotive und die Wagen waren gelb angemalt. Postautogelb. Der Führerstand und die Wagen waren innen rot. Rot waren auch die Räder. Das Bähnchen war so groß, dass ich mich draufsetzen konnte, entweder auf das Dach des Führerstandes, wenn ich Lokomotivführer war und mit den Beinen schieben und den Zug in Fahrt bringen wollte, oder auf den Personenwagen, wenn ich als Passagier zu meinem Paten oder sonst wohin fuhr.

Meinen Spielkameraden erzählte ich stolz, dass mein Pate, der Schreiner, den Zug selber hergestellt hatte. Auch das Schaukelpferd. Ich ließ nur die allerbesten Freunde an die beiden Spielsachen. Nur ein einziger, verwöhnter Junge aus der Nachbarschaft, mit dem ich selten spielte, besaß etwas Vergleichbares: ein Milchfuhrwerk mit zwei Pferden, einem Milchmann und kleinen Milchkannen aus Blech. Doch sein luxuriöses Spielzeug, um das ihn außer mir alle Kinder beneideten, kam aus dem Warenhaus. Es war nicht selbstgemacht, und er hatte es nicht von einem Paten, sondern nur vom Christkind bekommen.

Mindestens einmal im Jahr, im Sommer, meistens aber auch noch im Frühling oder Herbst, fuhren wir nach Brunegg in die Ferien.

In der Schreinerei roch es betörend nach Holz und Leim. Am Boden lag Sägemehl, in einer Ecke ein ganzer Haufen. Dieser erinnerte mich immer an den abgerissenen Daumen. Überall standen halbfertige Möbelstücke herum: Betten, Kästen, Buffets, Vitrinen, Tische, Stühle. Große hölzerne Schraubklammern hielten die aufgeleimten Fourniere auf Bettumrandungen, Tischplatten und Kastentüren fest. Am Boden neben den Hobelbänken standen Leimkübel mit der braunen, zähen Flüssigkeit, die wir Honig aussah, aber einen berauschenden, gefährlichen Duft verströmte. Wir Kinder durften uns nie lange in der Werkstatt aufhalten.

Mein Pate hatte eine weiche, wohlklingende Stimme. Nie habe ich ein böses, lautes Wort von ihm gehört. Er sprach nie viel. Sein Gesicht, seine Augen strahlten Güte aus.

Wenn wir bei der Station auf der anderen Seite des Staatswaldes ausstiegen, der Zug mit der vorgespannten Dampflokomotive wieder abgefahren war und wir die Gleise überquert und die erste kleine Steigung im Wald hinter uns gelassen hatten, stand mein Pate meist in der Biegung am Rande der Straße, wo er auf uns wartete und uns die leichten Taschen abnahm. Die schweren Koffer holte nach Feierabend sein Sohn mit dem Auto am Bahnhof ab.

Ich weiß nicht, weshalb er nur selten die wenigen Schritte bis zum Bahnhof herunterkam, sondern sich hinter den Stämmen beinahe zu verstecken schien. Vielleicht wollte er uns überraschen. So, stellte ich mir vor, hatte er, der große Bruder, früher auf seine kleine Schwester, meine Mutter, gewartet, wenn sie als Mädchen mit dem Leiterwagen Gemüse und Beeren in die Konservenfabrik nach Lenzburg bringen musste. Das war eine bescheidene Nebeneinnahme für die junge Witwe, die in der Schreinerei ihres früh verstorbenen Mannes zum Rechten sehen musste und aus ihrem kleinen Kolonialwarenladen, in dem auch die Dorfbewohner einkauften, nicht nur die sieben Kinder, sondern auch noch eine Handvoll Schneidergesellen verköstigte.

