Wenn Luftschlösser flügge werden

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Wenn Luftschlösser flügge werden
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Marie Lu Pera

Wenn Luftschlösser flügge werden

… und wie Ravioli dein Leben verändern können

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

Eigentlich hätte ich viel früher mit den Bullen gerechnet. So gesehen, konnte ich mir noch ein Sandwich machen, ehe ich die Tür öffne, von der ich bis eben noch lautstarkes Poltern vernommen habe. Bevor die Cops sie eintreten, mache ich lieber freiwillig auf.

Zu meiner Verblüffung, die ich mit angehobenen Augenbrauen kundtue, steht Richard vor mir.

„Wo ist er?“, verlangt er aufgebracht. „Und lüg mich ja nicht an, denn ich weiß ganz genau, wer das ist.“ In dem Moment hält er mir ein Bild von einer Überwachungskamera ins Gesicht.

„Das ist Schwester Rose im Putzkittel“, erkläre ich schulterzuckend.

Wo ist er?“, verleiht er seinen Worten von zuvor Nachdruck.

Ich lächle. „Es geht ihm gut.“

„Wo hast du ihn hingebracht, Rose?“, fordert er.

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Kannst du nicht oder willst du es nicht?“, hakt er ungeduldig nach. Dabei lässt er seinen Blick über meine Schulter hinweg gleiten, um sich auf die Suche nach Spuren des Verbleibens des Gesuchten zu machen.

„Beides irgendwie. Adam hat gesagt, er meldet sich bei euch, wenn er so weit ist“, antworte ich.

Verdammt Rose!“, flucht Richard haareraufend. „Sag schon, wo mein Bruder ist. Um deinetwillen.“

„Tut mir leid, Richard“, weigere ich mich weiterhin.

Er schüttelt den Kopf. Im nächsten Augenblick zieht er sich etwas aus dem Türrahmen zurück und Cops treten an seine Stelle, von denen mir einer einen Durchsuchungsbeschluss unter die Nase hält, während mich der andere festnimmt, nachdem ziemlich schnell klar war, dass man in meiner winzigen Bude niemanden verstecken kann.

********

Zwei Jahre zuvor

Juhuuuuuuu!!!

Ein Junge aus meiner Schule ist gerade mit seinem Motorrad jauchzend an mir vorbeigezogen und verpasst mir so richtig schön einen Beinaheherzinfarkt. Vor Schreck bin ich sogar vom Weg abgekommen und lande mit meinem Fahrrad direkt im Straßengraben.

Dieser Angeber.

Vor Wut brülle ich ihm ein „JA, GIB GAS! DIE WELT BRAUCHT ORGANSPENDER!“ hinterher, bevor ich mich hochrapple und mir den Dreck von der Hose klopfe, die total im Eimer ist. Ich hab mir sogar das Knie aufgeschlagen.

Wunderbar.

Kann dieser Vollidiot von Möchtegern-Rowdy nicht woanders einen auf Adrenalinjunkie machen? Warum ausgerechnet heute und auf dieser Straße? Müsste er nicht zu Hause sein und … keine Ahnung … Dinge machen, die Jungs in seinem Alter so tun? Mit Mädchen rummachen oder auf seine Playstation einhacken.

Und sagt mir mal einer, wieso dieser Angeber eigentlich alle Klischees auf einmal erfüllen muss? Reich. Beliebt. Arrogant. Rebell.

In der Schülerzeitung stand mal, dass er angeblich gesagt hätte, das Wort „Nein“ würde in seinem Sprachgebrauch nicht existieren. Na dann kommt er hoffentlich nie in den Genuss, meine Kindergartentante kennenzulernen. Bis ich vier war hab ich dort praktisch auf den Namen „Nein“ gehört. War ja klar, dass sie mir die Schuld in die Schuhe schiebt. So viel dazu, dass das Spielzeug schwer entflammbar ist.

Die Motoren seiner Maschine heulen erneut abartig laut auf. Unglaublich, dass er denkt, so etwas würde Mädchen imponieren. Naja, so unglaublich ist das auch wieder nicht – immerhin zieht er die Mädels an wie ein Staubsauger Fussel. Bei mir löst das allerdings alles andere als Bewunderung aus – eher so etwas wie ernsthafte Bedenken, ob er mit dem Lebensstil einundzwanzig wird.

Als ich mich gerade wieder aufs Rad schwingen will, erkenne ich, dass ich einen Platten habe. Toll.

