Wenn Luftschlösser flügge werden

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„Wissen Sie, wie es Adam geht?“, will ich wissen.

„Er wurde operiert und schwebt wohl noch in Lebensgefahr. Sagen sie uns zumindest. Manchmal übertreiben die Ärzte auch, um uns hinzuhalten, damit wir ihn nicht gleich befragen können. Zur Schonung sozusagen. Aber selbst wenn er bald zu sich kommt, ist es nicht sicher, ob wir mit seiner Hilfe den Unfall rekonstruieren können. Manchmal lässt einen der Schock alles vergessen oder das Erinnerungsvermögen wird absichtlich – sagen wir mal so – unterdrückt. Uns bleibt womöglich nur deine Aussage“, informiert mich Dick. Erneut schwingt routinemäßige Gleichgültigkeit in ihren Worten mit, die mir die Galle hochsteigen lässt.

„Ist dir noch etwas eingefallen, was uns dabei helfen könnte?“, fordert Doof mit etwas angewidertem Blick in Richtung der Gurken.

Ich schüttle den Kopf. „Wieso ist meine Aussage so wichtig? Es war ein Unfall. Punkt“, wende ich ein.

„Es geht um die Versicherung und ob sie alles bezahlt, wenn der Junge Spätfolgen zurückbehalten sollte. Pflegepersonal ist teuer. Die wollen sich absichern. Womöglich wollen die auch noch mit dir sprechen.“ Was? Pflegepersonal? Heißt das, er könnte … körperlich behindert sein? Oder schlimmer – geistig behindert. Mir bleibt fast das Herz stehen. An das habe ich gar nicht gedacht. Sein Gehirn könnte Schaden genommen haben. Selbst wenn er aufwacht, könnte er … verändert sein.

Womöglich war ich nicht schnell genug bei ihm oder hab die Reanimation vergeigt. Mir das vorzustellen nimmt mich grad total mit. Sogar die Gurken schaffen es, an mir vorbeizuziehen. Die Arbeiterin, die neben mir steht, hat grad alle Hände voll zu tun, was sie mit einem bösen Blick und einem „Hey, pass doch auf!“ in meine Richtung kundtut.

Im nächsten Moment verabschieden sich Dick und Doof glücklicherweise.

ROSE!“, brüllt der Vorarbeiter, was mich zusammenzucken lässt. „Du sollst Gurken stopfen – nicht Löcher in die Luft starren. Und wenn hier nochmal die Kavallerie auftaucht, bist du deinen Job los, haben wir uns verstanden?“

Wie lange hänge ich eigentlich schon meinen Gedanken nach? Ich hab gar nicht gemerkt, dass das Gemüse die ganze Zeit über spurlos an mir vorübergezogen ist.

Kapitel 2

Zwölf Monate später

Wie jeden Tag, werfe ich die Hausaufgaben für Adam in den Briefkasten der Laurrens. Scheinbar ist der beliebteste Junge der Schule wohl Geschichte, denn keiner seiner „Besten Freunde“, die immer an seinen Sohlen klebten, als wären sie zäher Kaugummi, der nicht mehr abgeht, hat sich freiwillig gemeldet, ihm seine Schulsachen zu bringen, als der Direktor das erste Mal darum gebeten hat. Was meinen Arm dazu gebracht hat, genau in dem Moment hochzuschießen, ist mir immer noch ein Rätsel. Womöglich hab ich mich daran erinnert, dass ich sowieso jeden Tag an ihrem Haus vorbeifahre, um nach Hause zu kommen und das doch wirklich keine große Sache ist, ein paar Blätter mit Mathe- oder Bioaufgaben vorbeizubringen.

Adam wird von einem Privatlehrer unterrichtet – ist zumindest die offizielle Version. Inoffiziell wird gemunkelt, dass er nicht mehr das Haus verlassen hat, nachdem er aus dem Krankenhaus raus war, aber es dringen kaum nähere Infos nach draußen. Was echt erstaunlich ist, denn in diesem Kaff im Norden Arizonas bleibt sonst nichts lange geheim.

Womöglich erkaufen sich die Laurrens das Schweigen der Lehrerschaft mit großzügigen Schulspenden. Das hat natürlich die Gerüchte angefacht wie eine Kippe, die auf vertrockneten Waldboden trifft.

