Auch ich war dabei

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Auch ich war dabei
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Martin Renold

Auch ich war dabei

Erzählung

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Auch ich war dabei

Wie die Geschichte entstand

Impressum neobooks

Auch ich war dabei

Ich spreche nur ungern und widerwillig davon. Mehr als fünf Jahre sind seither vorübergegangen; aber die Er­innerung an jene Zeit lastet schwer auf mir, wie eben das Bewusstsein einer großen Schuld auf einem Menschen lasten und ihn zu Boden drücken kann; denn für mich ist die Erinnerung Schuldbewusstsein. Mir ist, als würden die Seelen aller derer, die ich sterben sah, über mich her­fallen. Sie lassen mich nicht in Ruhe, diese Sterbenden, diese Toten. Oft sehe ich sie in der Nacht, sehe ihre zum Himmel sich reckenden Arme, ihre im Todeskampf, in letzter Verzweiflung verkrampfenden Hände, sehe ihre brechenden, im Tode noch anklagenden Augen. Ich weiß, dass viele im Hass gestorben sind. Sie hassten uns, und sie haben ihren Hass mit ins Grab genommen, wenn ihnen überhaupt ein anständiges Grab gegraben wurde. Als Hassende sind sie gestorben, und als Hassende sind sie vor Gott getreten, und um ihres Hasses willen sind sie verdammt. Und die Schuld daran, dass sie verdammt sind, tragen wir, trage ich. Wir, die man glauben macht, wir seien dank unserer Hirnschale und dank unserer Gesichtsform, dank der Farbe unserer Augen und unseres Haares, bessere Menschen als die übrigen, be­stimmt, die Welt zu beherrschen. Wir waren solche Menschen, die man hassen musste. Wir haben ihnen den Hass auf­gezwungen, manchen im letzten Augen­blick ihres Lebens. Unser ganzes Denken und Handeln war hassens­wert. Nur wenige haben uns verziehen. Ich habe welche gesehen. Ruhig sind sie gestorben, ohne Hass. Darum leben sie jetzt im Frieden. Sie haben selbst im Sterben die Worte des Herrn nicht vergessen, die uns lehren, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, und die da sagen, dass man auch seine Feinde lieben soll. Die Nächsten, das waren wir. Aber sie liebten uns, wie uns geboten ist, und sie haben uns unsere Schuld vergeben. Darum haben sie jetzt Ruhe. Wenige sind es. Die vielen anderen aber sind heute noch ruhelos, weil wir in ihren Herzen den Hass entfachten und schürten und ihnen so den Weg zum Himmel versperrten. Sie haben uns als Sterbende nicht verziehen, und sie verzeihen uns auch als Tote nicht. Sie haben keine Ruhe – und darum lassen sie auch uns nicht in Ruhe. Glaubt nicht, dass es keine Ge­spenster gibt! Es gibt sie. Ich fühle sie oft in der Nacht, wenn sie auf mich zukommen, mich anklagen. „Wegen dir haben wir keine Ruhe gefunden“, klagen sie, und ich sehe ihre Augen starr und verzweifelt auf mich ge­richtet, schreckliche, kalte Augen, und ich weiß, wem sie gehören. Sie erinnern mich an jenen Abend, als wir mit unseren Panzerwagen durch die römische Campagna nach Rom zurückfuhren. Es war in der Zeit, da unsere glorreichen Siege bereits der Vergangenheit angehörten und wir in den Italienern schon unsere Feinde witterten. Unsere Lage war ständig bedroht. Wir lebten in einer unruhigen und nervösen Spannung. Unsere Leute waren rasch gereizt.