Später hat mein Pate auf einem Stück Land außerhalb des Dorfes einen kleinen Stall gebaut, der gerade Platz für eine Kuh und allenfalls noch ein Kalb bot. Zuerst stand nur die „Brune“ darin. Manchmal spannte mein Patenonkel die Brune vor einen Heuwagen. Und dann durfte ich aufsitzen und mitfahren, durch das Dorf und auf der anderen Seite hinaus auf das „Feld“, wo er ebenfalls noch ein größeres Stück Wiesland mit Kirsch- und Apfelbäumen besaß. Dann rechten wir das Heu oder Emd zusammen, luden es auf und fuhren zum Stall zurück, wo mein Pate es mit der Heugabel schwungvoll in den kleinen Heuboden über dem Stall hinaufwarf. Besonders stolz waren Arthur, ein Pflegesohn, der für alle wie ein Sohn war, und ich, wenn wir allein mit der Brune und dem Wagen zum Grasen fahren durften.

Im Herbst gingen wir die Äpfel pflücken und auflesen. Einer der Bäume trug leuchtend gelbe Äpfelchen. Gelb wie mein Schaukelpferd und die Eisenbahn. Usteräpfel. Sie waren meine Lieblingssorte, weil sie so süß waren. Kamen wir im Herbst nicht in die Ferien, dann schicke mir der Pate immer eine große Schachtel voll in die Stadt. Auch als gekochte Schnitze oder gedörrt schmeckten sie wundervoll. In meiner Erinnerung gehören diese Apfel und mein Pate untrennbar zusammen.

Hinter der Schreinerei stand eine große Mostpresse. Wir hielten unsere Trinkgläser unter die Abflussröhre und tranken den trübgoldenen Most frisch ab der Trotte. Nur wenn die Bauern des Dorfes kamen, um ihr Mostobst zu pressen, durften wir nicht zugreifen. Aber im Speicher über der Werkstatt standen genug Korbflaschen voll süßen Mostes, und Tante Frieda stellte immer wieder volle Krüge auf den Tisch.

 

Noch später, als die Brune bereits gestorben oder den Weg zum Metzger gegangen war, baute mein Pate einen großen Stall gleich neben dem alten, kleinen, der nun noch viel keiner schien. Es war, als suche er unter dem riesigen Vordach des neuen Stalls Schutz und Halt.

Das Schreinern überließ mein Pate nun ganz seinem Sohn. Neben dem Stall errichtete er einen Futtersilo. Abends, wenn er nach Hause kam und sich mit seinen vom Silofutter säuerlich stinkenden Kleidern an den Tisch setzen wolle, schickte ihn Tante Frieda, die sonst die Liebe in Person war, ins Bad und ließ ihn nicht eher an den Esstisch, als bis er die übelriechenden Kleider ausgezogen hatte und gewaschen wieder herunterkam.

Dies war in all den Jahren jeweils der einzige Augenblick, in dem ich die beiden einen Ton sprechen hörte, der zwar kein Streit war, aber doch eine leise Uneinigkeit ausdrückte. Mein Pate versuchte offenbar immer wieder, sich am Küchentisch häuslich niederzulassen, um ein Glas Most zu trinken, sich ein Stück von dem selbstgebackenen Brot abzuschneiden und zumindest die Titel oder Schlagzeilen im „Echo vom Maiengrün“ zu lesen, ehe er sich ins obere Stockwerk ins Bad bequemte.

Ich muss zugeben, dass er einen saumäßigen Gestank verbreitete. Saumäßig ist genau das richtige Wort; denn das Silofutter stank tatsächlich wie jene Schweinemästerei, die etwas außerhalb unserer Stadt lag und an der wir oft auf unseren Spaziergängen mit den Eltern vorüberkamen. Mir tat er leid, wenn er dann etwas mürrisch von der Zeitung und vom Most ließ und folgsam die steile, knarrende Treppe hochstieg.

Mein Onkel hat seine Frau, die Tante Frieda, lange überlebt. Er wurde weit über neunzig Jahre alt. Meine Mutter, selber inzwischen Witfrau geworden, besuchte ihn oft für mehrere Tage oder Wochen, um seine Schwiegertochter zu entlasten, die neben ihrem eigenen Haushalt mit den Kindern und den Arbeitern der Schreinerei nun auch noch meinem Paten beim Ankleiden und Ausziehen helfen musste.

