Sieben Tage pures Leben

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Sieben Tage pures Leben
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Marie Lu Pera

Sieben Tage pures Leben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Noch sieben Tage

Noch sechs Tage

Noch fünf Tage

Noch vier Tage

Noch drei Tage

Noch zwei Tage

Noch ein Tag

Boston

Pures Leben

In den Straßen

Flaschenpost

Impressum neobooks

Noch sieben Tage

Irgendwo in Südengland

Schier endlos zieht die Gegend, die frei von jeglichen Spuren menschlicher Zivilisation zu sein scheint, an mir vorbei. Das ist definitiv zu viel „Nichts“ für meinen Geschmack.

Nach einem kurzen Waldstück biegt das Taxi ab und vor uns tut sich ein Eisentor auf, das komplett mit Efeuranken verwachsen ist.

Da es offen ist, fahren wir einfach durch.

Die Auffahrt wird von einer Allee gesäumt. Zwischendurch erhasche ich immer wieder Blicke auf gruslige Statuen, deren Fratzen mich bösartig anstarren.

Das ist definitiv ein Ort, der dir die Gänsehaut aufzieht. Und wenn ich geglaubt habe, es könne nicht schauriger werden, so habe ich nicht mit dem Spukschloss gerechnet, das sich vor mir auftut. Das volle Programm, sag ich nur. Was hatte ich eigentlich erwartet? Naja, definitiv nicht das Haus der Addams Family.

Der Taxifahrer hält mir die Türe auf und ein Windstoß lässt mich schaudern. Toll, gerade die Gänsehaut losgeworden, zieht sie erneut über meinen Körper.

Dem Fahrer scheint das hier auch nicht gerade geheuer zu sein. Sichtlich erleichtert schnappt er sein Geld und braust davon.

Unbeeindruckt – zumindest lasse ich mir nichts anmerken – steige ich die Treppen empor und klingle. Gefühlte zwei Minuten ertönt ein Gong, der sicher jeden einzelnen Hausbewohner (inklusive die Mäuse) aufgescheucht hat.

Der grusligste Butler, den ich jemals gesehen habe, öffnet die quietschende Türe und blickt zu mir herab. Wieso komm ich mir gerade winzig klein vor? Liegt vielleicht daran, dass er ein Zweimeter-Riese ist.

„Ist Anthony Drake da?“ Lurch – so heißt der Butler der Addams Family – fixiert mich angestrengt. Irgendwie passend der Name. Seine Augenbrauen, die er soeben überrascht anhebt, sind zusammengewachsen. Sieht echt abartig aus.

Einschüchternd beugt er sich zu mir herunter und unterzieht mich einer ziemlich offensichtlichen Ganzkörpermusterung. Kurz hatte ich das Gefühl, er rümpft die Nase, doch das kann ich mir auch eingebildet haben. Hoffentlich.

Der Riese hebt die Hand und deutet in Richtung Eisentor. Heißt das, ich soll abhauen? Das kannst du vergessen.

Im nächsten Augenblick tritt er zurück und setzt schon an, die Tür zu schließen. Hey! Blitzschnell drücke ich mich an ihm vorbei und schlüpfe rein.

„DAD!“, rufe ich und mein Echo hallt durch den pompösen Eingangsbereich.

Hier drin ist es nicht minder gruslig und so ein unangenehmes Kribbeln zieht sich in Wellen über meinen Rücken.

An den Wänden prangen zahllose ausgestopfte Tiere. Wieso habe ich das Gefühl, dass all ihre leblosen Augenpaare auf mich starren?

Auch im Inneren des Hauses stehen wieder diese Gruselstatuen. Der Marmorboden ist spiegelglatt und Kerzen tauchen die Halle in diffuses Licht. Wer wohnt denn bitte in so einem Gruselschloss? Soll das vielleicht Besucher abschrecken? Funktioniert schon mal ganz gut.

Ich keuche, da Lurch gerade seine Riesenpranke auf meiner Schulter platziert hat. Jetzt wird er mich gleich vor die Tür befördern. Au Backe.

„Liliana?“, ertönt eine tiefe Männerstimme.

Die Gestalt, die im schwarzen Anzug am Treppenabsatz steht, lässt mein Herz stolpern. Ich hatte vergessen, wie autoritär mein Dad auf mich wirkt. Das hat sich wohl nicht geändert. Auch nach all den Jahren strahlt er diese Überlegenheit aus, die einen auf Anhieb einschüchtert.

