Die Großen und die Kleinen

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Der Schwachsinnige

Wir sind ihm im Gnadental begegnet. Das Gnadental ist ein Pflegeheim.

Es war ein warmer Sommersonntagnachmittag. Ein befreundetes Ehepaar hatte uns im Auto mitgenommen.

Wir hatten das Ehepaar als Nachbarn kennen gelernt. Sie hatten einen Sohn, der nur wenig jünger war als Adrian, unser Junge. Durch die beiden Kinder waren wir uns näher gekommen. Adrian durfte mit ihnen in die Ferien, damit ihr Sohn nicht allein wäre. Einer Einladung folgte die andere. Langsam erfuhren wir, dass Maurice nicht das einzige Kind war. Es gab da irgendwo noch einen älteren Sohn, einen rechten Tunichtgut, der in den teuersten Hotels wohnte, hochstapelte, ohne die Hotelrechnungen zu begleichen, buchstäblich bei Nacht und Nebel verschwand und, weil der Vater stets zur Kasse gebeten wurde, dessen Vermögen langsam, aber sicher zum Schmelzen und Zerrinnen brachte.

Es versteht sich von selbst, dass unsere Freunde auch uns gegenüber nicht gerne davon sprachen und uns die Existenz dieses ungeratenen Sohnes lange verschwiegen. Doch tauchte sein Name im Gespräch dann und wann zufälligerweise oder vielleicht doch ein bisschen gewollt auf, als suchten sie unsere Teilnahme an ihrem Schicksal. Bruchstückhaft erfuhren so meine Frau und ich allmählich ihre ganze Familiengeschichte, die man ohne Übertreibung eine Tragödie nennen kann.

Da hatte es nämlich auch noch zwei Töchter gegeben. Das ältere der beiden Mädchen war mit drei Jahren an einer heimtückischen Krankheit gestorben, das zweite lebte bis ins dritte Jahr normal und gedieh zur Freude der Eltern. Doch dann wurde es von der gleichen Krankheit befallen, war gelähmt und verblödete und wurde von der Mutter aufopfernd und liebevoll gepflegt.

Doch als der ältere Junge zur Welt kam und heranwuchs und dann schließlich noch der jüngere dazukam, überstieg die Pflege die Kraft der Mutter, und das Mädchen wurde ins Gnadental gegeben.

Kein Wunder, dass nach diesen Schicksalsschlägen die beiden verbliebenen Kinder gehätschelt und verwöhnt wurden, bis schließlich der ältere Sohn ganz aus dem Gleis geworfen wurde und sich immer wieder vor der Polizei in Sicherheit bringen musste, wobei ihm die Mutter nach Kräften half, was ihn aber doch nicht vor dem Gefängnis bewahren konnte, während der Vater ihm am liebsten den Tod gewünscht hätte.

Die Mutter, nachdem sie auf diese Weise drei Kinder verloren hatte, überschüttete nun den einzig ihr noch verbliebenen Sohn mit ihrer grenzenlosen, blinden Liebe, ohne zu bemerken, dass er auf eine ähnliche schiefe Bahn geriet wie sein Bruder.

Unterdessen war das Mädchen im Gnadental über zwanzig Jahre alt geworden. Ab und zu fuhren die Eltern dorthin und kehrten jedes Mal sichtlich bedrückt und betrübt zurück.

Meine Frau hatte einmal den Wunsch geäußert, mit ihnen das Kind besuchen zu dürfen. Aber die Eltern wollten nichts davon wissen. Der Anblick des Kindes würde uns zu sehr erschrecken. Doch eines Tages fragten sie uns doch, ob wir mitfahren wollten. Und wir sagten zu. Wir sollten uns jedoch auf das Schlimmste gefasst machen.

Das Pflegeheim liegt abseits. Wir erreichten es nach einer Fahrt von einer guten halben Stunde.

Nachdem unser Freund das Auto geparkt hatte, schritten wir unter dem hohen Torbogen hindurch und betraten das ausgedehnte Areal.