Noch in seinem hohen Alter war er ein großer, stattlicher Mann, ein Charakterkopf mit dichtem, wild wucherndem, schlohweißem Haar.

In der Nacht, als er starb, schlief sein Sohn im Bett neben ihm. Mein Cousin hatte gespürt, dass der mächtige Körper seines Vaters so schwach geworden war, dass er den Morgen kaum mehr erleben würde. Mitten in der Nacht erwachte er, hörte neben sich das gleichmäßige Atmen, das auf einmal aufhörte. Als er die Lampe anzündete, war das Licht eines friedvollen Lebens erloschen. Leise, wie er gelebt hatte, war der Mann, der für mich stets der größte war, aus diesem Leben hinübergegangen in die andere Welt.

Tante Frieda

Sie war die kleinste meiner Tanten. Aber sie hatte eine große Seele und ein großes Herz. Sie war die Frau meines Patenonkels. Neben seiner großen Gestalt wirkte sie noch kleiner, als sie an sich schon war. Sie hatte eine mollige, mütterliche Figur. Es schien fast unglaublich, dass ihrem Leib ein Sohn entsprossen war, der einmal die Größe seines Vaters überbieten würde.

Die Stimme von Tante Frieda war melodiös und süß wie Honig, aber nie süßlich. Sie klang bestimmt und ehrlich. Ich habe Tante Frieda selten ohne Arbeit gesehen. Vielleicht abends, wenn sie auf der Kaust, der Ofenbank, in der Stube saß und im „Echo vom Maiengrün“, im „Gelben Heftli“ oder im Eulenspiegelkalender las. Arbeit gab es ja genug. Sie hatte für eine große Familie zu sorgen. Nebst Gatte und Sohn war da noch ein Pflegekind, Arthur. Mein Cousin war zwölf Jahre älter als ich. Arthur, den sie als kleinen Jungen angenommen hatten und wie ein eigenes Kind liebten, war gleich alt wie ich. Zum Mittagessen kamen immer auch ein paar Arbeiter aus der Werkstatt herauf. Im Nachbarhaus, das durch die angebaute Werkstatt mit dem neueren Haus meines Paten verbunden war, lebte noch die Großmutter. Als diese gestorben war, versorgte Tante Frieda auch noch den Kolonialwarenladen, der nicht größer als ein kleines Zimmer und ursprünglich wohl auch nichts anderes als ein Schlafzimmer gewesen war. Mehrmals am Tag, wenn jemand an der Glocke zog, musste Tante Frieda von der Arbeit in der Küche oder im Garten weglaufen und hinüber, die steile, ausgetretene Treppe hoch, durch den dunklen Korridor. Dann schloss sie die Tür zum Laden auf mit dem schweren Schlüssel, den sie immer in der Schürzentasche bei sich trug.

Einmal im Jahr wurde ein Schwein gekauft und auf dem Hof gemetzgt. Dann schickte sie uns in die Stadt ein paar Blut- und Leberwürste, die mein Vater so gerne aß und in die er, zum Ärger meiner Mutter, aber zur Belustigung von meiner Schwester und mir voll Freude und Lust mit den spitzen Zinken der Gabel stach, so dass das flüssige Fett in hohem Bogen wie ein Springbrunnen herausspritzte.

Vor dem Haus und dem Hof stand das Wasch- und Backhäuschen, wo Tante Frieda jede Woche einmal große Wäsche machte und das Brot für die ganze Familie und die ganze Woche buk. Auch die Kuchen, je nach Jahreszeit Kirschen-, Apfel- oder Rhabarberkuchen und jedes Mal auch Käse-, Spinat und Kartoffelkuchen mit Speckwürfeln drauf gehörten zu den Leckerbissen.