Aber auch die Schauergeschichten darüber, dass er von einer Hexe verflucht und so wie in dem Film „Beastly“ schrecklich entstellt ist oder sein Gedächtnis verloren hat und nicht mal mehr seine Eltern wiedererkennt, sind mit der Zeit abgeflaut.

Schon bald hat ein neuer Rebell, der ebenso alle Klischees erfüllt, Adams Platz eingenommen und kaum jemand spricht noch von dem einst so umschwärmten Basketballstar, der plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist.

Bei dem Gedanken innerlich tief seufzend, will ich mich gerade wieder aufs Rad schwingen, da ruft jemand von Weitem meinen Namen. Der Geruch nach Sandelholz mit diesem Schuss Zitrone erreicht mich, bevor es sein Träger schafft.

Es ist Adams Mum, die mich wohl in einer ihrer Überwachungskameras am Tor erspäht hat. Verdammt, jetzt kann ich nicht mehr so tun, als hätte ich sie nicht gehört, da ich so richtig schön in ihre Richtung gekuckt habe. Normalerweise ist das Tor ihrer Villa mit hohen Efeuranken verwachsen, die es unmöglich machen, hindurch zu spähen und einen Blick auf das Leben zu erhaschen, das die meisten nur aus Realityshows kennen, doch der nahende Winter nagt schon an dem Blätterteppich und lässt ihn schütter werden.

„Rose, warte doch einen Moment“, ruft sie mir winkend zu, während sie die Auffahrt entlangstöckelt. Na toll.

Du bist das also, der Adam die Hausaufgaben bringt“, stellt sie um einiges versöhnlicher fest, als bei unserer letzten Begegnung im Krankenhaus, nachdem sie bei mir angekommen ist.

Sie sieht toll aus. Mit ihren blonden, hochgesteckten Haaren und diesen noblen Klamotten könnte sie auch glatt einem dieser 50iger Jahre Hausfrauenmagazine entsprungen sein. Ich stell mir gerade vor, wie sie in den hohen Haken mit dem Staubsauger posiert, während sie den Staubwedel aus Straußenfedern schwingt und ein „Schatz, ich hab Rollbraten gemacht“ trällert.

Schnell vertreibe ich die Bilder aus meinen Gedanken. „Ich gestehe alles, immerhin haben Sie mich auf frischer Tat ertappt“, spotte ich.

„Wieso bist du denn um diese Zeit nicht zu Hause bei deiner Familie?“, fragt sie durch die massiven Gitterstäbe hindurch, die ihren Schotter drin und Leute wie mich draußen halten sollen.

„Wollte sowieso noch eine Spritztour machen“, antworte ich schulterzuckend.

Sie lächelt gekünstelt. „Komm doch rein. Wir essen gerade“, bietet sie an. Nein danke. Kein Bedarf an Verlegenheitseinladungen, weil ich – Wohltäter wie ich bin (schön wärs) – ihrem Sohn die Hausaufgaben bringe.

„Das ist sehr freundlich, aber ich kann die Einladung nicht annehmen, Misses Laurren. Schönen Tag noch“, spule ich meinen Text ab und will mich schon vom Acker machen, da hält sie mich mit den Worten: „Adam würde sich freuen, wieder einmal jemanden aus der Schule zu sehen“ zurück.

Ich werde hellhörig. Okay, also stimmt das Gerücht, er wäre auf das geistige Niveau eines Säuglings zurückgefallen und würde erneut ein Leben mit Lätzchen und Schnabeltasse fristen schon mal nicht. Zumindest hoffe ich das. Immerhin war ihre Wortwahl irreführend. Er würde sich „freuen“, wieder einmal jemanden aus der Schule zu „sehen“ heißt ja nicht automatisch, dass er mich wiedererkennt oder mit mir sprechen kann. Womöglich freut er sich nicht mal.

Ich weiß außerdem nicht, ob ihr klar ist, dass Adam und ich nie befreundet waren – obwohl, wenn sie meine Klamotten ansieht und ihre, liegt der Verdacht wohl nahe. Mit Leuten wie mir hätte er sich nie abgegeben.