Die Eltern des Kindes meldeten sich im Haus an, während meine Frau und ich auf einer Bank im Park warteten.

Nach einer Weile kamen die Eltern zurück und setzten sich zu uns. Das Kind werde noch zurechtgemacht und dann zu uns herausgebracht.

Nach einige Zeit näherte sich uns eine Schwester, die einen schwarzen, altmodischen Kinderwagen vor sich her schob und damit auf uns zu steuerte.

Das war wohl nicht die Schwester, die meine Frau und ich erwarteten. Doch sie stellte den Kinderwagen vor uns hin und verließ uns wieder. Sie werde das Kind in einer halben Stunde wieder holen.

Noch nie habe ich den Ausdruck „ein Häuflein Elend“ so bildhaft anschaulich empfunden wie in diesem Augenblick. Da lag ein kleiner, spindeldürrer Körper in den Kissen, zusammengefaltet wie ein zugeklapptes Taschenmesser. Die Beinchen, fast nur noch Haut und Knochen neben dem Oberkörper, die Füßchen auf der Höhe des Kopfes, aus dem beinahe wie aus einem Totenschädel zwei große, leblose Augen hervorstarrten. Um den Mund blitzte ein leichtes, kaum bemerkbares Zucken auf.

Wir ließen der Mutter den trügerischen Glauben, dass das Kind sie wiedererkannt und ihr zugelächelt hätte.

Und dann kam er, der schwachsinnige Junge. Oder besser gesagt, der schwachsinnige junge Mann. Wie es bei solchen Menschen oft ist, konnten wir sein Alter kaum schätzen. Er mochte siebzehn oder auch fünfundzwanzig Jahre alt sein.

Mit einem strahlenden Lächeln kam er geradewegs auf uns zu. Sein Gesicht leuchtete, als wäre Weihnachten.

Er kannte offenbar unsere Freunde, und sie kannten ihn.

„Das ist meine Freundin“, lallte er kaum verständlich. Und er neigte sich über den Kinderwagen und streichelte das leblose Gesicht mit seiner klobigen und doch so zarten Hand.

„Du, du“, sagte er immer wieder zu dem Mädchen, nicht so, wie man zu einem Kleinkind spricht, sondern zu einer Geliebten, und er nannte immer wieder den Namen des Mädchens mit einer solchen Zärtlichkeit in seiner Stimme, dass man das Gebrechen der beiden vergaß.

Dann bat er die Eltern, das Mädchen in seinem Wagen ein wenig durch den Park spazieren fahren zu dürfen.

„Ich mach das jeden Tag, wenn die Sonne scheint“, versuchte er uns zu erklären.

Und dann ging er, während wir vier auf der Bank im Schatten zweier Pappeln sitzen blieben. Wir sahen ihm nach. Trotz seines unregelmäßig hüpfenden Ganges schien er den Wagen auf seinen hohen, schmalen Rädern behutsam vor sich her zu schieben. Hinter Sträuchern und Blumen entschwand er unseren Blicken.

Nach einer geraumen Weile tauchte er von der anderen Seite wieder auf. Zärtlich, wie er das Mädchen begrüßt hatte, verabschiedete er sich wieder von ihm. Als er von uns ging, glaubte ich, den glücklichsten Menschen der Welt gesehen zu haben.

„Weißt du“, sagte ich abends im Bett zu meiner Frau, „zuerst habe ich mich gefragt, warum Gott es zulässt, dass eine solche Kreatur wie dieses Mädchen mehr als zwanzig Jahre lang in diesem verkrüppelten und geistlos apathischen Zustand leben muss. Aber nachdem ich diesen sogenannt Schwachsinnigen gesehen habe, glaube ich, auch dahinter einen Sinn erkannt zu haben. Vielleicht braucht jeder Mensch, der noch einigermaßen bei Sinnen ist wie dieser Junge, einen anderen, dem es noch viel schlechter geht, um sein eigenes elendes Leben ertragen zu können. Wie oft messen wir uns selber an anderen, die schwächer sind, um uns glücklich zu schätzen. Wie viel mehr braucht ein solch armer Mensch einen noch ärmeren, dem auch er noch helfen und ihm etwas Gutes tun, ihn sogar lieben kann und der ihm das Gefühl gibt, nicht nutzlos zu sein.