„Hallo Dad“, grüße ich ihn emotionslos. Ich verkneife mir gerade noch ein vollkommen überzeichnetes „Überraschung!“ auszustoßen.

Er vermag den Ärger über meinen unangekündigten Besuch nur schwer zu verbergen, als er bedächtig die Stufen herabsteigt. Seine Gesichtszüge haben sich verändert – er sieht älter aus, ist aber noch genauso grimmig wie früher.

„Ich übernehme das, Geoffrey.“ Lurch gefällt mir besser. Der Butler lässt mich los und ich atme erleichtert auf. Mit dem würde ich mich lieber nicht anlegen.

„Weiß deine Mutter, dass du hier bist?“, will mein Dad wissen.

„Denke schon“, entgegne ich schulterzuckend.

„Was willst du hier?“ Das sagt er so kaltherzig, dass es schon beinahe wehtut.

„Dich wiedersehen – ist lange her. Außerdem wollte ich dich bitten, ein paar Papiere für mich zu unterzeichnen.“

„Welche Papiere?“ Ja, ist auch schön, dich nach zehn Jahren wiederzusehen. Lass dich drücken.

Er starrt mich einfach nur ungeduldig an. Ich unterbreche diesen Moment mit der Frage: „Willst du mich nicht hereinbitten oder sollen wir das im Flur besprechen?“

Er nickt kurz. Ich folge ihm in einen kleinen Salon und setze mich auf den Stuhl, den er mir mit einer steifen Geste anbietet.

Mein Dad nimmt mir gegenüber Platz und nippt an der Tasse Tee, die ihm sein Butler soeben randvoll eingegossen hat. Er könnte mir ruhig auch etwas anbieten. Naja, sie scheinen selten Besuch zu kriegen. Wieso wundert mich das nicht?

Ungeduldig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her, warte aber, bis er ausgetrunken hat.

Im nächsten Moment ziehe ich die Papiere aus meiner Tasche und lege sie meinem Dad vor.

„Also, das hier ist ein Antrag auf vorzeitige Erklärung meiner Volljährigkeit. Du brauchst nur hier unten zu unterzeichnen und schon bin ich wieder weg. Es ist ganz einfach. Ich hab sogar einen Stift. Hier.“ Ich halte ihm den Kugelschreiber hin, doch er ergreift ihn nicht. Er würdigt die Papiere nicht mal eines einzigen Blickes.

„Wie alt bist du?“, fragt er mich doch tatsächlich. War ja so klar, dass er das nicht weiß.

„Siebzehn, aber in ein paar Monaten werde ich achtzehn. Am 10. Dezember, falls du das auch vergessen hast.“ Ja okay, ich gebs zu, ich bin sauer. Ich bin sein einziges Kind, da kann man doch voraussetzen, dass er zumindest weiß, wann ich geboren bin.

„Ich werde das nicht unterzeichnen“, knallt er mir vor den Latz.

„Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil deine Mutter dein Vormund ist und das unterzeichnen muss.“

„Ich brauche beide Unterschriften. Ihr Einverständnis habe ich bereits.“

„Wozu soll das gut sein?“, will er stirnrunzelnd wissen.

„Naja, ich kann uneingeschränkt Rechtsgeschäfte tätigen, wählen gehen, eigene Entscheidungen treffen ... keine Angst, ich habe nichts Illegales vor.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter dem zugestimmt hat.“

„Du kennst sie doch kaum. Genauso wie du mich nicht kennst.“

Bevor er sich rausreden kann, stürmt jemand zur Tür rein und will schon drauflosplappern „Vater, ich ...“, da hält er plötzlich inne. Es ist ein Junge, ungefähr in meinem Alter, der die Augenbrauen hochzieht und mich anlächelt.

Was? Vater? Meine Kinnlade ist gerade auf die Tischplatte aufgeschlagen. Ungläubig mustere ich meinen Dad, der keine Miene verzieht. Das gibt mir den Rest.

DU HAST EINEN SOHN?“, kreische ich hysterisch.

„Ja“, entgegnet er, als wär es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt.