„GANZ TOLL. DENKST WOHL, NUR, WEIL DU DER BASKETBALL-STAR DER SCHULE BIST, KANNST DU DIR ALLES ERLAUBEN. ABER NUR ZUR INFO: DIE BUNTEN SCHILDER AM RAND DER STRASSE, DIE UNBEACHTET AN DIR VORBEIGEZOGEN SIND, GELTEN AUCH FÜR DICH“, mache ich meinem Ärger Luft. „ABER AUF DEINE SPORTLERLEBER WARTEN SIE WAHRSCHEINLICH IM KRANKENHAUS SCHON SEHNLICHST“, setze ich gleich noch hinterher.

Als ob er mich hören könnte. Der ist bald über alle Berge. Außerdem macht das Teil einen Höllenlärm, der schön langsam im Canyon verhallt. Zurück bleiben Emissionen und eine kurzzeitige Ausschüttung von Testosteron, die ihn wahrscheinlich sogar berauscht. Und wofür das alles? Für den kurzzeitigen Nervenkitzel.

Ich bin immer noch dabei, meinen Frust in mich hinein zu murmeln, da ertönt plötzlich ein abartig lautes Reifenquietschen gefolgt von einem Crash, der mir durch Mark und Bein geht.

Einige Sekunden brauche ich, um zu realisieren, was hier gerade passiert ist, weil mein Herz so schnell klopft, aber im nächsten Moment funktioniert mein Gehirn wieder so einigermaßen und setzt erste Impulse, die mich dazu bringen, mein Rad fallenzulassen und loszulaufen.

Wie eine Irre sprinte ich die kurvenreiche Bergstraße hinauf. Es fühlt sich so an, als würde mich ein fremder Körper den Asphalt, der sich in Form einer Schlange ins steile Gelände gefressen hat, entlang tragen, ohne dass ich dabei einen einzigen klaren Gedanken fassen kann.

Das ändert sich auch nicht, als ich mich der Unfallstelle nähere und das Motorrad sehe – korrigiere: Die qualmenden Überreste dessen, was mal ein Motorrad war – das richtig schlimm aussieht. Eigentlich erkennt man die ursprüngliche Form gar nicht mehr – es hat eher Ähnlichkeit mit einer zerdrückten und achtlos weggeworfenen Blechbüchse.

Und da ist gerade nur ein Gedanke, der sich durch meine Hirnwindungen schlängelt: Jetzt weiß ich, wieso sie die Dinger „Höllenmaschine“ nennen. Ich schüttle den Kopf, um mich von dem Bild der lodernden Flammen, das mich gefangen nimmt, zu befreien.

„ADAM!“, brülle ich in der Hoffnung, er wäre vor dem Crash mit der steilen Felswand, die in einer Haarnadelkurve liegt, abgesprungen.

Stille.

Nein. Das ist jetzt nicht wahr. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so.

Mein Atem geht stoßweise. Panisch suche ich die Umgebung nach allem, das Ähnlichkeit mit einem Menschen haben könnte, ab, finde aber nur Schrottteile vor. Ich versuche, mich an die Farbe seiner Motorradkluft zu erinnern, schaffe es aber nicht, mich darauf zu konzentrieren. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Wenn sein Anzug schwarz ist, mindert jede Minute, in der ich hier tatenlos rumstehe, die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn finden kann, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Ich raufe mir die Haare und zwinge mich dazu, ruhig zu bleiben. Zuerst suche ich hinter den großen, losen Felsbrocken, die sich im Laufe der Zeit von der steilen Felswand gelöst haben und am Straßenrand liegengeblieben sind.

Nichts.

Als ich an die Leitplanke herantrete, trifft mich fast der Schlag. Dort unten liegt ein lebloser Körper in der Böschung.

„ADAM!“ Er bewegt sich nicht – wurde wohl vom Motorrad geschleudert und ist hier runtergefallen. Auf einem kleinen Plateau ist er dann zu liegen gekommen. Ein paar Meter weiter und er wär den Abgrund hinuntergestürzt.

Mir schwant Schlimmes.

Wie in Trance trete ich über die Absperrung und rutsche das steile Gelände hinab. Immer wieder verliere ich im losen Geröll Halt und schlittere auf dem Po abwärts. Dabei zerkratze ich mir die Arme an den messerscharfen Felsbrocken, die sich unter meinem Körper lösen und in die Schlucht fallen. Ich schlucke schwer und versuche, mich an den herausragenden Wurzeln der Sträucher, die hier wachsen, festzuhalten.