Nur dieses Mädchen, das auf der untersten Stufe des Elends dahinvegetiert, hat keinen Elenderen mehr nötig. Es braucht nur noch die Zärtlichkeit und Liebe eines andern Menschen, und sei es auch nur die eines Schwachsinnigen, den es, ohne sein Wissen und Zutun zu einem glücklichen Menschen machen kann.“

Die beiden Blinden

Wenn man in St. Gallen an der Kathedrale vorbei und über den Gallusplatz geht, gelangt man nach wenigen Schritten zu der Stelle, wo die Steinach durch die Schlucht herabstürzt und wo dem irischen Mönch Gallus im Jahre 612 ein Bär begegnete, der ihm das Holz herbeitrug, damit er dort seine Zelle bauen konnte.

Von da fährt das Mühleggbähnchen in einem Tunnel steil hinauf nach St. Georgen. Früher, ehe es mit Elektrizität angetrieben wurde, waren es noch zwei Kabinen. Die eine stand oben, die andere unten. Beide waren durch ein Drahtseil miteinander verbunden.

Der Schaffner des unteren Wagens meldete durch ein Telefon nach oben, wie viele Passagiere begehrten, hinaufbefördert zu werden. Und der Schaffner des oben stehenden Wagens ließ dementsprechend eine gewisse Menge Steinachwasser in den hohlen Boden der Kabine einfließen. Ein Klingelzeichen von oben deutete unten an, dass genügend Wasser eingefüllt und die Zeit der Abfahrt gekommen sei. Oben wurden die Bremsen gelöst, und beide Kabinen setzten sich in Bewegung. Die obere Kabine zog durch das Gewicht der Passagiere und des Wassers die untere nach oben über eine Distanz von kaum mehr als dreihundert Meter und eine Höhendifferenz von siebzig Metern.

Die Fahrt dauerte wenige Minuten. Unten angekommen, wurde eine Klappe im Boden geöffnet, und das Wasser rauschte zurück in das Bachbett, das gleich darauf unter der Straße verschwand und erst weit weg in einem Außenquartier wieder ans Tageslicht treten durfte.

Ich kam von der anderen Seite hinter der alten Klostermauer herauf, als ich vom Gallusplatz her zwei Blinde auf die Talstation des Drahtseilbähnchens zustreben sah. Die weißen Stöcke, die gelben Armbinden, der unsicher Tritt auf die Stufen zum Eingang, den sie Hand in Hand durchschritten, wiesen sie als Sehunfähige aus.

Langsam tasteten sie sich neben der Kabine über die schrägen, langgezogenen Stufen, an deren Kanten die Stockspitzen klopfend stießen, bis zur obersten der vier Schiebetüren, die offen standen und den Eingang frei gaben zu je zwei sich gegenüberstehenden Bänken. Ich stieg weiter unten bei der zweiten Tür ein. Wir drei waren bei dieser Fahrt nebst dem Schaffner die einzigen Passagiere. Für unsere gesamthaft kaum mehr als dreihundert Kilogramm Gewicht brauchte nicht viel Wasser eingefüllt zu werden.

 

Das Klingelzeichen ertönte, der Schaffner schloss die Türen und trat an die Bremse.

Einer der Blinden hatte sich bergwärts, der andere ihm gegenüber auf die Talseite gesetzt.

„Komm, setzt dich hier neben mich!“, sagte der eine zu dem, der mit dem Rücken zur Bergseite saß. „Hier kannst du es besser sehen.“

Ich begann an der Blindheit der beiden zu zweifeln. Es gibt ja auch Bettler, die so tun als ob… Doch diese beiden sahen weder wie Bettler noch wie Betrüger aus.