An jenem Abend, von dem ich zu erzählen begonnen habe, lief ein Bauer neben seinem Zweiräderwagen vor uns her, mitten auf der Straße. Es war vor einer kleinen Brücke, die über einen Graben führte, als wir ihn über­holen wollten, aber der Bauer ging mit seinem lahmen Gaul nicht auf die Seite. Unser Kommandant im zweit­vordersten Wagen wurde ungeduldig. Des Bauern Wagen aber holperte gemütlich mit seinen großen Rädern auf die Brücke. In diesem Augenblick wollte es das Un­glück, dass die Achse brach. Die ganze Brücke war nun versperrt. Wir mussten anhalten. Fluchend stand der Bauer neben den Trümmern seines Karrens. Unser Kommandant, dessen Geduld nun vollständig ge­rissen war, sprang aus dem Wagen, ging auf den Bauern zu und schlug ihm die Hand ins Gesicht, dass er zu­sammenfuhr. Darauf spannte er das Pferd aus und ver­setzte ihm einen gestiefelten Fußtritt in die Hinterbeine, dass es, den Straßenstaub hinter sich aufwirbelnd, davonsprang. Dann warfen einige unserer Männer aus den ersten Wagen den ganzen Trümmerhaufen über die Brücke. Der Bauer stand daneben und zitterte. Er wagte kein Wort zu sagen. Wir hörten die Stimme des Kommandanten: „Schießt ihn nieder!“ Ich weiß nicht, ob der Bauer den Befehlt verstand, aber die Hände griffen hinter seinem Rücken nach dem Brückengeländer, das sie krampfhaft umschlossen. Da sich der Kommandant sogleich umgewandt hatte und auf seinen Wagen zu­ging, wurde nicht geschossen. Vor seinem Wagen drehte er sich noch einmal um und rief unseren Kameraden, die mit entsicherten Waffen dastanden, zögernd und als ob sie nochmals einen Befehl erwarteten, mit gereizter Stimme zu: „Na, wird’s?“ Wir hörten zwei oder drei Schüsse und sahen den Getroffenen wanken. – Wir waren die ganze Zeit über in unserem Wagen sitzen ge­blieben. Keiner hatte sich gerührt, als der scheußliche Befehl ertönt war. Wir blieben stumm und waren froh, dass unser Wagen nicht einer der vorderen war. Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Wir fuhren über die Brücke. Ich sah den unglücklichen Bauern, ans Brückengeländer gelehnt, die linke Hand auf der Brust, die rechte auf das Geländer gestützt. Als sich ihm unser Wagen näherte, sah er mich an. Es war sein letzter Blick. Ich vergesse es nie. Eine Träne rann über seine er­kaltende Wange, aber aus seinen Augen loderte der Hass. Sein Blick verwundete mich. Ich hätte gerne weg­geschaut, aber ich konnte nicht. Ich schämte mich. Ich sah ihn neben unserem Wagen niedersinken. Wir fuhren weiter, aber seine Augen verfolgten mich. Sie verfolgten mich die ganze Nacht und die kommenden Tage, sie verfolgen mich heute noch. Es sind die Augen, die ich manchmal in der Nacht starr und verzweifelt auf mich gerichtet sehe. Ich weiß, er hat noch keine Ruhe ge­funden. Er hat mir als Sterbender nicht verzeihen können, und er wird mir keine Ruhe lassen, bis er als Toter mir ver­ziehen hat.

Es ist eine unwiderstehliche Macht – in mir oder außer mir; ich weiß es nicht –, die mich zwingt, von jener Zeit zu erzählen, nachdem ich so lange geschwiegen habe. Vielleicht sehen die Augen, die mich immer so an­klagend anblicken, auch einmal auf diese Blätter; dann lernen vielleicht auch diese Gespenster ihren Hass überwinden; o dass sie dann erkennen, dass wir ebenso arm sind wie sie und dass auch wir der Liebe bedürfen! Wenn sie dies erkennen können, werden sie uns doch noch verzeihen und dadurch im Jenseits den Frieden finden, und unsere Seelen dürfen vielleicht von diesem Frieden – wenngleich dessen unwürdig – schon im dies­seitigen Leben eine leise Vorahnung bekommen.