Meine Jeans hat ihre besten Momente schon hinter sich und das T-Shirt ist mir drei Nummern zu groß – ja, okay – vier Nummern. Die Weste mit den löchrigen Maschen wird dem Used-Look wohl auch schon gerecht. Zu meiner Verteidigung – wer rechnet denn damit, dass ich heute noch auf zivilisierte Menschen treffe. Sollten die nicht alle in Feiertagslaune ihre Truthähne beschneiden?

Obwohl, neugierig wär ich schon zu erfahren, wies Adam wirklich geht. Aber bin ich dafür bereit? Womöglich kommt dann alles wieder hoch, was an dem Abend passiert ist.

Gerade in dem Moment komm ich mir unsagbar fehl am Platz vor, wie ich hier stehe und schon viel zu lange Pro und Kontra abwäge.

„Ich muss jetzt wirklich los“, winke ich halbherzig ab.

„Ach Papperlapapp. Ich bestehe darauf. Es ist doch Thanksgiving“, lässt sie nicht locker. Sie ist aber auch die Einzige, die den Feiertag wörtlich nimmt.

„Ich akzeptiere kein Nein“, droht sie förmlich. Ha, dann weiß ich jetzt, dass Adam ganz nach seiner Mum kommen muss.

Ihr Angebot ist ganz schön verlockend. Mein Magen knurrt schon, da brauch ich bloß an den knusprigen Truthahn zu denken, den es bei uns nicht jedes Jahr gibt. Das war so abartig laut, dass sie sogar die Augenbrauen hochzieht. Wie peinlich ist das denn?

„Okay“, stimme ich dem Drängen meines Magens zu und breche alle meine selbst aufgestellten Regeln Almosen betreffend. Jeder weiß, dass meine Familie nicht so viel Geld hat wie die meisten, die hier leben, obwohl wir zur Mittelklasse gehören. Damit werde ich ständig aufgezogen.

Und ich vermute mal, dass die Laurrens wegen der Szene im Krankenhaus ein schlechtes Gewissen haben und nur nett sind, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, dass sie eine gute Tat vollbracht und den Streuner aus den, verglichen mit ihrem Lebensstil, ärmlichen Verhältnissen gefüttert haben. Andererseits hat der Streuner aus den ärmlichen Verhältnissen echt Kohldampf.

Das Tor öffnet sich im nächsten Augenblick und gibt den ungetrübten Blick auf das Anwesen frei. So wohnen also Vertreter der oberen Zehntausend. Also ein Vertreter der unteren Hunderttausend ist schon mal beeindruckt.

Ich folge ihr die lange Auffahrt entlang und schiebe das Fahrrad neben mir her. Das unangenehme Schweigen, das zwischen uns herrscht, wird nur vom melodiösen Quietschen meines Rades unterbrochen.

Sie schwebt förmlich die Stufen der Villa empor, nachdem ich mein Rad – mangels Fahrradständer – an eine Statue gelehnt habe. Kurz habe ich Angst, sie könnte eine dieser Roboter-Stepford-Frauen sein, verwerfe den Gedanken aber sogleich, da ich die Laufmasche in ihrer Strumpfhose erspähe, die mir Halt gibt. Bin ich froh.

 

Sie öffnet die Haustür und bittet mich mit liebevoller Geste herein. Schlagartig komme ich mir wieder wie ein Fremdkörper vor, der ganz und gar nicht in diese schöne Umgebung passen will. Zumindest wenn dann nur als Putzfrau – nicht als Gast.

Wow, jetzt weiß ich, wie es aussieht, wenn Geld keine Rolle spielt. Der Marmorboden ist so auf Hochglanz poliert, als bestünde er aus purem Eis. Und ich hab meine Schlittschuhe nicht dabei.

Eine riesige, geschwungene Holztreppe mit zwei Treppenaufgängen führt in den obersten Stock, der mit Sicherheit keine Wünsche offen lässt.

Blitzschnell trete ich mir die Schuhe von den Fersen, um hier bloß nichts dreckig zu machen. Dabei atme ich flach, weil ich befürchte, meine bloße Anwesenheit würde dem Raum seinen Glanz nehmen.

„Oh, die Schuhe hättest du anlassen können. Hier entlang“, reißt sie mich aus dem Anschmachten ihres Zuhauses. Das sagt sie nur, weil sie hinterher nicht selbst saubermachen muss. Bestimmt hat sie dafür Personal. Ich zieh sie trotzdem nicht wieder an.