Die Kabine setzte sich in Bewegung und rumpelte in die Höhe. Zuerst einmal aus dem Stationshäuschen hinaus, dann ein kleines Stück durch die Schlucht. Schließlich verschwand sie im Tunnel.

„Jetzt sind wir drinnen im Loch“, erklärte der eine.

Und bald rief er: „Schau! Siehst du es? Das Licht dort oben. Das ist der Ausgang des Tunnels.“

„Ja, ich seh es“, antwortete der andere mit der für manche Blinde so typischen, eintönigen und fast ein bisschen blechern und hohl klingenden Stimme.

„Schau doch!“, rief der Erstere. „Ist das nicht herrlich?“

„Es wird immer größer und heller“, frohlockte der Zweite.

„Ja, wir sind bald droben. Das ging schnell. Viel zu schnell.“

Ich glaube, die beiden wollten nur um dieses Erlebnisses willen nach oben. Der eine schien diese Fahrt schon mehrmals gemacht zu haben. Ich vermute, dass er auch seinem Kameraden diese ihn beglückende Erfahrung vermitteln wollte.

Als ich ausstieg, blickte ich in der Tat in zwei Gesichter, auf denen sich ein großes Glück widerspiegelte.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind jeweils auch gespannt nach oben geschaut hatte, bis das Licht am Ende des Tunnels zu erkennen war. Aber später, bis zu diesem Tag, hatte ich dem keine Beachtung mehr geschenkt. Erst die beiden Blinden hatten mir die Augen wieder geöffnet. Für sie war die Welt nach diesem Wunder wieder ins Dunkel versunken. Aber das kleine Licht aus der Höhe hatte sie glücklich gemacht.

Ich war aus der Dunkelheit herausgetreten. Und wären die beiden Blinden nicht gewesen, ich hätte das helle Licht, das mich jetzt umfing, nicht beachtet, hätte es als selbstverständlich hingenommen und wäre selbst als ein Blinder meine Wege gegangen.

Die Französischlehrerin

Elsa Nüesch war unsere Französischlehrerin am Gymnasium. Wir nannten sie „Pflutsch“ wegen ihrer nassen Aussprache. Pflutsch ist der schweizerdeutsche Ausdruck für Schneematsch. Schülergenerationen vor uns hatten sie schon so genannt. Sie war damals zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die erste und einzige weibliche Lehrkraft unserer Schule. Sie war korpulent, sehr korpulent sogar, ja, man ist versucht zu sagen unverschämt korpulent. Viele Schüler hielten sie geradezu für eine Zumutung, eine Beleidigung ihres Schönheitssinnes, der doch an dieser Brutstätte von Wissen, Bildung und Kultur gemäß Lehrauftrag in die jugendlichen Gehirne, Seelen und Herzen eingepflanzt werden sollte.

Die Pflutsch war so dick, dass sie, mit dem Stoß Diktathefte unter dem Arm, nur seitlich durch die Tür des Schulzimmers hereinkommen konnte. Mit ihrem stechenden Blick sah sie durch die dicken Brillengläser auf uns Schüler, während sie zum Pult schritt. Ahnte sie ängstlich schon wieder einen unserer Streiche?

Albert, der als Erster das oberste Heft mit den korrigierten Arbeiten der letzten Stunde zurückerhielt, machte erst einmal mit einem Grunzen auf sich aufmerksam und zog dann langsam sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte, während er sein Gesicht zu einem unverschämten Grinsen verzog, auffällig lange und gründlich den Heftdeckel ab.

