Buch lesen: «Sie nannten mich Unkraut», Seite 2

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In der Schule

In der Schule ist es besser als zu Hause.

Aber in der Schule muss ich immer

an zu Hause denken.

Was ist mit Jäckie?

Was ist mit Marcel?

Ich kann dem Lehrer schlecht zuhören.

Meine Gedanken springen wie Flöhe hin und her.

Kein Gedanke bleibt da,

wo er sein soll.

Und deshalb weiß ich auch die Antworten nicht.

Der Lehrer spricht ruhig.

Er spricht mit Worten,

die ich nicht kenne.

Diese Worte machen mich oft müde.

„Jakob! Jakob?“

Ich schrecke auf.

Der Lehrer steht direkt neben mir.

Die anderen Schüler kichern leise.

„Weißt du die Lösung?“

Welche Lösung?, denke ich.

Welche Lösung von was?

„Erlöse uns von dem Bösen …“

Dieser Satz von dem Pfarrer fällt mir jetzt ein.

Bei der Taufe von Marcel hat er das gesagt.

Alle haben den Satz mitgesprochen.

Erlöse uns von dem Bösen.

Aber was ist dieses Böse?

Ich habe es in der Kirche nicht verstanden.

Und alle haben gelogen,

als sie gebetet haben.

Alle aus meiner Familie.

Jetzt sitze ich hier in der Schule.

Und ich soll sagen, was die Lösung ist.

Aber ich verstehe die Worte genauso wenig wie in der Kirche.

Ich fühle mich fremd an diesen Orten.

In der Kirche.

In der Schule.

Weil mein Leben zu Hause ganz anders ist.

Wir reden nicht.

So wie in der Schule.

Wir singen nicht.

So wie in der Kirche.

Wir suchen nicht nach Lösungen.

Wir haben einfach kein Geld.

Darum geht es bei uns zu Hause.

Ums Geld.

Und nur um die Sorgen ums Geld.

Nach der Taufe war meine Mutter wütend:

„Deine Schwester hat nur 20 Euro gegeben“,

schreit sie meinen Vater an.

Mein Vater schreit zurück:

„Und dein Bruder hat alles weggesoffen.“

Meine Mutter schreit weiter:

„Du warst doch selbst besoffen.

Und das bei der Taufe von unserem Sohn!“

„Unser Sohn?“, brüllt mein Vater.

„Woher weiß ich denn, welches Kind von mir ist?

Wer weiß, in welchen Betten du dich rumtreibst.“

Ich liege in meinem Zimmer.

In unserem Zimmer.

Wir haben nur ein Kinderzimmer.

Jäckie, Marcel und ich.

Ich höre, was meine Eltern sagen.

„Jakob ist ein Bastard“, sagt mein Vater.

Wieder ein Wort, das ich nicht verstehe.

Bastard ist bestimmt kein Schul-Wort.

Dieses Wort darf man in der Schule

ganz bestimmt nicht sagen.

Das spüre ich.

Weil mein Vater dieses Wort so böse ausspricht.

„Den Jakob hast du doch von einem anderen Kerl.“

„Wie kommst du denn da drauf?“,

schreit meine Mutter.

„Der ist nicht wie wir“, sagt mein Vater.

„Wie wir?“, schreit meine Mutter.

„Na, nicht wie ich!“, schreit mein Vater.

„Der ist zu weich.

Wie der mit Jäckie und Marcel rummacht.

Das ist doch kein Kerl, der Jakob.

Der denkt zu viel.

Ein Träumer ist das.

Ein Spinner.

Ein Weich-Ei.

Der kommt nie durchs Leben!“

In der Schule soll ich nachdenken.

Und auf Fragen antworten.

Aber hier zu Hause soll ich mein Maul halten.

Das habe ich gelernt.

Sonst nichts.

Deshalb mogele ich mich überall durch.

Zu Hause genauso wie in der Schule.

Am besten sind die Tage,

an denen ich nicht zu Hause bin

und auch nicht in der Schule.

Ich schwänze, so oft es nur geht.

Ich gehe so wenig wie möglich zur Schule.

Die Schule schickt einen Brief an meine Eltern.

„Was schreiben die?“, fragt mein Vater.

„Ist nur eine Einladung zum Eltern-Abend“, lügt meine Mutter.

Ich höre es aus der Küche.

Der Lehrer hatte mich vorgewarnt:

„Wenn du noch einmal fehlst,

gibt es einen Brief an deine Eltern.“

Meine Mutter lügt,

um mich zu schützen.

Sie hat doch noch so was wie Mutter-Liebe.

Aber vielleicht hat sie auch nur Angst vor meinem Vater.

Wenn der Alte wütend ist,

ist er auch für sie gefährlich.

Zehn Jahre

Ich habe sie geschafft!

Diese furchtbaren zehn Jahre.

Zehn Jahre Schule!

Endlich bin ich da raus.

Einen Abschluss habe ich nicht geschafft.

Aber ich bin frei.

Ich bin frei!

„Du kommst mit auf den Bau!“, sagt mein Vater.

Auf den Bau heißt:

Ich soll mit ihm auf der Baustelle arbeiten.

„Was anderes kriegst du sowieso nicht“, sagt mein Vater.

Damit meint er meinen Schul-Abschluss.

Den Abschluss,

den ich nicht geschafft habe.

Ohne Abschluss keine Arbeit.

Das haben sie mir schon in der Schule immer wieder gesagt.