Sie führt mich in ein riesiges Speisezimmer, in dem Adams Dad, sein älterer Bruder, der früher auch an der Schule war, bevor er seinen Abschluss gemacht hat, und eine wunderhübsche, junge Frau – vermutlich die Freundin von Adams Bruder, die mir soeben einen Wer-hat-den-Streuner-reingelassen-Blick zuwirft – bei Tisch sitzen.

„Noch ein Gedeck“, verlangt Adams Mum von einem der zwei Butler, die sich am Rand der Tafel bereithalten, den Privilegierten jeglichen Wunsch von den Augen abzulesen. Wahnsinn, die haben sogar Diener. Ist Sklaverei nicht illegal? Egal.

„Seht, wer gerade Adams Hausaufgaben vorbeigebracht hat“, zieht sie die Aufmerksamkeit vom Essen auf mich ab.

Im nächsten Moment erspähe ich auch Adam – zumindest seinen Wuschellocken-Hinterkopf – den ich zuvor wohl übersehen hatte, denn er sitzt abseits am Kopf der langen Tafel, einige Meter von der anderen Seite entfernt, wo seine Familie sitzt.

Sekundenlang kann ich nur auf seinen Rücken starren. Er sitzt im Rollstuhl, was mich grad absolut fertig macht.

„Fröhliches Thanksgiving“, wünsche ich, nachdem ich den Blick von Adam losreißen konnte, was ein bisschen gedauert hat. Adam reagiert nicht.

Stattdessen schießt Mister Laurren hoch und begrüßt mich händeschüttelnd. Mann, hat er etwa Angst, ich verklage sie, weil sie mich nach Adams Unfall im Krankenhaus fertiggemacht haben? Nein, unwahrscheinlich, denn er hat gerade meinen nackten, großen Zeh bestaunt, der aus meiner linken Socke ragt. Das räumt sicher jeden seiner Zweifel aus, dass ich mir einen Anwalt leisten könnte – zumindest nicht in diesem Leben.

Adams Bruder Richard begrüßt mich als nächstes. Seine Freundin, die er als Anne vorstellt, nickt nur unterkühlt. Auch sie geht auf meine Schule, ist aber in einer der höheren Klassen. Ich wusste gar nicht, dass die zwei zusammen sind.

Misses Laurren bietet mir einen Platz gegenüber von Anne an. Etwas zögerlich mache ich mich auf den Weg – vorbei an Adam, der seinen Kopf die ganze Zeit über tief hängen lässt, sodass sein Kinn fast seine Brust berührt. Vor ihm steht ein unangetasteter Teller mit Essen.

Obwohl der Tisch sich unter den Köstlichkeiten, die aufgetürmt dastehen, förmlich biegt, sieht er abgemagert aus und seine Haut ist bleich wie die eines Vampirs. Man sieht ihm an, wie fertig er ist. Naja, ich weiß, dass er sechs Monate im Koma lag und nun augenscheinlich im Rollstuhl sitzt. Da würde sich jeder beschissen fühlen. Ob sein Kopf was abgekriegt hat?

„Hi, Adam“, grüße ich ihn, aber er reagiert nicht mal. Schlechtes Zeichen.

Seine Eltern werfen mir so einen entschuldigenden Blick zu und erklären: „Adam ist von der Hüfte an querschnittsgelähmt.“ Sofort zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen und diesmal ist nicht das Hungergefühl daran schuld.

Man merkt, wie nahe es ihnen geht, das Offensichtliche auszusprechen. In ihren Gesichtern zeichnen sich Scham, Sorge und Probleme, das zu akzeptieren, was ihrem Sohn passiert ist, gleichermaßen ab. Was sie sich in dem Moment wohl fragen? Warum ist unserem Kind das passiert oder womit haben wir das verdient?

Okay. Jetzt reiß dich zusammen, Rose. Kopf hoch. Von der Hüfte an querschnittsgelähmt. Das heißt doch, er kann Oberkörper, Arme und Kopf bewegen. Oder? Naja, ich bin kein Arzt.

Zu gerne würde ich erfahren, ob er auch andere, bleibende Schäden davongetragen hat, worüber sie nicht sprechen, aber ich trau mich nicht, danach zu fragen. Was soll ich denn sagen? Ist er geistig behindert? Kapiert er, was um ihn herum abläuft? Braucht er eine Schnabeltasse und ein Lätzchen?