Ein andermal unterlegte derselbe Albert das Pult auf dem erhöhten Podium mit runden Bleistiften. Fräulein Nüesch hob diesmal ihre schwere schmuddelige Mappe auf das Pult und stütze sich mit ihrem ganzen Körpergewicht auf den schrägen Deckel des Pultes, das sich zuerst kaum merklich zu bewegen begann. Doch dann spürte die beleibte Lehrerin das Weggleiten, fand aber keine Erklärung für dieses seltsame Phänomen. Doch das Pult rollte und rollte, und Elsa Nüesch versuchte, sich von dem wandernden Pult zu erheben. Doch je kräftiger sie ihr Gewicht von dem Pult wegstemmte, desto schneller bewegte sich das Pult dem Abgrund zu und desto hilfloser wurde Elsa in ihrem verzweifelten Bemühen, sich aufzurichten und festen Stand zu finden. Die Mädchen in der ersten Bankreihe, die Katastrophe voraussehend, lehnten sich weit zurück, um dem drohenden Sturz auszuweichen. Die beiden vorderen Bleistifte unter dem Pult hatten bereits die Kante des Podiums erreicht und fielen scheppernd auf den Boden. Die Vorwärtsbewegung des Pultes wurde abgebremst, wäre auch zum Stehen gekommen, wenn da nicht die Pflutsch mit ihrem tonnenschweren Körper sich noch immer gegen das Pult gelehnt und, ungewollt dem physikalischen Gesetz von Bewegung und Masse gehorchend, es unerbittlich weitergeschoben hätte. Es fehlten nur noch Millimeter, bis sich der Schwerpunkt über die Kante verschieben und das Pult zum Kippen bringen würde.

Der Zwischenraum zwischen dem Podium und der vordersten Bankreihe war nur schmal. Bezeichnenderweise hatte man dem gewichtigsten und am meisten Raum beanspruchenden und außerdem einzigen weiblichen Teil des Lehrkörpers das kleinste und engste Zimmer des Schulhauses zugeteilt.

Der Entsetzensschrei der Lehrerin fiel zusammen mit dem Krachen des Pultes, als dieses vornüberstürzte und seine Vorderfront auf die Kante der Schulbank aufschlug und wie ein gewaltiger Keil in der Grube liegen blieb. Die Mädchen kreischten und hielten ihre Hände dem herabstürzenden Koloss schützend entgegen, während durch die Reihe der Knaben ein unterdrücktes Lachen ging.

Die Lehrerin lag wie ein zappelnder Fisch, der nach Luft ringt, auf dem Pult und versuchte vergeblich, nach hinten zu rutschen, um endlich festen Boden unter die Fußes zu bekommen.

„So helft mir doch!“, schrie sie zornig zwei- oder dreimal, bis endlich Albert hilfsbereit nach vorne sprang. Er war der Größte von uns allen und wegen seiner Kraft, die sich nicht nur in den Muskeln, sondern auch in seiner wortgewaltigen Ausdrucksweise manifestierte, bei Schülern und Lehrern gleichermaßen berühmt. Albert neigte sich über die Frau, fasste sie unter den Achseln, nicht ohne eine geraume Weile zu versuchen, den richtigen notbehebenden Griff anzusetzen und, gegen die kichernden Mitschüler gerichtet, einige obszöne Andeutungen zu machen. Dann riss er den schweren Körper aus seiner misslichen Lage zurück und stellte die schreckensbleiche Lehrerin auf die Beine.

„Das hat noch ein Nachspiel!“, rief sie mit ihrer hohen kreischenden Stimme und entließ die Klasse, da sie sich unfähig fühlte, uns an diesem Tag Unerreicht zu erteilen.

Das Nachspiel fand im Zimmer des Rektors statt, der uns erst einmal eine saftige Gardinenpredigt hielt. Da die Klasse beschlossen hatte, die Schuld an dem üblen Streich kollektiv auf sich zu nehmen, blieb der Täter unerkannt, und die Klasse musste an einen freien Nachmittag zu einer dreistündigen Strafarbeit antreten.

Wer etwa glaubt, dass nur die Jungen solche Streiche aushecken konnten, der täuscht sich gewaltig. Er kennt die Abgründe der weiblichen Seele nicht. Immerhin waren die Untaten der fünf Mädchen – sie waren in jenen weit zurückliegenden Jahren noch deutlich in der Minderzahl – harmloser. So spannten sich denn eines Tages in der ersten Bankreihe fünf farbige Damenschirme auf, die allerdings vom Regen draußen schon so nass waren, dass man nachher die Tröpfchen von Elsas feuchter Aussprache nicht mehr feststellen konnte.