Eben eindeutig identifizierter Sohn kommt näher und ergreift meine Hand. „Wow, deine Schönheit raubt mir den Atem.“ Er zwinkert mir sogar zu und setzt bereits zum Handkuss an, aus dessen Griff ich mich im letzten Moment befreien kann.

Ich pruste ein ungläubiges: „Er hat mich jetzt nicht grad angemacht ... Ich muss hier raus.“ Wie eine Besessene stürme ich zur Haustür raus.

Dort knalle ich frontal in einen Körper. Erneut schnappe ich nach Luft, denn da stehen drei Jungs vor mir, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen.

Panisch drehe ich mich um. Sohn Nummer 1, der mich gerade angemacht hat, taucht hinter mir auf und – jetzt kommts – er sieht auch genauso aus. Es sind Vierlinge. Ich werd verrückt.

„Hey, warte.“ Sohn Nummer 1 hat mich gerade am Arm gepackt und fixiert mich interessiert. Die anderen Zwillingssöhne glotzen mich nur überrascht an.

„Liliana.“ Toll, jetzt ist mir mein Dad wohl auch noch gefolgt.

„Darf ich dir meine Söhne vorstellen. William, Henry, George und Thomas. Söhne, das ist Liliana, meine Tochter.“ Den Jungs ist ebenfalls die Kinnlade runtergeklappt und sie blicken sich verwirrt an.

 

WAS?“ Eine schrille Frauenstimme reißt uns aus unserem peinlich berührten Anschweigen. Die Frau, die gerade aus einem schwarzen Oldtimer, der aussieht, als stamme er direkt aus einem Schwarzweißfilm, gestiegen ist, lässt die Tüten fallen und stemmt fuchsteufelswild die Hände in die Hüften.

Anstatt mir beizustehen, läuft mein Dad schnurstracks zu ihr rüber und beschwichtigt mit den Worten: „Ich kann dir das erklären, Claire.“ Ja wunderbar, erklärs ihr ruhig zuerst.

„Da bin ich ja mal gespannt“, faucht sie wild.

Mein Dad rauft sich nervös die Haare. „Claire, sie ist aus einer früheren Beziehung, aber das ist vorbei.“ Wow, wie verletzend ist das denn?

Geballte Wut steigt in mir auf, also mache ich mich vom Acker, bevor ich explodiere. Nach ein paar Schritten habe ich es mir anders überlegt und mache auf dem Absatz kehrt.

Warte, ich hab die Papiere ja noch gar nicht.

Ich wende mich meinem Dad zu. „Unterschreib die Papiere und ich bin wieder weg.“

„Nein. Ich werde deine Mutter anrufen, damit sie das erklärt“, raunt er.

„Die ist nicht zu Hause.“

„Ich rufe sie trotzdem an.“ Tu, was du nicht lassen kannst. Mein Dad hat bereits sein Handy aus der Tasche gezogen und wählt die Nummer.

„Du hast ihre Telefonnummer?“, prustet Claire bösartig. Schulterzuckend wartet mein Dad weiter auf eine Reaktion am anderen Ende der Leitung. Nichts. Unverrichteter Dinge legt er auf.

„Sie geht nicht ans Telefon“, stellt er fest.

„Sag ich doch. Sie ist nicht da“, motze ich. Okay, es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich mit der Gesamtsituation überfordert bin und es an meinem Dad auslasse.

„Wie lange geht das schon so?“, will Claire wissen.

„Wovon sprichst du?“, stößt mein Dad aus.

„Das mit deiner Exfrau und deinem Kind, von denen ich bis heute nichts wusste. Was verschweigst du noch? Noch mehr Kinder? Doppelehen? Bist du ein Heiratsschwindler?“ Oh, oh. Gar nicht gut. Sie läuft stampfend ins Haus und mein Dad nimmt die Verfolgung auf.

„Claire, wir waren nicht verheiratet. Das war vorbei, bevor wir uns kennengelernt haben. Du bist meine erste und einzige Ehefrau ...“

Was für ein Chaos. Ich blicke in vier ratlose Augenpaare. Der Bruder, den ich im Salon kennengelernt habe, William, bricht das Schweigen.

„Hey, ich hab mir schon immer ein Schwesterchen gewünscht.“ Breit grinsend legt er den Arm auf meine Schulter und drückt mich an sich.