Bloß nicht runtersehen.

Im Nu habe ich ihn erreicht. Er liegt auf dem Rücken – regungslos. Würde er nicht der Einzige sein, der in der Gegend so ein Motorrad fährt, würde man ihn gar nicht erkennen – in dem schwarzen Lederanzug und dem abgedunkelten Helm. Es wär einfach nur ein Fremder, dem etwas Schreckliches zugestoßen ist. Das wär so schon schrecklich genug gewesen.

 

Bedauerlicherweise sind wir uns nicht fremd.

„Adam!“, flüstere ich eingeschüchtert.

Stille.

Okay, Hilfe! Ich muss Hilfe holen – bringt mein Gehirn einen halbwegs brauchbaren Gedanken zustande.

Mit zitternden Fingern taste ich ihn nach seinem Handy ab, das ich ihm aus der Brusttasche ziehe und den Notruf wähle.

Irgendwie stammle ich nur zusammenhangloses Zeug, als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldet. Es würde mich wundern, wenn die Frau kapiert hätte, was ich von ihr will, aber mehr ist gerade nicht drin.

Als sie mich fragt, wie schlimm der Verunglückte verletzt ist, lasse ich das Telefon einfach fallen und knie mich neben Adam.

Woher soll ich das wissen? „Bin ich Arzt, oder was?“, schimpfe ich in Gedanken.

„Adam“, versuche ich es erneut mit kratziger Stimme, die kaum mir zu gehören scheint, doch er gibt kein Lebenszeichen von sich.

Durch das schwarze Visier seines Helmes kann ich sein Gesicht nicht erkennen. Sein Körper ist nicht unnatürlich verdreht und er scheint nirgends zu bluten, aber er könnte innere Verletzungen haben. Immerhin ist er tief hinuntergestürzt.

Okay, keine Panik – beweg dich endlich, tadle ich mich selbst. Du weißt, wie so etwas funktioniert. Ich taste nach seinem Hals, schiebe das Leder weg und fühle seinen Puls. Nichts. Verdammt.

Ein gequälter Laut entweicht mir. Ich presse die Augen zusammen und wiederhole „Du kannst das“ wie ein Mantra, während ich den Erste-Hilfe-Kurs gedanklich abspule, den Verschluss seines Helms öffne und ihn vorsichtig vom Kopf ziehe. Dabei passe ich auf, seinen Kopf so wenig wie möglich zu bewegen.

Er sieht aus, als würde er schlafen, was mich grad noch mehr mitnimmt. Seinen einst rosigen Wangen ist eine fahle Blässe gewichen. Es ist so, als wäre das Leben aus ihm zurückgewichen. Kunststück: Er hat ja keinen Puls. Obwohl ich das eben kontrolliert habe, lässt mich die Erkenntnis zusammenzucken.

Er ist tot. In diesem Moment.

Bei mir hat Schnappatmung eingesetzt. Meine Hände zittern so stark, dass ich sie zu Fäusten ballen muss.

„JETZT REISS DICH ZUSAMMEN!“, brülle ich mich selbst an.

Mein Kopf ist total leer, als ich beginne, ihn zu reanimieren. Ich zähle nicht mal mit – auch dafür bin ich zu verängstigt, weil sich seine Lippen so kalt anfühlen. Das bringt mich grad dermaßen aus dem Konzept. Außerdem weiß ich beim besten Willen nicht mehr, wie oft man einen Patienten beatmen muss, bevor man die Herzmassage macht. Ich bin sicher, hätte mich vorhin jemand gefragt, hätte ich es noch gewusst – und das ohne großartig überlegen zu müssen. Aber jetzt – jetzt ist alles anders.

Wie ein Roboter versuche ich einfach, Luft in seine Lunge zu bekommen und mich fest auf seine Brust zu stemmen.

Ich habe Angst, ihm die Rippen zu brechen oder so fest zu pusten, dass das seine Lungenflügel nicht aushalten könnten. Gerade weiß ich nicht mal mehr, ob das überhaupt die richtige Stelle ist, an der ich drücke.

Ich hätte besser aufpassen sollen, als uns die Schulkrankenschwester alles erklärt hat. Obwohl ich sicher war, alles kapiert zu haben, zweifle ich gerade an meinem Erinnerungsvermögen, das nur vage und total verschwommen die Szene der Schüler, die um die Übungspuppe herumstehen, preisgibt.