Elsa Nüesch, die das schon in anderen Klassen mehrmals erlebt hatte, schenkte den Schirmen keinerlei Beachtung und fing zu dozieren an. Nach einigen Minuten klappte ein Schirm nach dem anderen unter verhaltenen Buhrufen aus den hinteren Bankreihen zu.

Ich erinnere mich an die ersten Stunden bei Fräulein Nüesch, als wären seither erst wenige Jahre und nicht über fünf Jahrzehnte verstrichen. Ich war damals in der zweiten Klasse des Gymnasiums. In der ersten Klasse hatte unser Fremdsprachenunterricht nur dem Latein gegolten, das später die Grundlage für die andern Sprachen bilden sollte. Jetzt kam Französisch hinzu. Natürlich hatte ich wie alle meine Kameraden schon vorher viel über die neue Lehrerin gehört. Sie galt als streng. In den Pausen war ich oft in den Gängen ihrer gewichtigen und beeindruckenden Gestalt begegnet. Wie ich nun zum ersten Mal in ihrem Klassenzimmer saß, flößte sie mir nicht nur Respekt, sondern auch eine nicht gerade geringe Portion Angst ein. Ich war schon kein guter Lateinschüler, und da meine Mutter überhaupt keine Fremdsprache gelernt hatte und mein Vater von der Volksschule her nur noch einige Brocken Französisch behalten hatte, brachte ich, der ich als Einziger in der Klasse aus vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen stammte, keine Vorbildung von zu Hause mit und konnte demzufolge auch auf keine elterliche Hilfe zählen. Ich fühlte mich ganz auf mich gestellt. Meine Ängstlichkeit bezog sich also nicht nur auf die Person, sondern auch auf die Fremdsprache, in die sie uns einführen sollte. Sie tat dies in der ersten Woche, indem sie uns die phonetische Schrift beibrachte.

In der ersten Stunde beauftragte sie uns, in der Papeterie an der Ecke neben der Schule ein Konzeptheft zu kaufen, was bei ihrer zischenden Aussprache in unseren Ohren wie Konzertheft tönte, von dem wir keine Ahnung hatten, was dieses musikalische Ding mit unseren im Französischunterricht zu tun haben sollte. Auf unsere Nachfrage hin wiederholte sie das Wort mehrmals, laut und deutlich, wobei wir zum ersten Mal mit ihrer pflutschigen Aussprach konfrontiert wurden. Unwirsch erklärte sie dann, es handle sich um ein Oktavheft, womit wir ebenso wenig anfangen konnten. Schließlich wurde es dann aber doch auch dem Letzten klar, dass wir ein kleines liniertes Heft mit einem roten senkrechten Strich in der Mitte brauchten, das uns als „Vocabulair“ dienen sollte. Damit ausgerüstet, erschienen wir in der zweiten Stunde und schrieben dann von der Wandtafel die Wörter in der Lautschrift in das Konzeptheft ab. So ging das auch in den übrigen zwei Französischstunden dieser Woche weiter.

Für die erste Stunde der zweiten Woche hatten wir die Aufgabe erhalten, alle notierten Wörter auswendig zu lernen, soweit dies nicht schon in der ersten Woche geschehen war.

Der Montag fing für mich schlecht an. Bereits in der ersten Stunde saßen wir bei der Pflutsch. Die Lehrerin rief mich als Ersten auf. Ich sollte nach vorne an die Tafel gehen. Ich hatte ein gutes Gefühl, denn ich hatte über das Wochenende gebüffelt. Obwohl ich auf das Abfragen der Wörter durch meine Mutter verzichten musste, hatte ich alles intus. Ich sollte als Erstes das französische Wort für Bohne an die Tafel schreiben. Glücklich, mein Wissen anbringen zu können, schrieb ich, wie ich es gelernt hatte, ari‘ko an die Tafel und betrachtete stolz mein Werk, in der Gewissheit, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.