Zu euch Toten vor allem denn spreche ich, die ihr mich anklagt. Ich will mich nicht reinwaschen vor euch. Ich kann es nicht, obwohl ich gewiss nicht zu den Schlimmsten gehöre, wenn es auf ein Mehr oder Weniger überhaupt noch ankommt. Ich habe den Krieg mit­gemacht, den schrecklichsten und grausamsten Krieg, aber ich glaube nicht, dass ich selber einen Menschen getötet habe. Aber dies ist nicht mein Ver­dienst. Ich habe Glück gehabt, dass ich nie einem Hin­richtungsbefehl folgen musste. Doch einige Male hätte es ebenso gut mich treffen können wie meine unglück­lichen Kamera-den. Ich will sie nicht in Schutz nehmen, ich will nicht sagen, dass ihre Schuld keine war. Und doch, wenn ja leider auch unter ihnen welche waren, die sich keine Gewissensbisse machten, so kenne ich doch manche, die dachten wie ich. Nein, ich will auch mich nicht ver­teidigen. Ich verdiene es nicht. Aber ich weiß, dass diese unglücklichen Kameraden sich fürchteten vor dem Be­fehl, den es auszuführen galt. Sie dachten wie ich, dass sie es nie tun würden, nie tun könnten. Dann aber traf es sie, und sie taten es doch. Hätte es mich ge­troffen, ich hätte vielleicht wie sie gehandelt, nein, nicht vielleicht; ich hätte sicher getan, was meine Kameraden, die es traf, auch getan haben. Wir alle hätten es getan, auch ich. Ich war feige wie die andern alle. Schließlich ist einem das eigene Leben auch etwas wert. Und wenn es noch so ein unwürdiges und schuldbeladenes Leben ist – wie das unsrige, das meine eines war –, so hängt man doch daran. Man ist ja noch so jung und glaubt, noch viel Schönes und Gutes vor sich zu haben. Ich war damals erst zwanzig Jahre alt, und ich liebte das Leben trotz allem wie wir alle. Warum also sein Leben, das so reich an Hoffnungen und Erwartungen ist, opfern für fremde, unbekannte Menschen? Ja, so haben wir ge­dacht. Oft hätten wir gerne widersprochen, aber dann dachten wir wieder an das eigene Leben und schwiegen – Ja, ich hatte Glück. Mich traf es nie; ich habe nicht ge­tötet. Ich musste mir keine Gewissensbisse machen. Heute aber weiß ich es: Auch das Nichtsündigen aus bloßem Mangel an Gelegenheit ist Sünde. Und das Leben, das ich mir gerettet habe, ist gleich schuldbeladen wie das Leben derer, die getötet haben.

Ich war feige. Ich habe geschwiegen, auch wenn ich wusste, dass ich nicht schweigen dürfte. Darum erinnere ich mich nicht gerne daran. Darum verschweige ich jetzt vieles von meiner Geschichte. Rechnet es mir nicht an! Es gibt darin Szenen, an die ich nicht ohne Schauern denken kann. Szenen, in denen ich eine kläg­liche, eine schändliche Rolle gespielt habe. Nein, ich möchte nur von einigen schönen Tagen und Wochen, ja Monaten erzählen, die ich erlebte: schön, obwohl wir Furchtbares erlebten, schön, obwohl wir den Tod und das Verderben sahen, schön, obwohl wir feige waren, aber schön, weil wir bei Menschen sein durften, die uns liebten, weil sie unsere Schicksale und Nöte und unsere Schwächen kannten und sie verstanden, Menschen, die uns halfen, das Gute in uns nicht zu vergessen, die uns aufrichteten, wenn wir gebrochen waren, die uns Trost zusprachen, wenn wir verzweifeln wollten, Menschen, die unsere Freuden, unsere innere Freude – andere gab es wenig – mit uns teilten, Menschen, die auch unsere Leiden, und deren gab es mehr als genug, teilten und sie uns tragen halfen. Sie kannten unsere Schuld, aber sie verdammten uns nicht; denn sie wussten auch um das Gute in unseren Seelen, über das eine tiefe Finsternis herein­gebrochen war. Sie setzten oft ihr Leben aufs Spiel, um dieses Gute in uns aus dem bleiernen Schlaf aufzu­wecken und aus der Finsternis ans Licht zu führen. Wenn es auch nicht gelang – wir waren zu tief in der Dunkelheit –, manch einer kam doch dem Lichte näher, und war es auch nur für die Dauern eines kurzen Augenblicks. Diese Menschen betrachteten uns nicht als Feinde. Sie sahen in uns den Freund, und weil sie uns nicht das Schlechteste zutrauten, gaben sie uns Gelegen­heit, auch Gutes zu tun und wirklich ihre Freunde zu sein. Und doch – gesinnungsmäßig waren auch sie Fein-de unseres Staates, den wir hier in fremdem Land ver­teidigten, und deshalb mussten wir auch ihre Feinde sein. Ich wusste um ihre Schuld – die keine war – und als Soldat meines deutschen Vaterlandes hätte ich nicht schweigen dürfen. Dieses Schweigen ist vielleicht meine einzige gute Tat in jener Zeit. Ja, jene Menschen liebten uns. Müssen es nicht edle und gute Menschen sein, die zu solcher Feindesliebe fähig sind? Ich sehe noch heute die Tränen in den Augen der Frau, als ich ihr vom un­glücklichen Ende meines Freundes berichtete.