Stattdessen schweige ich einfach und ertrage diese beinahe erdrückende Stimmung, die sich ausbreitet und den ganzen Raum zu vereinnahmen scheint als würde ein eisiger Hauch der Klimaanlage herabrieseln. Ich tausche mit Richard Blicke aus, der unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutscht und sich räuspert. Er spürt die eisige Stimmung wohl auch. Kunststück. Ist ja kaum zu ertragen.

Gerade merke ich, wie unglaublich ähnlich er seiner Mutter sieht. Aber die Mandelaugen und die Locken haben ihre Söhne allesamt von ihrem Dad geerbt.

Der Butler schiebt mir einen leeren Teller unter die Nase. „Greif zu“, ist dann das Startsignal und ich lade ordentlich Essen auf.

„Wieso sitzt Adam im Abseits?“, will ich mit vollem Mund wissen, bevor mir auffällt, dass das ja eigentlich schlechte Manieren sind.

„Er möchte es so“, antwortet sein Vater. Aha, also kann sich Adam doch irgendwie bemerkbar machen und kommunizieren. Da ich keinen Sprachcomputer, Babyspielzeug oder Ähnliches an dem Rollstuhl entdecken kann, gehe ich mal davon aus, dass er keine Schnabeltasse braucht und okay ist. Ich sehe zu Adam rüber, der sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hat.

„Adam Schatz, iss doch etwas“, säuselt seine Mum total verunsichert.

Er antwortet ihr nicht mal. Sie scheinen das einfach so hinzunehmen und tun so, als ob das nicht passiert wäre.

Das macht mich grad echt unsagbar wütend. Ich kralle mir eine Kartoffel von meinem Teller und feuere sie in seine Richtung ab. Sie trifft ihn am Kopf, den er anhebt und nachsieht, woher das Geschoss gekommen ist. Dabei sieht er mich nur total abschätzig an, was mir die Gänsehaut aufzieht. Sofort hab ich das Bild eines nackten Truthahnes im Kopf. So seh ich unter meinen Klamotten sicher auch aus. Nur mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass der Vogel sicher ein paar Kilo mehr auf den Rippen hat als ich – so groß ist das Teil.

Seinen Eltern steht der Mund offen.

Okay, Schluss jetzt mit der Schonkost. „Wollte nur nachprüfen, ob sein Gehirn auch was abbekommen hat“, verteidige ich mich schulterzuckend. „Ganz sicher bin ich noch nicht, aber er reagiert zumindest“, ergänze ich und lade meinen Teller abermals auf.

„Adam, probier doch den Truthahn, bevor er kalt wird“, versucht es seine Mum nochmals. Wieder reagiert er nicht, hat sogar erneut seine ursprüngliche Position eingenommen und starrt auf sein Essen.

Hey, deine Mum hat dich was gefragt“, stelle ich nach ein paar Sekunden patzig fest. Wieder reagiert er nicht.

Wieder prallt eine Kartoffel aus meiner Richtung an ihm ab. Diesmal treffe ich ihn an der Schulter. Da er nicht reagiert, bombardiere ich ihn weiter mit Essen. Sogar vor Kartoffelbrei mache ich nicht Halt. Eine volle Ladung landet im nächsten Augenblick direkt in seinem Gesicht.

Aus dem Munde seiner Mum kommen nur zusammenhanglos gestammelte Wortfetzen „Also … das … das“, bevor sie sich für ein „Dulde ich nicht in meinem Hause“ entscheidet, das nur halb so energisch rübergekommen ist, wie sie es beabsichtigt hatte.

Adams Dad scheint fassungslos zu sein. Anne schnaubt empört: „Lass ihn in Ruhe. Siehst du denn nicht, dass er“ „Dass er was?“, falle ich ihr ins Wort, aber auch sie hat Hemmungen, es auszusprechen, also knallt sie nur ihre Serviette auf den Tisch und wendet sich voller Empörung Adams Eltern zu: „Schmeißt sie doch endlich raus.“ Tja, wundert mich auch, dass sie noch nicht den Sicherheitsdienst gerufen haben, um mich vor die Tür zu setzen. Liegt sicher an Thanksgiving – da haben wohl viele ihrer Angestellten frei und sie wollen sich nicht selbst die Finger schmutzig machen.