Damit komm ich grad nicht wirklich klar und ich überlege noch, ob ich ihm eine reinhauen oder in Tränen ausbrechen soll.

Sein Bruder, Thomas, ist wohl weniger erfreut, gerade ein Geschwisterchen erhalten zu haben, denn er stößt ein „Sieh nur, was du angerichtet hast. William, nimm die Finger von ihr, das ist ja abartig“ aus und stürmt seinen Eltern hinterher.

George zieht nur ratlos die Schultern hoch und Henry erklärt: „Genaugenommen sind wir nicht blutsverwandt. Anthony ist unser Stiefvater. Trotzdem willkommen in der Familie, Liliana.“

„Lilly“, korrigiere ich ihn. Gerade merke ich, dass ich mich gar nicht bedankt habe und drücke ein kaum hörbares „Danke“ heraus.

William grinst wieder breit. Ich glaube, die Information über unser nicht vorhandenes Verwandtschaftsverhältnis stimmt ihn fröhlich.

„Soll ich dir das Haus zeigen?“, bietet er an.

„Hör zu, ich brauch nur eine Unterschrift von meinem Dad, dann muss ich weiter“, erkläre ich.

„Das kommt gar nicht infrage. Es sind doch Ferien. Natürlich bleibst du noch“, wendet William, mit vor der Brust verschränkten Armen, ein.

Mein Dad tritt kurze Zeit später aus dem Haus. Sein Kopf ist noch dran – gutes Zeichen. „Liliana, kommst du bitte.“ Ich folge ihm ins Haus und treffe im Salon auf Claire. Sie sieht alles andere als begeistert aus. Toll.

„Claire, das ist Liliana – meine Tochter. Liliana, das ist Claire – meine Ehefrau“, stellt uns mein Dad einander vor.

Sie macht keine Anstalten, mir die Hand zu reichen, also winke ich ihr nur scheu zu. „Hi. Ich bin Lilly.“

Sie schnaubt abfällig und verlässt den Raum. Ja, ist auch schön, dich kennengelernt zu haben. Jetzt bin ich mit meinem Dad allein, der sich erneut die Haare rauft.

„Da hast du mich ja in eine schöne Situation gebracht“, wirft er mir vor.

„Da hast du dich selbst reingeritten. War ja klar, dass du mir alles in die Schuhe schiebst. Woher soll ich wissen, dass du eine Familie hast, die nichts von mir weiß. Ach ja, stimmt. Du hast wahrscheinlich vergessen, dass es mich noch gibt. Deshalb hast du dich in den letzten zehn Jahren auch so ‚oft‘ gemeldet.“

„Was willst du eigentlich von mir, Liliana? Willst du Geld?“ Ich schnaube abfällig. Geld? Weiß nicht, was könnte eine Tochter wohl von ihrem Vater wollen? Liebe, Aufmerksamkeit, ein Gespräch. Aber das krieg ich sowieso nicht, so wie er auf unser Wiedersehen reagiert hat. „Alles was ich will, ist eine Unterschrift.“

„Ich unterschreibe das nicht.“ Da muss ich wohl schwerere Geschütze auffahren.

„Dann wirst du mich solange nicht mehr los, bis ich sie habe. Ich könnte Claire ja ein paar alte Geschichten erzählen – von deiner ‚anderen‘ Familie. Ich hab Fotos dabei. Das wird bestimmt lustig.“ Panisch reißt er die Augen auf.

„Du solltest Claire aus dem Weg gehen“, rät er mir.

„Unterschreib die Papiere und du bist mich los.“

„Mir gefällt das nicht. Ich will vorher mit deiner Mutter darüber sprechen.“ Mann, unterschreib schon. „Du rufst sie jetzt augenblicklich an“, befiehlt er.

„Krieg ich dein Telefon?“, frage ich monoton.

„Hier, nimm.“ Er wählt sogar für mich. Mein Dad traut mir anscheinend nicht über den Weg.

Ich rolle mit den Augen und lasse es gefühlte hundertmal klingeln. Mailbox.

Genervt reißt er es mir aus den Händen und wählt erneut. „Du hinterlässt deiner Mutter jetzt eine Nachricht. Sie soll diese Nummer zurückrufen.“

Schulterzuckend ergreife ich das Telefon. „Hi Mum, ich bin bei Dad, aber das weißt du sicher bereits. Dad will übrigens mit dir sprechen. Ich weiß, dass du nicht mit ihm sprechen kannst, aber ruf zurück, falls du wieder da bist. Tschüss.“ Ich lege auf und händige es ihm aus.