Plötzlich habe ich Angst, dass sein Herz womöglich schon schlagen könnte und ich mit meinen laienhaften Beatmungsversuchen alles nur noch schlimmer mache. Daher halte ich inne und taste erneut nach seinem Puls.

Nichts.

Ich lege sogar mein Ohr auf seine Brust, um ganz sicher zu sein. Auch nichts.

Erneut beginne ich, sein Herz zu massieren. Ich mache einfach weiter. Was soll ich denn sonst machen? Tränen laufen mir unentwegt über die Wangen, so total überfordert bin ich mit dieser Situation.

Das dauert alles viel zu lange. Verdammt, wo bleiben denn die Leute, die für sowas ausgebildet sind? Sie haben sicher so ein Elektroschocker-Ding bei sich, das ihn zurückholen kann.

Mir wird gerade klar, dass es ewig dauern kann, bis sie hier sind. Wir sind hier auf einem Bergpass – mitten im Nirgendwo.

Ich hätte den Unfallort irgendwie markieren sollen. Ihnen eine genauere Beschreibung geben können oder … ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich hab alles falsch gemacht.

In regelmäßigen Abständen kontrolliere ich seinen Puls, aber kann nichts spüren. Ich zweifle sogar kurz an mir selbst, ob ich die Stelle vielleicht nicht genau erwischt habe, wo man den Herzschlag fühlen kann. Womöglich lebt er ja noch und durch meine amateurmäßigen Wiederbelebungsversuche bringe ich ihn wahrscheinlich erst recht um.

Erneut kontrolliere ich den Puls an der anderen Seite seines Halses und am anderen Handgelenk – um ganz sicher zu gehen und mein menschliches Versagen auszuschließen. Da ist nichts, absolut gar nichts. Naja, bis auf meinen Herzschlag, der so stark pocht, dass er für uns zwei schlagen könnte.

„Adam, komm schon. Hilf mir mal ein bisschen. Mach die Augen auf“, ist mein jämmerlicher Versuch, mich selbst zu beruhigen, während ich nur noch am Zittern bin.

Die Minuten vergehen und ich hab schon keine Kraft mehr, für mich selbst Sauerstoff zu produzieren, geschweige denn für jemanden anderen. Darüber hinaus kündigt ein Pfeifen in meinen Ohren nichts Gutes an. Ist wohl der verzweifelte Versuch meines Körpers mir klarzumachen, dass ich nicht genug Luft für mich selbst übriggelassen habe.

Ein paar Tiefe Atemzüge sollen mich davor bewahren, umzukippen. Obwohl es jetzt besser geht, fühle ich mich immer noch schwach und ein dumpfes Gefühl macht sich schön langsam in meinem Kopf breit. Ich presse die Augen zusammen, um den Schwindel zu vertreiben, der immer wieder meinen Blick verschwimmen lässt, und mache stoisch weiter.

Grad bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ich einen Notruf abgegeben habe. Womöglich hab ich mir das nur eingebildet oder sie finden die Stelle nicht nach meiner Wegbeschreibung. Was hab ich überhaupt gesagt? Wie lange ist das her? Ich erinnere mich nicht.

Erneut entweicht mir ein gequälter Laut, da Adam sich immer noch nicht rührt. Er müsste doch nach Luft schnappen und die Augen aufreißen. Im Film passiert das doch ständig. Die Leute husten kurz und kommen dann wieder zurück. Das ist aber kein Film, sondern die Realität, belehre ich mich selbst eines Besseren.

Ich kann nicht mehr – will gerade heulend auf seine Brust sinken, weil ich einfach nur unsagbar erschöpft und überfordert bin, da höre ich die Sirenen von weiter Ferne. Zuerst dachte ich, ich hätte es mir eingebildet, aber dann sehe ich die Lichter auf den Bäumen flackern.

Mir fällt ein Stein vom Herzen, denn ich bin froh, die Verantwortung über sein Leben an jemanden abgeben zu können, der Ahnung hat, was mich gerade echt noch mehr fertigmacht.

Man sollte doch zuallererst eigentlich froh sein, dass ein Arzt eintrifft, der dem Verletzten hilft. Bin ich echt so egoistisch? Was ist denn bloß los mit mir?