 

Von dieser Zeit will ich euch erzählen. Entschuldigt, wenn ich nicht alles in der richtigen zeitlichen Folge erzähle, wenn ich hie und da in der Zeit irre, wenn ich einiges, das erst später geschah, vorher geschehen lasse und umgekehrt. Aber es ist so vieles geschehen, Großes und Kleines, Wichtiges und Unwichtiges; die Ereignisse drängten sich, und manches scheint mir näher zu sein, was vielleicht schon weiter zurückliegt. Aber das spielt ja keine große Rolle; denn ich möchte nicht von den großen Dingen erzählen, die vielleicht einmal in den Geschichtsbüchern stehen werden, sondern von den kleinen, die an keine Daten gebunden sein müssen, die aber für uns oft wichtiger sind als die großen.

Es war in Rom zu der Zeit, da wir Deutschen den letzten Rest afrikanischen Bodens unseren Feinden überlassen mussten, zu der Zeit, da wir in unseren italienischen Verbündeten schon unsere Feinde von morgen sahen.

Die Menschen, von denen ich vorhin gesprochen habe, waren ein Ehepaar, die Frau in der Mitte der Fünf­zigerjahre stehend, der Mann etwa fünf bis zehn Jahre älter, und beider Töchter, die eine ein Mädchen von siebzehn Jahren – als ich sie zum ersten Mal sah –, die andere eine verheiratete junge Frau, die ich erst in den letzten Monaten kennen lernte, weil sie erst damals aus Deutschland, wo sie gewohnt hatte, mit ihren beiden Knaben im Alter von drei und fünf Jahren zurück­gekehrt war.

Über meine Person will ich wenig sagen. Es tut eigentlich nichts zur Sache. Dass ich ein kleiner Bursche war – ich war schon früher in der Schule immer der Kleinste gewesen – dürfte euch kaum interessieren. Von meinem Temperament, das sowohl zum Phlegmatischen als auch zur Melancholie neigt – was bei kleinen Leuten wie ich sonst nicht so häufig der Fall ist –, werdet ihr später noch hören.

Ich war damals etwa neunzehn Jahre alt und war nach der Ausbildungszeit in meiner Heimat und nach einem kurzen Fronteinsatz nach Brescia in Oberitalien und dann nach einigen Wochen nach Rom geschickt worden. Mein militärischer Grad war der eines Unter­offiziers.

Es waren einige hundert Soldaten und Unteroffiziere, die mit dem gleichen Transport nach Rom fuhren. Ich kannte niemanden; denn meine Kameraden waren in Brescia geblieben; nur ich sollte einer andern Einheit, die in Rom stationiert war, zugeteilt werden. Es näherte sich mir jedoch bald ein gleichaltriger Unterfeldwebel. Er war ein schlanker Jüngling von hohem Wuchs. Er hatte braunes Haar und blaue, ernste Augen. Sein Gesicht war schön, aber weich und fast wie das Gesicht eines Mädchens. Wir kamen miteinander ins Gespräch und waren bald Freunde, da wir fühlten, dass uns etwas Gemeinsames, das wir nicht aussprechen konnten, ver­band. Es war das Vertrauen, das wir von An­fang an, be­vor wir uns eigentlich kannten, ineinander hatten, die Ehrlichkeit, mit der wir uns, einer dem andern offen­barten, die Achtung, die wir als Menschen, nicht als Soldaten, voreinander hatten.