„War das die Idee deiner Mutter? Will sie mich damit bestrafen?“ Hä?

„Lass Mum aus dem Spiel. Sie hat damit gar nichts zu tun. Übrigens danke, dass du meinen Besuch mit einer Bestrafung gleichsetzt.“

„Naja, du trittst in mein Leben und bringst alles durcheinander. Nicht gerade ein überlegter Zug von dir.“

Wow, wie nett.

„Oh, das tut mir aber leid, dass ich in dein ‚perfektes‘ Leben reinplatze“, spotte ich überschwänglich.

„Mir gefällt nicht, wie du mit mir sprichst, Liliana. Immerhin bin ich dein Vater.“

„Ah, du ignorierst es also nicht mehr, dass du eine Tochter hast. Wir machen hier Fortschritte.“

Gleich explodiert er. Die Ader an seiner Schläfe pocht stark. „Komm, ich fahr dich zum Flughafen und schicke dich zurück. Es war ein Fehler, herzukommen.“

„Ohne Unterschrift gehe ich nirgendwo hin“, protestiere ich.

„Das werden wir ja sehen.“ Genervt stapft er auf mich zu, schnappt mich grob am Ellbogen und zieht mich hinter sich her. Ich wehre mich, aber er ist zu stark.

„Lass mich los, Dad. Du tust mir weh.“

In der Eingangshalle treffen wir auf drei meiner Stiefbrüder (wie sich das anhört) – sie haben offensichtlich unser Gespräch belauscht.

Mein Dad lässt mich abrupt los und erklärt: „Liliana wird uns jetzt wieder verlassen. Verabschiedet euch.“

„Wieso kann sie nicht ein paar Tage hierbleiben?“, will William wissen.

„Ihr habt euch doch sicher viel zu erzählen“, wirft Henry ein.

Ich merke gerade, dass ich sie erstaunlich gut auseinanderhalten kann. Sie sehen zwar auf den ersten Blick komplett gleich aus, aber dennoch hat jeder eine andere Art der Körpersprache – daran sind sie leicht zu unterscheiden.

Mein Dad ist sichtlich in Erklärungsnöten. „Ihre Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen“, ist sein verzweifelter Versuch, mich doch noch loszuwerden.

„Sie geht nicht ans Telefon. Sieht so aus, als wär sie nicht sonderlich in Sorge“, meldet sich George zu Wort. Er ist der Schüchternste von ihnen.

Darauf war mein Dad wohl nicht gefasst, denn er braucht deutlich länger für ein Gegenargument.

Ich komme ihm zuvor. „Das wär toll, ich bleibe gerne ein paar Tage. Dann können wir mal über alles reden, Dad.“ Ich klopfe ihm sogar auf die Schulter. Ihm entweicht gerade sämtliche Farbe aus dem Gesicht.

William jubelt lautstark, nimmt mich an der Hand und zieht mich hinter sich her. „Komm, ich zeig dir das Gästezimmer. Es ist gleich neben meinem.“

Übers ganze Gesicht strahlend, lasse ich mich in den zweiten Stock bringen.

Die Unterschrift werde ich wohl schneller in der Tasche haben als erwartet. Wahrscheinlich holt mein Dad die Papiere gerade aus dem Salon.

„So, das ist es“, reißt mich aus meinen Gedanken.

Wir stehen in einem hellen Raum mit Himmelbett. Wär da nicht ein riesiges Braunbärfell an die Wand genagelt, könnte man es durchaus als heimelig bezeichnen. Abgesehen von den schwarzen, bodenlangen Vorhängen natürlich.

„In einer Stunde gibt es Abendessen im großen Saal – gleich gegenüber vom kleinen Salon. Das Badezimmer ist hinter dieser Tür. Du willst dich sicher frischmachen. Ich meine, nicht, dass du das nötig hättest. Du siehst toll aus. Wir sehen uns dann später. Wenn du was brauchst, ich bin gleich nebenan.“

Im nächsten Moment ist er auch schon zur Tür raus. Wow, er ist wohl der Charmeur der Familie. Wahnsinn, wie sich ihre Charaktere unterscheiden.