„HIER. WIR SIND HIER!“, brülle ich, nachdem ich knallende Autotüren höre. Woher ich die Kraft für eine halbwegs starke Stimme nehme, weiß ich selbst nicht.

Am Rand der Böschung über mir tauchen schon Rettungssanitäter auf. Und als hätte mein Körper darauf gewartet, endlich zusammenklappen zu dürfen, wird mir im nächsten Moment auch schon schwarz vor Augen.

*********

„Hallo. Hallo. Aufwachen!“ Jemand tätschelt mir die Wange, da reiße ich die Augen auf. Es ist einer der Sanitäter. Neben mir hieven sie gerade Adam, den sie auf eine von diesen Bergungsliegen geschnallt haben, die Böschung hoch.

Es war also kein abartiger Alptraum. So viel dazu.

„Alles in Ordnung?“, fragt mich der junge Mann, den ich auf etwa einundzwanzig schätze. „Bist du hinten auf dem Motorrad gesessen?“ Seh ich so aus?

„Ja“, ich schüttle energisch den Kopf, „Nein, helfen sie ihm, nicht mir“, schnauze ich ihn volle Breitseite an. Okay, ich hab gerade echt keine Nerven mehr. Er runzelt die Stirn, packt aber sogleich mit an.

Gefühlte zehnmal rutsche ich aus und knalle mit den Knien auf die spitzen Steine, die den Hang säumen, aber es ist mir egal. Irgendwie spür ich grad meinen Körper gar nicht richtig.

Nur bruchstückhaft bekomme ich mit, dass mich jemand am Ellbogen schnappt, mich in den zweiten Rettungswagen zieht und mich auf einen Sitz drückt.

Dabei fixiere ich die Lichter der sich drehenden Signalbeleuchtung, die in regelmäßigen Abständen meine Füße beleuchtet und flehe innerlich, ob das nicht doch bitte ein böser Traum sein kann.

*******

„Junge Dame? Junge Dame?“ Jemand stupst mich am Arm an, was mich hochschießen lässt. Vor mir stehen zwei Officer, die mit ihren Uniformen und den Waffen ganz schön respekteinflößend aussehen. Einer von ihnen ist groß und schlank – der andere eher pummlig. Irgendwie haben sie Ähnlichkeit mit Dick und Doof.

Aufgebrachte Stimmen lassen mich meinen Blick von den zwei Cops abwenden und mich der Frau zuwenden, die gerade lauthals die Stationsschwester zur Schnecke macht, weil sie wissen will, was mit ihrem Sohn passiert ist.

Es ist Adams Mum. Sie ist im Elternbeirat und kommt mir manchmal auf dem Schulhof entgegen, wenn sie zu einer der Versammlungen in die Schule kommt. Nicht, dass sie mich jemals beachtet hätte. Ihre Parfumfahne, die mich jedes Mal eingehüllt hat, als sie majestätisch an mir vorbeigestöckelt ist, ist aber anhaften geblieben. Zumindest steigt sie mir jedes Mal in die Nase, wenn ich sie sehe – auch wenn das manchmal aufgrund der zwischen uns herrschenden Distanz und der aktuellen Windrichtung gar nicht möglich ist. Das passiert übrigens gerade. Der süße Duft nach Sandelholz mit dieser Prise Zitrone fühlt sich irgendwie tröstlich an.

Adams Dad steht neben ihr und versucht, sie zu beruhigen – mit minderem Erfolg wohlgemerkt.

„Beruhige dich, Eireen“, beschwört er sie und blickt um sich. So, als würde er sich für ihren furienreifen Auftritt schämen. Glücklicherweise bemerkt er mich nicht. Er ist schlank, groß gewachsen und hat graues, dichtes Haar. Die Mandelaugen hat Adam auf jeden Fall von ihm geerbt. Das kantige Gesicht mit der schmalen Nase auch.

Doof deutet auf meine aufgeschlagenen Knie. „Das sollte sich ein Arzt ansehen“, ruft er der Stationsschwester zu. Toll. Musste das jetzt sein?

„Sie hat jegliche ärztliche Hilfe verweigert“, verpetzt sie mich volle Breitseite. Mann, hak das doch ab. Tja, das wird wohl immer zwischen uns stehen – ihrem rechthaberischen Blick und den vor der Brust verschränkten Armen zufolge.