Er hieß Eberhard und war ein stiller, zurück­gezogener Mensch. Er sprach nicht viel. Trotzdem erfuhr ich von ihm auf der langen Fahrt, dass er keine An­ge-hörigen mehr habe. Seine Eltern habe er nicht gekannt. Er sei bei Pflegeeltern aufgewachsen, aber sie seien zu ihm wie Vater und Mutter gewesen. Bei einem Luftan­griff hätten beide das Leben verloren. Der einzige Mensch, der ihm lieb sei und der noch lebe, sei ein Mädchen, seine einstige Jugendgespielin, mit der er sich verlobt habe, bevor er seine Heimat habe verlassen müssen. Seine Augen schienen einen Augenblick lang zu leuchten, als er davon sprach, und doch blieb seine Blick dabei ernst, fast traurig. Ich bemerkte, dass er keinen Ring trug. Erst später erfuhr ich, dass ihm die Verlobte untreu geworden war und bereits einen anderen ge­heiratet hatte. Aber trotzdem dachte er mit Liebe an das Mädchen.

Ich hörte ihm gerne zu, als er von sich erzählte. Aber er sprach leise, fast flüsternd, damit es niemand sonst höre, als ob er etwas Verbotenes sagte. Manchmal sprach er lange nicht. Dann saßen wir einander stumm gegen­über und blickten uns in die Augen. Bevor wir Rom er­reichten, versprachen wir uns, dass wir uns aufsuchen wollten, sobald wir dazu Zeit hätten; denn es war nicht wahrscheinlich, dass wir beisammenbleiben konnten, da er einer Einheit angehörte, die im Sicherungsdienst gegen die Partisanentätigkeit in der Stadt und der näheren Umgebung stand, während meine Einheit dem Nachschubsicherungsdienst zugeteilt war. Wir wurden je-doch gegen das Ende ebenfalls gegen die Partisanen in der Stadt eingeteilt. Umso größer war unsere Freude, als wir, in Rom angekommen, erfuhren, dass wir beide am gleichen Ort einquartiert würden. Im Hotel, das von den Offizieren und Unteroffizieren meiner neuen Einheit be­setzt war und das nur einige Straßen von unserem Quartier entfernt lag, war kein Platz mehr für mich, so dass ich mit Eberhard gehen konnte.

Mit uns war noch ein Dritter. Walther hieß er. Doch keiner von uns hatte ihn zuvor gekannt. Er war von anderer Art als Eberhard und ich. Er war ein starker, breitschultriger Bursche, einige Jahre älter als wir. Er sprach viel, was uns wenig interessierte. Später im Quartier hat er sich dann bald den anderen Kameraden angeschlossen, während Eberhard und ich den An­schluss zu ihnen nie recht fanden und meistens für uns abgeschlossen lebten.

Nach der Ankunft gab man uns die nötigen Aus­weispapiere und schicke uns auf den Weg nach unserem Quartier. Keiner von uns kannte die Stadt, aber wir fanden unsere Herberge bald.

Es war ein hohes und langes Gebäude. Im ersten Stockwerk war eine Carabinieri-Kaserne. Ein sehr schmaler Balkon zog sich auf der Nord- und der West­seite des Hauses, die der Straße zugewandt waren, auf der ganzen Länge hin. Zwei oder drei Carabinieri lehnten mit ihren Ellbogen auf dem Geländer und blickten gelangweilt auf die Straße und schauten uns zu, wie wir die uns angegebene Hausnummer suchten.

Die gesuchte Hausnummer war neben einem großen Tor auf der Nordseite angebracht. Wir gelangten durch dasselbe, von der Via Liguria her, in eine Durchfahrt hinein, die in einen großen Innenhof mündete. Zur Linken führte eine Treppe hinauf. An der Wand war ein weißes Schild, auf dem in schwarzen Buchstaben „Pensione Frey“ zu lesen war. Das war unser Quartier.

Wir stiegen etwa acht Stiegen empor in dem dunklen Treppenhaus. An einer braunen Tür mit messingenem Knopf und Griff war wieder ein Schild befestigt wie unten an der Treppe in der Durchfahrt.