Erschöpft lasse ich mich aufs Bett fallen. Ich brauche nicht auszupacken, denn ich hab leichtes Gepäck – nur eine kleine Umhängetasche.

Plötzlich klopft es an der Tür. Das ging aber schnell. Vergnügt springe ich vom Bett und mache auf.

Zu meiner Überraschung steht Claire vor mir. „Darf ich reinkommen?“

„Ja natürlich.“ Ich trete beiseite und sie schwebt förmlich herein. Sie ist groß und sehr hübsch. Ihr schwarzes, enges Empirekleid ist wie eine zweite Haut und ihr langes, pechschwarzes Haar reicht ihr bis zur Hüfte.

Sie nimmt den gesamten Raum in Anspruch. Irgendwie breitet sich so ein beklemmendes Gefühl in mir aus.

„Liliana, nicht wahr?“

„Lilly“, korrigiere ich sie.

„Ich weiß genau, was du vorhast.“ Ach ja?

„Und was hab ich vor?“, hake ich nach.

„Du willst hier eine Szene machen. Die arme, verstoßene Tochter spielen, die zu ihrem Daddy zurückkommt und um seine Liebe buhlt.“ Wow, sie ist echt zum Fürchten.

„Eigentlich will ich nur eine Unterschrift von ihm.“

„Welche Unterschrift?“, wird sie hellhörig.

„Papierkram.“ Sie reißt die Augen auf, kneift sie aber gleich wieder zusammen. Sieht so aus, als hätte ich gerade eine Verbündete gewonnen. Sie will mich sicher schnell loswerden und wird meinen Dad von allen Seiten bearbeiten, damit er meine Sachen unterzeichnet.

„Liliana ...“, fährt sie fort.

„Lilly“, korrigiere ich sie erneut. Das erzürnt sie sichtlich.

„Wie auch immer. Du bist hier in meinem Haus und da gelten gewisse Regeln.“ War klar, dass die Gruselbude ihr gehört. Passt zu ihr – würd ich sagen. „Für die Dauer deines hoffentlich kurzen Aufenthalts, wirst du dich benehmen und tun, was ich dir sage.“ Das kannst du vergessen.

Sie fährt fort: „Dein Vater hat nicht ohne Grund deiner Familie den Rücken gekehrt und das soll auch so bleiben. Wir haben schon genug Kinder. Meine Söhne stehen für ihn an oberster Stelle. Es wäre besser, du akzeptierst das. Wir wollen doch nicht, dass du enttäuscht wirst.“ Was für eine Hexe. „Ach ja, das Abendessen findet in zwei Stunden statt. Du solltest besser pünktlich sein.“

„Ich dachte, es wär in einer Stunde. William sagte,“ „Der Koch braucht länger. Wir müssen ja jetzt eine weitere Person durchfüttern. William wusste das noch nicht“, unterbricht sie mich forsch. Durchfüttern? Wie nett.

Im nächsten Moment ist sie auch schon zur Tür raus. Wow, was für eine Eiskönigin.

Wundert mich, was mein Dad an so einer Frau findet, die gerade die Krallen ausgefahren hat, als würde sie sich von mir bedroht fühlen. Ich lächle. Ihr geht der Arsch wohl auf Grundeis. Dieser Aufenthalt wird unterhaltsamer, als ich dachte.

 

Zehn Minuten zu spät treffe ich in besagtem Zimmer ein, das leer ist.

Wow. Wie gemein ist das denn? Sie hat mir doch tatsächlich die falsche Uhrzeit gesagt. Das soll mich wohl einschüchtern. Kläglicher Versuch, aber ein Klassiker – das muss man ihr lassen.

Ich beschließe, an die frische Luft zu gehen. Es dämmert bereits, ist aber noch angenehm warm.

Hier ist es ziemlich schön. Die Grillen zirpen lautstark und die frische Luft duftet angenehm.

An einem Baum hängt eine Schaukel, auf die ich mich setze. Mein Kopf lehnt in einem der Seile und ich genieße die warme Brise auf meiner Haut.

„Wie geht’s deinem Jetlag?“ Erschrocken reiße ich die Augen auf. Henry steht vor mir.

Er war wohl gerade laufen, denn er hat diese professionellen Klamotten an, die nur dazu da sind, die Couchpotatoes – zu denen ich gehöre – einzuschüchtern. Außerdem steht ihm der Schweiß auf der Stirn.