Ich weiß nicht, wo die kleine Tante Frieda all die Kraft hernahm, um die große Familiengemeinschaft und den Haushalt zu versorgen. Es waren ja meist nicht nur der Gatte, die beiden Kinder und die Arbeiter. Da war über eine gewisse Zeit hinweg auch ein junges Mädchen, das vom eigenen Bruder geschwängert worden war und ein Kind bekommen hatte, das man ihm wegnahm und in ein Heim steckte. Das Mädchen aber, zu dessen Vormund mein Pater bestellt worden war, nahm Tante Frieda selbst in ihre Obhut. Und es war ihr wohl eher eine Last als eine Hilfe.

Und dann kamen immer wieder die vielen Besuche und Feriengäste. Wir waren oft nicht die einzigen. Einmal weilten zwei Cousinen meiner Mutter mit uns im Haus. Längere Zeit lebte auch ein Freund meines Cousins hier, und die Lehrerin des Dorfes hatte sich eingemietet und gehörte gleichfalls zur Familie. Oder dann traf man auch die Verwandten aus Rom oder gar Amerika, für die jederzeit ein eigenes Zimmer bereit und offen stand, in das sie oft unangemeldet sogar mitten in der Nacht Einzug hielten. Und als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, tauchten sie dann am Morgen zum Frühstück auf. Trotzdem gab es nie Platznot. Wer im Haus meines Paten keinen Unterschupf fand, wurde drüben bei der Großmutter einquartiert.

Es muss allerdings gesagt sein: Ohne eine Hilfe im Haushalt wäre dies alles nicht möglich gewesen. Wer hätte geschaut, dass die Milch oder die Suppe nicht überquoll und die Kartoffeln nicht anbrieten, wenn Tante Frieda durch das Glockengebimmel in den Laden hinübergerufen wurde? Wer hätte all die Schuhe und Kleider gereinigt, die Wäsche geglättet? Wer die Küchenkräuter aus dem Garten geholt?

Die Hilfe – ich erinnere mich an sie, seit ich gehen, reden und denken kann –, das war Lydia. Sie war schon immer da. Sie besaß kein Alter. Für mich war sie all meine Jugendjahre hindurch immer gleich alt oder gleich jung. Wir Kinder fürchteten sie. Sie war eine große, stämmige Frau. Wenn sie ihre Wutausbrüche hatte, stellten wir Kinder uns vor, dass sie ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, Tante Frieda in die Höhe zu stemmen und sie zum Fenster hinaus oder in eine Ecke der Küche zu werfen. Lydia war stumm. Sie hatte eine krächzende Stimme, mit der sie nur ein paar Urlaute hervorbrachte. Aber sie war eine ausgezeichnete Köchin. Wenn wir sie in der Küche antrafen, durch die uns der Weg in die Schlafzimmer im oberen Stockwerk führte, schlichen wir möglichst schnell und unauffällig an ihr vorbei. Wenn sie mit dem scharfen Küchenmesser in der Hand über den Hof lief, um im Garten Petersilie oder Schnittlauch abzuschneiden, suchten wir das Weite. Nicht ohne Grund. Denn Lydia war nicht selten eine Furie. Wir hörten auf dem Hof ihr Geschrei, das aus der Küche durchs offene Fenster zu uns herunterdrang, wenn sie auf Tante Frieda losschimpfte. Oder dann schlug sie das hölzerne Fleischbrett auf die Tischplatte, dass es nur so knallte. Einmal sah ich sie am Küchentisch sitzen, den Kopf auf die Tischplatte schlagend und herzzerreißende Jammertöne von sich gebend. Ich weiß nicht, ob sie aus Wut oder Trauer weinte. Ein andermal sah ich, wie sie meine Tante zu irgendetwas erpressen wollte, indem sie drohte, sich die Finger mit dem Fleischermesser abzuhacken.

Ich verstand nie, was sie wollte. Die lauten Vokale, die sie ausstieß, formten sich nie zu Worten. Sie war für mich wie ein wildes, unberechenbares Tier, eine Löwin oder ein Tiger, der einen plötzlich anspringen und zerfleischen konnte.