Wir läuteten. Bald hörten wir Schritte durch einen langen Gang näher kommen. Endlich öffnete sich die Tür. Ein älterer Mann mit schneeweißen Haaren und einem kleinen, grauen Spitzbärtchen stand unter der Tür. Er blicke ernst, aber freundlich.

Wir schlugen die Hacken zusammen, und Walther, der der Tür am nächsten stand – wir hielten uns mehr im Hintergrund –, hob den Arm zum Gruß und schmetterte die beiden Grußworte, die jedem Deutschen im Blut stecken mussten, heraus, dass es in dem stillen Treppen­haus laut hallte.

Der alte, ehrwürdige Herr ließ sich nicht beein­drucken. Er sagte gelassen: „Guten Abend, treten Sie ein. In diesem Haus grüßen wir uns, wie sich Freunde zu be­grüßen pflegen. Alle halten es so.“

Wir traten ein und waren froh, uns keinen Zwang antun zu müssen. Der Mann hatte Mut. Noch nie waren wir so empfangen worden. Er wusste ja nicht, wen er vor sich hatte. Aber von da an hat keiner von uns mehr in diesem Haus die Hacken zusammengeschlagen oder die Hand zum Gruß erhoben. Auch von den anderen tat es keiner. Nur am Schluss, bevor wir Rom verlassen mussten, kam einer, der wie wir empfangen wurde, dem es aber keineswegs behagte. Er war der Einzige, der am Hitlergruß festhielt, obgleich ihn niemand erwiderte. Doch von diesem sollt ihr später noch hören.

Der Gang, in den wir eintraten, war düster, schmal und lang, sehr lang. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig bis fünfzig Meter. Zur linken und zur rechten Seite lagen die Zimmer.

Der Herr führte uns in ein Empfangszimmer, das gleich links neben dem Eingang war, wo er unsere Pa-piere kontrollierte.

„Ejnar Holm“, las er auf meinem Ausweis und sprach den Namen leise vor sich hin.

„Sie sind Deutscher?“, sagte er fragend und blickte mich dabei zweifelnd an. Dann fügte er aber gleich bei: „Entschuldigen Sie“ und gab mir durch den Ausdruck seines Gesichts zu verstehen, dass die Antwort auf seine Frage durch meine Uniform ja gegeben sei und er demzufolge von mir keine weitere Antwort mehr er­warte.

Trotzdem antwortete ich ihm und sagte: „Ja, aber meine Mutter ist Schwedin. – Den Vater habe ich vor zwei Jahren verloren“, fügte ich noch bei. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich es sagte.

Dann schritt uns der Mann durch den langen Gang voran. Vor einer Tür blieb er stehen. „Hier ist noch ein Bett frei. Es ist ein Zweierzimmer“, sagte er und klopfte an die Tür. Ein Unteroffizier öffnete, und wir wurden einander vorgestellt. Walther entschloss sich, dieses Zimmer mit dem andern zu teilen.

Wir gingen weiter. Fast zu hinterst blieb der Mann wieder stehen, öffnete eine Tür und sagte: „Das ist nun Ihre Kammer.“

Aus einem anderen Zimmer, dem unsrigen schräg gegenüber, trat eine kleine, schwarzhaarige Frau.

Der Herr stellte uns vor – er hatte unsere Namen noch im Gedächtnis – und stellte uns die Frau als seine Gattin vor. Aus der Art, wie die beiden miteinander sprachen, merkten wir, dass sie Schweizer waren. Die Frau allerdings war, wie wir später erfuhren, ebenfalls gebürtige Deutsche, aber sie sprach mit ihrem Mann immer schweizerdeutsch oder italienisch, und zwar, ob sie in dieser oder jener Sprache redete, mit einer so wohlklingenden, warmen Stimme, dass man sie einfach gerne sprechen hörte. Ob sie dem Hausburschen, der Orfèo hieß, in den Hof hinunter rief oder ob sie die beiden Kätzchen Remèo und Julietta beim Namen rief oder ob sie mit einem von uns sprach, immer tönte es gleich lieb und mütterlich.

In der ersten Nacht schliefen wir ausnehmend gut. Wir waren müde gewesen von der langen Fahrt und waren nun froh, wieder einmal in einem weichen Bett schlafen zu können.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?