„Du hast keine Chance im Leben“, hat der Lehrer gesagt.

„Du musst lernen, damit du was wirst.“

Ich habe nicht einmal das verstanden:

damit du was wirst …

Ich hatte keine Zeit und keine Ruhe,

um über so was nachzudenken.

Die Gedanken sind frei …

Aber für wen?

Ich heiße Jakob Gärtner.

Ich will nichts werden.

Ich will einfach nur leben.

Ich will nur meine Ruhe.

Sonst nichts.

Auf keinen Fall will ich mit dem Alten

zusammen auf den Bau!

„Morgen früh“, sagt er.

„Um sechs bist du fertig!“

Ich sehe meine Mutter an.

Meine Mutter sieht weg.

Ich sage nichts.

Und dann denke ich:

Ich bin nicht der Papa von Jäckie und Marcel.

Ich bin auch nicht der Beschützer von Mama.

Ich kann nicht alles verhindern,

was hier scheiße läuft in unserer Familie.

Ich kann und will hier nicht bleiben!

Erlöse mich von dem Bösen.

Das haben sie in der Kirche gesagt.

Bei der Taufe von Marcel.

Wo ist denn jetzt dieser Gott?

Warum hilft er mir nicht?

Warum gibt er mir keinen Rat?

Ich kann doch nicht abhauen

und die Kleinen alleine lassen.

Das wäre doch böse, oder nicht?

„Ich komme nicht mit!“, sage ich.

„Ich gehe nicht mit dir auf den Bau!“

Mein Vater sieht mich wütend an.

Meine Mutter versucht, ihn zurückzuhalten.

Ich gehe in Deckung, bevor er zuschlagen kann.

„Raus!“, schreit er.

„Verschwinde, du Bastard!“

Ich hatte schon immer eine kleine Tasche gepackt.

Für alle Fälle.

Ich hatte sie unter dem Bett versteckt.

Ich hole sie jetzt aus dem Kinderzimmer.

Ich küsse Jäckie.

Ich küsse Marcel.

Zum Glück sind die Kleinen nicht wach geworden.

Meine Mutter steht hilflos an der Tür.

Ich laufe mit der Tasche an ihr vorbei.

Runter ins Treppenhaus.

Ich laufe durch die Nacht.

Ich laufe in den Park.

Auf einer Bank kann ich endlich ausruhen.

Hier will ich schlafen.

Endlich schlafen. Endlich ohne Angst.

Ich rieche einen süßen Duft.

Den Duft von Pflanzen.

Von Blumen, deren Namen ich nicht kenne.

Alles ist leise.

Manchmal raschelt es im Gebüsch.

Was für schöne Geräusche!

Ich habe keine Angst.

Nur einmal weine ich.

Wegen Jäckie und Marcel.

Vielleicht werden sie ja vom Jugendamt gerettet.

Kindes-Wohl.

Das Wort habe ich irgendwo mal gehört.

Ein schönes Wort.

Ich schlafe wieder ein.

Ich träume.

Ich träume von den Blumen,

deren Namen ich nicht kenne.

Ich träume, dass ich Gärtner werde.

Ich, Jakob Gärtner.

Ich lache im Schlaf.

Ich träume, dass ich schlafe,

und ich träume, dass ich lache.

Schicksal

Manchmal ist das Leben wirklich verrückt.

Die Nacht war still und nicht zu kalt.

Ein Nacht-Vogel hat mich einmal geweckt.

Mit seinem Uhuu! Uhuu!

Ein einsamer Vogel, so wie ich.

Der hat mich sofort beruhigt.

Keiner ist wirklich alleine, habe ich gedacht.

Und bin wieder eingeschlafen.

Plötzlich werde ich wachgerüttelt.

Eine große Hand liegt auf meiner Schulter.

„Hey! Aufstehen!

Ist kein Hotel hier!“

Ich öffne die Augen.

Es ist taghell.

Vor mir steht ein Außerirdischer.

Ein großer Mann mit einem Helm.

„Du musst hier verschwinden.

Wir kommen mit den Maschinen:

Laubsauger und Rasenmäher.

Es ist zu gefährlich, wenn du hier liegen bleibst.“

Endlich verstehe ich:

Die Gärtner bringen den Park in Ordnung.

Jetzt oder nie, denke ich.

Der Traum von heute Nacht.

Man träumt doch nicht irgendwas.

Jeder Traum hat eine Bedeutung.

Einen Traum muss man sehr ernst nehmen!

Du musst alle deine Träume ernst nehmen!

Ich sehe den Mann an.

„Braucht ihr noch Helfer?“, frage ich.

Der Mann ist überrascht.

Er überlegt.

„Kannst du Unkraut?“

Ich verstehe seine Frage nicht.

„Ob du Unkraut ausreißen kannst, will ich wissen.

Ob du auf der Erde kriechen kannst und dieses elende Unkraut ausreißen kannst.

Oder bist du dir dafür zu schade?“

„Nein“, sage ich.

„Unkraut kann ich.“

Noch am selben Nachmittag habe ich einen Vertrag bekommen.

Als Gärtner zur Aushilfe.

Dabei verdient man nicht viel.

Aber das ist mir egal.

Hauptsache ich bin Gärtner.

Ich bin wer.

Auch wenn die anderen mich Unkraut nennen.

Weil ich immer nur auf den Knien rumkrieche.

Weil ich irgendwo in den Büschen verschwinde.

Und zwischen den Blumen das Unkraut ausreiße.

Trotzdem bin ich wer.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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