Wie alle der vier Brüder ist er muskulös und ziemlich gutaussehend. Die schwarzen Strubbelhaare haben sie von ihrer Mutter geerbt. Er ist echt süß. Verdammt.

„Welcher Jetlag?“, will ich wissen.

„Meine Mutter sagte mir, du fühlst dich nicht so gut – wegen dem langen Flug.“ Ah, das sollte wohl meine Abwesenheit erklären.

„Ach so. Ja – ist schon viel besser.“

„Laufen wir ein Stück zusammen?“, bietet er an. Was? Nein.

„Lass mal. Ich würde dich nur aufhalten. Bin nämlich gerade die unsportlichste Kanone auf diesem Planeten.“ Er lächelt.

„Wie wärs mit einem Spaziergang?“

„Klingt schon viel besser.“ Ich erhebe mich und wir schlendern die Einfahrt des Hauses entlang. Ich muss sagen, die Statuen wirken im Halbdunkeln noch angsteinflößender.

„Erzähl was von dir, Lilly.“

„Wow, ich bin die langweiligste Person, die es gibt. Erzähl lieber was von dir, Henry.“

Überrascht runzelt er die Stirn. „Du weißt, wer ich bin?“

„Ja klar.“

„Respekt, normalerweise verwechseln uns die Leute andauernd.“

„Vielleicht bin ich einfach nicht normal.“ Er lacht laut auf.

„Dein Dad hat übrigens ein Jahr gebraucht, um uns auseinanderzuhalten.“ Ich lächle. Beim nächsten Gedanken vergeht mir das Lachen aber wieder. Sie sind mit meinem Dad aufgewachsen und ich hatte gerade mal einen dreistündigen Besuch. Da war ich sieben.

„Lilly? Alles okay?“ Ich war wohl in Gedanken versunken.

„Klar“, stoße ich aus. Ich schaffe es sogar, zu lächeln.

„Ich hab das Gespräch mit dir und deinem Dad belauscht. Ich will mich nicht einmischen, aber egal, was da zwischen euch steht, ich bin sicher, ihr könnt das klären.“ Zwischen uns steht gar nichts. Im Grunde genommen weiß ich nichts von ihm und er nichts von mir. Wir sind wie Fremde.

„Ja sicher.“ Und die Erde ist eine Scheibe.

„Hör zu. Wir wollen morgen alle zum See. Du kannst gerne mitkommen“, bietet er an.

„Okay.“

„Ich lauf noch ein Stück.“

„Viel Spaß, Sportskanone.“ Er winkt und sprintet davon.

Zurück im Haus knalle ich an der Biegung des Flurs in einen Stiefbruder, der mich abschätzig mustert.

„Wen haben wir denn da?“, setzt er an.

„Hallo Thomas.“ Auch er ist sichtlich überrascht, dass ich ihn beim richtigen Namen nenne.

„Wie ich hörte, wirst du ein paar Tage bei uns bleiben. Mach hier bloß keinen Ärger.“ Er zeigt mit dem Finger auf mich und sieht ganz schön böse aus.

„Ich versuchs.“

„Ich warne dich, diese Familie hält zusammen. Du wirst es nicht schaffen, einen Keil zwischen uns zu treiben. Hast du mich verstanden?“ War klar, dass ich für ihn nicht zur Familie gehöre.

„Ist angekommen“, bestätige ich.

Also, jetzt habe ich die Brüder grob charakterisiert.

Henry – der intelligente, sexy Stiefbruder

George – der schüchterne, zurückhaltende Stiefbruder

William – der charmante, charismatische Stiefbruder

Thomas – der distanzierte, böse Stiefbruder

In meinem Zimmer setze ich mich ans Fensterbrett und lese noch ein paar Zeilen.

Nach ein paar Minuten geht die Haustüre unter meinem Fenster auf und erhellt die Einfahrt. Geoffrey trägt Mülltüten raus. Er ist hier wohl das Mädchen für alles.

Sein Schatten zieht sich weit über den Boden, was ziemlich witzig aussieht.

Als er zurückkommt, winke ich ihm zu. Er hält an und winkt – zu meiner Überraschung – zurück.

Status der Wunschliste:

Wunsch Nr. 1 erfüllt.

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