Das ruft natürlich Adams Eltern auf den Plan. Wie auf ein stilles Zeichen hin, wenden sie sich uns zu, blicken zuerst auf die Officer, meine blutigen Knie und dann auf mich. Adams Mum stellt gerade die nötigen Zusammenhänge her, dass wir – entgegen der Stationsschwester – etwas wissen könnten und peilt uns an. So viel dazu. Ihre Aufmerksamkeit ist mir wohl ab jetzt sicher.

Einer der Cops – Dick – zieht mich in dem Moment in einen kleinen Raum, der stark nach Schwesternzimmer Schrägstrich Kaffeeküche aussieht, während Doof hinter mir durch die Tür schlüpft und sie mit seinem Körper verbarrikadiert, da Adams Mum versucht, hier reinzukommen. Dabei hört man sie von draußen aus schimpfen und die Türklinke scheppern.

Ich lasse es wehrlos geschehen, da ich mich kaum im Griff habe und wohl auf Führung von außen angewiesen bin.

Ich bin immer noch voll am Zittern und grad so durcheinander, dass sich mein Kopf komisch anfühlt, als wär darin nichts als ein Vakuum. So gesehen, macht mein Spiegelbild, das ich im Vorbeigehen in einem kleinen, an der Wand hängenden Rahmenspiegel erhasche, die Sache auch nicht gerade besser. Salzige Krusten von getrockneten Tränen ziehen sich über meine Wangen, die bleicher nicht sein könnten. Meine grauen Augen wirken fahl und leblos. Die schmalen Lippen sind aufgerissen und lechzen nach Feuchtigkeit. Braune Strähnen haben sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst und hängen mir ins Gesicht. Ich hab nicht mal mehr die Kraft, meine Hand zu heben und sie mir aus der schweißnassen Stirn zu streichen.

„Laut den Sanitätern warst du – ich darf doch du sagen – die Erste an der Unglücksstelle, als der Notarztwagen eingetroffen ist“, beginnt Dick und erlöst mich von meinem Anblick. Wird das jetzt so etwas wie eine Vernehmung fürs Unfallprotokoll, oder so?

Mehr als ein Nicken ist nicht drin.

„Hast du den Unfall gesehen?“, will sein Kollege von der Tür aus wissen.

 

Ich schüttle den Kopf.

„Erzähl uns genau, was passiert ist“, fordert Dick.

„Ähm.“ Ich reibe mir den pochenden Schädel und versuche, mir einen Satz zurechtzulegen, der Sinn ergibt. „Keine Ahnung, er ist den Abhang runtergestürzt.“

Mehr ist wieder nicht drin.

„War der junge Mann mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs?“, will Dick wissen.

Das ist eine dieser Fangfragen, mit der sie Adam alles in die Schuhe schieben wollen. Die nehmen ihm sicher auch Blut ab, um festzustellen, ob er angetrunken war oder unter Drogeneinfluss stand. Ob es wahr ist, was alle sagen? Dass er in Clubs weißes Zeug schnupft. Ist sicher nur dummes Gerede.

Dick schnippt mir ins Gesicht, was mich schlagartig aus meinen Gedanken reißt. „Ist er schnell gefahren?“, formuliert er die Frage um, so als würde er vermuten, ich hätte sie beim ersten Mal nicht kapiert.

War er zu schnell? Ich weiß nicht. Schon irgendwie. Kann man mit dem Ding überhaupt langsam fahren? Kippt man da nicht zur Seite? Ist das nicht der Sinn an solchen Höllenmaschinen? Ans Limit zu gehen, meine ich.

Höllenmaschine … ob Adam es schaffen wird? Was, wenn nicht? Was, wenn das mit dem Elektroschocker-Ding zu spät gekommen ist.

Erneut schnippt er mit den Fingern. „Hallo? Krieg ich heute noch eine Antwort?“, verlangt er gelangweilt.

„Ich weiß es nicht. Ich hatte kein Messgerät, wenn Sie das meinen“, motze ich erschöpft. Wieso lüge ich? Oder sage ich die Wahrheit? Naja, er war schon schnell unterwegs. Aber war das zu schnell? Wie schnell darf man dort überhaupt fahren? Wenn er tot ist, ist das doch egal, oder? Und wenn er lebt doch auch. Was rede ich hier eigentlich?

„Aber du hast doch einen subjektiven Eindruck. Ist er an dir vorbeigebraust?“, hakt Doof nach, der gerade ein winziges Stück vorwärtsgetaumelt ist, weil Adams Mum so stark gegen die Tür drückt. Sogleich stemmt er sich wieder dagegen.