Doch Tante Frieda war ein Engel. Sie besaß eine wahre Engelsgeduld. Sie war die Einzige, die Lydia verstand. Wenn Lydia mit dem blanken Fleischmesser auf Tante Frieda losging, bewahrte sie die Ruhe. Wie ein Mensch, der einem fremden, kläffenden Hund entgegentritt, ging sie auf Lydia zu, redete mit ruhiger Stimme auf sie ein und nahm ihr das Messer aus der Hand.

„Geh, leg dich hin!“, sagte sie dann. „Ruh dich aus! Schlaf ein wenig.“

Und Lydia ging in ihre Kammer, murrend zwar, aber doch folgsam. Und Tante Frieda machte die Arbeit in der Küche oder im Garten allein, bis Lydia ihren Tobsuchtsanfall ausgeschlafen hatte.

Einmal, es war während des Zweiten Weltkriegs, waren die „Römer“ gekommen. Diesmal wohnten sie allerdings im Nachbardorf bei Verwandten. Doch Margherita, die kleine Cousine meines Vetters, war zum Mittagessen gekommen und blieb bis in den Nachmittag hinein. Ich war Gymnasiast. Margherita war ein zierliches, fröhliches Mädchen. Wir spielten miteinander und neckten uns. Und ich verliebte mich bis über beide Ohren in das hübsche Geschöpf, das mir auch bei zwei weiteren Besuchen schöne Augen machte.

Ein paar Tage später reisten sie ab, zurück nach Italien, das gerade in diesen Tagen dem ehemals befreundeten Deutschland den Krieg erklärte.

Auch wenn ich glaubte, mir nichts anmerken zu lassen, spürte ich doch, dass Tante Frieda meine Liebe erkannt hatte. Sei schwieg, aber ihre Augen verrieten, dass ich meine Gefühle vor ihr nicht verbergen konnte.

Bei meinen späteren Aufenthalten in Brunegg wagte ich nie, nach Margherita zu fragen. Aber Tante Frieda verstand es immer, mich indirekt, in einem Gespräch mit meiner Mutter, dem ich zuhörte, oder am Mittagstisch über das Wenige, das sie aus dem besetzten Rom erfahren hatte, zu informieren. Und ich wusste, dass sie es meinetwegen erzählte und so, ohne sich direkt an mich zu wenden und mein Geheimnis zu verraten, meine Neugier stillte.

Als nach dem Krieg mein Cousin heiratete, brachte sie Margherita und mich für diesen Tag als Paar zusammen. Und später, als Margherita einen andern geheiratet hatte, erfuhr ich stets auf die gleiche rücksichtsvolle Weise vom Ergehen der kleinen Römerin, der über Jahre meine geheime, ungestillte und unerwiderte Liebe gegolten hatte.

Ich erinnere mich nicht mehr, woran Tante Frieda gestorben ist. Ihr Gedächtnis nahm ab. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Mein Patenonkel musste sie oft mitten in der Nacht ins Schlafzimmer zurückholen, wenn sie, nur mit dem Nachthemd bekleidet, aus Großmutters Haus, das sie nun bewohnten, ins andere Haus hinüber- oder in den Garten hinuntergegangen war.

Seit sie nicht mehr lebt, ist das Haus leer geworden, und seit ich kein Kind mehr bin, komme ich nur noch selten in das Dorf, und manchmal auch nur auf den Friedhof, wo auch meine Eltern begraben sind. Dann gehe ich auch zum Grab meines Paten und von Tante Frieda. Aber ich weiß, dass ich die Toten hier nicht finden kann. Es gibt Stunden, wenn ich allein zu Hause sitze, da sind sie mir alle viel näher, und eines Tages, so lange kann es auch nicht mehr dauern, denn auch ich bin inzwischen alt geworden, werden wir uns ganz nahe sein.