Doch unter der Gewalt der kreischenden Stimme meiner Lehrerin fuhr ich erschrocken zusammen.

„Hast du nichts kapiert?“, fuhr sie mich an. „Ich hab verlangt, dass ihr die Wörter in der normalen Schreibweise lernt. Jetzt ist es vorbei mit der phonetischen Schrift. Na, schreib’s nun richtig an die Tafel.“

Ich zuckte die Achseln und stand wie der Esel am Berg, hilflos mit der Kreide in der Hand und hatte keine Ahnung, wie ich das Wort haricot schreiben sollte.

Sie schubste mich unwirsch von der Tafel weg, und ich ging zerknirscht und beschämt an meinen Platz zurück. Ich war offenbar der Einzige, der nicht im Bilde war.

Aber es kam noch schlimmer. Die Nasallaute der französischen Sprache waren für mich etwas vollkommen Neues. Fremdwörter wie Saison oder Chance waren daheim bisher immer wie Säsong und Schanxe ausgesprochen worden. Als ich nun vor der Klasse von zehn bis zwanzig zählen sollte, klang mein quinze zum Verwechseln ähnlich wie Käs. Und mindestens fünfzehnmal musste ich meiner Lehrerin das für mich unaussprechliche Wort nachsagen, das auch nach dem letzten Versuch immer noch an Käse erinnerte.

Ich sollte zu Hause üben, trug mir die Lehrerin auf, und um meine Fortschritte zu prüfen, musste ich in jeder Stunde das Wort quinze vorsagen. Ich hatte daheim im stillen Kämmerlein geübt und hatte mir dabei sogar die Nase zugehalten. Es blieb beim Käs. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, die verschiedenen Nasallaute schließlich doch richtig zu artikulieren. Auf jeden Fall war es eines Tages so weit. Die weitere Blamage blieb mir erspart, doch glaube ich, in den Augen meiner Lehrerein weiterhin als hoffnungsloser Fall zu gelten. Dies änderte sich erst, als sich der Freund meiner älteren Schwester meiner annahm. Er war ein hervorragender Zeichner und wurde später Kunstmaler. In pädagogischer Vollkommenheit malte er ein drei Meter langes Wandfries, auf dem die consecutio temporum und andere grammatische Regeln bildlich dargestellt waren. Dieses Band heftete ich über meinem Bett an die Wand, und dem Rat des Freundes folgend, schlief ich nicht mehr ein, ohne mir die Worte und Bilder auf dem Streifen eingeprägt zu haben.

 

So machte ich denn im zweiten Französischjahr langsam Fortschritte und gewann endlich die Anerkennung meiner Lehrerin. Trotzdem atmete ich auf, als ich nach einem weiteren Jahr einen neuen Französischlehrer bekam.

Fünf Jahre waren vergangen, seit ich die Schule verlassen hatte und in einer Buchhandlung arbeitete. Als Ehemaliger erfuhr ich aus den jährlichen Mitteilungen unserer Schule vom Tod der Elsa Nüesch. Sie war achtundfünfzig Jahre alt geworden und hatte sich die letzten drei Jahre gegen eine Krankheit gewehrt, der sie sich jedoch in den letzten Wochen mit innerer Größe und in der Zuversicht auf Gottes Güte beugte.

Noch in der Zeit, als ich in der Buchhandlung arbeitete, hatte ich einen kleinen Verlag gegründet, in dem ich Gedichte und kürzere Erzählungen damals meist noch unbekannter Autoren herausbrachte. Doch dieser Verlag konnte meine noch junge Familie nicht ernähren. Ich hatte deshalb eine Stelle als Verlagsleiter in einem theologischen Fachbuchverlag angenommen und meinen eigenen Verlag nebenbei beschränkt weitergeführt, schließlich auch nur noch, um die Restbestände zu verkaufen.