Ich hebe ratlos die Schultern hoch. „Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Da ging es bergauf. Da ‚braust‘ sogar ein vollbeladener Truck an einem vorbei“, raune ich. Sie senden sich Blicke zu, die irgendwie stark ins Genervte übergehen.

„Kennst du den Unfalllenker?“, ist Dicks nächste Frage.

„Ja. Adam Laurren. Wir gehen in dieselbe Klasse“, antworte ich.

„Seid ihr befreundet?“, will einer von ihnen wissen.

Ich schüttle den Kopf und verdränge die Bilder, als ich Adam den Helm vom Kopf gezogen habe wieder ins hinterste Hinterstübchen zurück. Ich streiche mir über die Lippen, da ich die Kälte, die von ihm ausging, immer noch darauf spüren kann.

Er sah so friedlich aus – ha, wie soll man denn sonst bitteschön aussehen, wenn man tot ist – werfe ich mir in Gedanken vor. Aber sogar seine braunen, lockigen Strubbelhaare, die ihm immer überall abstehen, sodass er sie ständig aus der Stirn streichen muss, hatten ihren Glanz verloren. So als wär er eine Blume, die langsam verwelkt.

Tränen fluten sogleich meine Augen. Sie haben ihn gleich in den OP gefahren. Was gerade mit ihm passiert, weiß ich nicht.

Ein weiteres Schnippen reißt mich aus dem Fixieren eines toten Punktes im Raum. Das nervt schön langsam.

„Du siehst etwas durcheinander aus“, stellt Dick fest. „Sollen wir deine Eltern anrufen, damit sie dich abholen kommen?“ Lass dein Mitleid stecken.

„Nein, ich komm schon klar“, winke ich ab. Wieder eine Lüge. Vom Klarkommen bin ich grad so weit entfernt wie ein armer Schlucker von einem Lottosechser.

„Wir fahren lieber zur Unfallstelle – hier kommen wir nicht weiter“, flüstert Dick Doof zu. Allerdings so laut, dass ich alles verstehen konnte.

„Deine Personalien haben wir ja von den Sanitätern“, stellt Doof fest. Echt? Wow, dass ich meinen Namen und Adresse richtig von mir geben konnte, wundert mich selbst grad am meisten. Muss wohl noch im Krankenwagen passiert sein. Das geschah wohl instinktiv automatisch, denn ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Die waren das dann wohl auch, die meine Schuhbänder mit den doppelten Maschen zugebunden haben. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich das war. Da hatte wohl jemand Humor – oder Kinder zu Hause.

„Wir melden uns, wenn wir noch Fragen haben. Sollte dir noch etwas Brauchbares einfallen, ruf im Büro des Sheriffs an.“ Mit den Worten sind sie auch schon zur Tür raus.

Die Art und Weise wie er die Worte „etwas Brauchbares“ betont hat, lässt mir Schauer über den Rücken gleiten. Es ist ihm egal, was hier passiert ist. Es ist für ihn reine Routine. Ein weiterer Fall für die Akten, der ihn vom Feierabendmachen abhält.

Ich ziehe die Knie hoch und presse sie an meinen Körper. Und was jetzt? Geht das Leben einfach so wieder seinen gewohnten Lauf? So als hätte man bei einer DVD kurz die Pause-Taste gedrückt, um aufs Klo zu gehen. Sollte ich mir einreden, das wär bloß alles ein Film gewesen, bei dem ich nur Zuschauer war? So viel Vorstellungskraft hab nicht mal ich – und ich bin eigentlich Meister im Luftschlösserbau.

Als ich ein paar Minuten später nach draußen trete, erwische ich Adams Eltern, die in eine lautstarke Diskussion mit den Bullen verwickelt sind.

„Mein Sohn nimmt keine Drogen oder trinkt Alkohol“, ruft Adams Dad aufgebracht, während seine Mum nur noch mit in die Hüften gestemmten Armen dasteht, als könnte sie die Beamten mit der puren Kraft ihrer Gedanken eins über die Rübe ziehen.

Naja, also da hab ich was anderes gehört. Immerhin sollen die Partys bei den Laurrens legendär sein. Naja, zumindest wenn Mum und Dad nicht zu Hause waren. Nicht, dass ich da jemals eingeladen gewesen wäre. Man hört geflüsterte Geschichten am nächsten Schultag und diejenigen, die mit der Bowle über die Stränge geschlagen haben, stechen deutlich hervor. Natürlich wussten sie nicht, dass da Alkohol drin war – wers glaubt.

Als mich die Laurrens erspähen, lösen sie sich vom Verhör der Cops, stapfen zu mir rüber und nehmen mich von beiden Seiten in die Mangel. Ich mache mich so klein wie möglich, damit ich weniger Angriffsfläche biete.

„HAST DU IHNEN DIESEN FLOH INS OHR GESETZT, MEIN SOHN WÄR EIN JUNKIE?“, brüllt mich sein Dad an und packt mich sogar am Kragen.

Ich bin wie erstarrt, schaffe es nicht mal, einen Piep von mir zu geben.

Was hast du ihnen erzählt? Was macht sie überhaupt hier?“, herrscht mich seine Mum an.

Die Cops eilen mir sogleich zur Hilfe. „Mister Laurren, das sind Standardfragen. Lassen Sie die Zeugin los“, verlangen sie. Zeugin?

Nun wendet sich Adams Mum wieder den Cops zu. „Sie glauben doch nichts, was dieses Mädchen ihnen gesagt hat. Sie will sich sicher nur wichtigmachen.“ Ja, vielen Dank aber auch. „Gar nichts hat sie gesehen. Mein Junge hat sich immer an die Verkehrsregeln gehalten.“ Naja, da wär ich mir aber nicht so sicher. „Wir sind rechtschaffene Bürger“, prustet sie mit stolzgeschwellter Brust.

Ihre Nägel graben sich in meinen Arm, da reiße ich mich los und stoße sie aus einem Impuls heraus von mir. Aua, das hat wehgetan.

Bei ihr hat Schnappatmung eingesetzt.

„Haben Sie das gesehen? Sie hat mich angegriffen“, petzt sie. Glücklicherweise geht keiner darauf ein. Naja, außer Mister Laurren, der mir droht, mich nach Strich und Faden zu verklagen. Dabei benutzt er das Wort „Rufmord“. Ich weiß nicht, was das genau bedeutet. Es zieht mich aber nur noch weiter runter. Vom Tod hab ich heute genug.

Mein Kopf tut weh und ich fühl mich total mies, also quetsche ich mich zwischen den Laurrens durch und laufe aus der Notaufnahme.

*******

Ein paar Tage später

„Miss Pears?“ Die Bullen sind hier – ich fass es nicht. Die kommen tatsächlich zu mir in die Arbeit. Alle kucken schon. Mein Vorarbeiter sieht alles andere als begeistert aus.

Ich versuche, die Gurken so gut es geht ins Glas zu stopfen, ohne die Arbeit am Fließband zu unterbrechen. Dann gibt’s nämlich richtig Ärger.

Zu meiner Verteidigung: Es sind Ferien und es bringt Kohle.

„Wir haben noch ein paar Fragen“, erklärt Doof ihr Auftreten.

„Ich muss arbeiten“, rede ich mich raus – darauf bedacht, den Kopf einzuziehen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit meiner Mitstreiter im Kampf Gurke gegen viel zu enges Glas abzukriegen.

„Das geht auch so. Beantworte uns einfach die Fragen, dann sind wir weg.“ Wieso klingt das grad wie eine Drohung?

„Wir haben dein Fahrrad gefunden. Ist ziemlich verbeult.“ Das wollte ich heute nach der Arbeit holen gehen. Toll. „Hat dich der Junge auf dem Motorrad abgedrängt?“, knallen sie mir gleich die Hammerfrage hin.

„Ich hab mich von dem Knall des Unfalls erschrocken und bin von der Straße abgekommen“, erkläre ich, ohne den Blick von den Gurken abzuwenden.

Wieso lüge ich schon wieder? Naja, Adam hat auch so schon genug Probleme, da braucht er nicht noch ein Verfahren wegen Körperverletzung. Falls er noch lebt – meldet sich die fiese Stimme in meinem Inneren zu Wort.

Sie sehen mich stirnrunzelnd an als ich zu ihnen aufschaue, nachdem sie nicht gleich etwas erwidern. Jetzt schluckt das schon, das klingt doch plausibel.

Einer der Typen schnappt sich eine Gurke und beißt herzhaft rein. Ohne Essig sind die eklig, was er auch gerade checkt und sie fast würgend wieder ausspuckt. Ich muss mir ein dämliches Grinsen verkneifen, das mir beim nächsten Gedanken gleich wieder vergeht.