Da bekam ich eines Tages durch eine Cousine ein Manuskript mit Gedichten und tagebuchähnlichen Aufzeichnungen in die Hände. Die Cousine hatte es von einer Freundin meiner ehemaligen Französischlehrerin erhalten, die hoffte, mit der Veröffentlichung in meinem Verlag der Toten ein Denkmal setzen zu können. Obwohl ich nun keine Gelegenheit mehr hatte, die Gedichte zu veröffentlichen, las ich sie mit großem Interesse, auch mit Betroffenheit. Es waren ergreifende, schöne Gedichte, die Elsa Nüesch wohl schon während ihrer Lehrzeit am Gymnasium und in der Zeit ihrer Krankheit geschrieben hatte. In diesen feinfühligen, zarten Versen lernte ich eine ganz andere Frau kennen als jene Pflutsch, die wir Jugendlichen damals gefürchtet, geplagt und vielleicht sogar verabscheut hatten. Ich sah hinein in die Seele einer Frau, die Tag für Tag in der Angst vor ihren Schülern gelebt hatte, die sie trotz allem so sehr liebte und denen sie nicht nur die französische Sprache, sondern die tieferen Werte des Lebens hatte beibringen wollen. Die Gedichte waren Schreie der Verzweiflung und der Angst, Gesänge der Liebe zu der Jugend, die ihr anvertraut war. Ausdruck einer unendlichen Einsamkeit. Ich spürte, wie sie die Kränkungen, die ihr das Herz zu zerbrechen drohten, zu verzeihen bereit war und wie sie darunter litt. Und sie litt auch unter ihrem massigen Körper, der die liebenden und sehnsüchtigen Seiten ihrer Seele vor den Schülern so sehr verbarg, dass sie sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit nicht erkennen konnten.

Wie gerne hätte ich diese Gedichte veröffentlicht, wenn ich meinen eigenen Verlag nicht schon liquidiert gehabt hätte. Obwohl die Autorin nicht mehr lebte, fiel es mir schwerer als in vielen anderen Fällen, das Manuskript zurückgeben zu müssen. Wie gerne hätte ich einen schmucken Gedichtband daraus gemacht, hätte ihn all meinen ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen geschenkt, damit auch sie die andere Seite der Pflutsch, den wahren, sensiblen Menschen Elsa Nüesch kennen gelernt hätten, und damit auch ich nachträglich Abbitte hätte leisten können für mein passives Mitmachen bei den Streichen, mit denen wir unsere Lehrerin gequält und in ihrem tiefsten Innern verletzt hatte, und dafür, dass auch ich bis zu diesem Zeitpunkt das wahre Wesen dieser Frau, das in dem unförmigen Körper und hinter der krächzenden Stimme verborgen war, nicht erkannt, ja nicht einmal erahnt hatte.

Kurz vor ihrem Tod und im Bewusstsein des unausweichlichen Endes hatte Elsa Nüesch einen Brief an die Schüler geschrieben, in dem sie sagt: „Wohl bin ich von Euch aus gesehen nicht ein idealer Schulmeister gewesen. Ich weiß um meine gelegentliche Gereiztheit und hoffe, Ihr tragt sie mir nicht nach.“

Kein Wort von dem, was wir Schüler ihr angetan, die allen Grund hätten, sich bei ihr zu entschuldigen. Im Gegenteil, sie ist es, die sich bei ihren Schülern glaubt entschuldigen zu müssen. Und an anderer Stelle ihres Briefes schreibt sie: „Bitte, bewahrt, pflegt, entwickelt, was Ihr Dauerhaftes und Wertvolles in Euch aufnehmen könnt. Dann ist die Mühe um Euch nicht verloren. Wenn uns Älteren die Fackel aus den Händen fällt, tragt sie weiter. Werdet so Wahrer und Mehrer ererbten Gutes … Es war mir eine Freude, Euch zu dienen, solange ich es vermocht habe. Lebt wohl!“

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