Richard hält sich die Hand vor den Mund, um seine Belustigung zu verbergen. Er ist wohl hier der Einzige bei Tisch, der versteht, was ich hiermit bezwecken will.

Mister Laurren reagiert mit einem „Würdest du jetzt damit aufhören, Rose“, was mich nicht davon abhält, eine Möhre zu werfen, die Adam am Ohr streift.

Adam hebt den Kopf und herrscht mich mit einem total bösartigen „Hör … auf … damit“ an, das auch einem dämonischen Grollen entsprungen sein könnte.

„Gut, das Sprachzentrum ist nicht betroffen“, erkläre ich und widme mich wieder meinem Essen.

Seine Mum krallt sich die Serviette von ihrem Schoß und springt förmlich hoch – jederzeit bereit, ihren Sohn sauberzumachen. Ganz so, als wär er ein Baby. Da habe ich ihr das Teil aber auch schon entrissen, als sie an mir vorbeiwill und meine: „Ich mach das schon. Immerhin hab ich das angerichtet.“

Sie ist kurz irritiert, setzt sich aber im nächsten Moment wieder. Natürlich mache ich nichts dergleichen. Er kann die Arme bewegen, da bin ich mir jetzt ganz sicher, da er die Fäuste zornig ballt. Adam macht aber keine Anstalten, sich das Zeug aus dem Gesicht zu wischen.

„Wer hat den asozialen Abschaum hier reingelassen?“, sagt Adam doch tatsächlich mit einer echt abartig wütend verstellten Stimme. Autsch.

Hey, nur weil ich keine Designerklamotten trage, bin ich nicht automatisch Abschaum. Naja, okay, meine Sachen sind echt schon hinüber. Den Aufdruck des T-Shirts kann man eigentlich nur mehr noch erahnen. Was stand da nochmal? Egal. Trotzdem war das gemein.

Adam!“, zischt sein Dad.

Ich stehe auf, trete an Adam heran und ziehe ihm seinen unangetasteten Teller unter der Nase weg, den ich zurück an meinen Platz trage. Da mich alle anstarren, als hätte ich gerade den Verstand verloren, zucke ich nur mit den Schultern, erkläre: „Eine Spende für die Armen“ und mampfe seine Portion auch noch in mich rein.

Adams Mum springt hoch und meint: „Ich bring dir noch etwas, Schatz.“ Mann, ich glaubs nicht – die sind ja vollkommen von der Rolle.

Setzen Sie sich!“, herrsche ich sie an. „Er kann sich was holen, wenn er Hunger hat.“ Sie ist sichtlich unschlüssig, nimmt aber nach kurzer Bedenkzeit wieder Platz.

„Er hat schon genug durchgemacht, da muss er sich das hier nicht auch noch antun. Siehst du das denn nicht, wie schwer das für ihn ist?“, fordert mich Anne zickig heraus. Sehen die denn nicht, dass er ihnen bloß auf der Nase rumtanzt?

Ich nicke einsichtig – zumindest sollen sie das glauben – und wende mich wieder meinem Essen zu. Vielleicht bin ich ja doch zu weit gegangen. Vielleicht auch nicht.

„Blendet dich das Licht, Liebling? Ich kann den Vorhang weiter schließen, wenn du möchtest“, schlägt Misses Laurren nach ein paar Minuten untertänig vor. Sie steht sogar auf, um den Vorhang zuzuziehen, aber Adam blafft sie nur an: „Lass mich.“

„Sag mal, wie redest denn du mit deiner Mum?“, pruste ich.

Adams Vater steht an ihrer Stelle auf und schiebt den Vorhang ein Stück weit zu, damit der Arm von seinem Sohn nicht in der Sonne liegt. Auch er sieht in regelmäßigen Abständen zu seinem Sohnemann rüber und kontrolliert, ob ihm das behagt. Mehr als sein gekonnt mürrisches Gesicht kriegen sie aber nicht zurück.

Adams Mum rutscht nervös auf ihrem Sessel herum. Sein Dad geht nochmal zum Fenster und korrigiert den Vorhang. Ich tausche Blicke mit Adams Bruder aus, der so ein Tja-willkommen-in-der-Freak-Show-Gesicht draufhat.

„Adam Schatz, willst du wirklich nichts essen?“, lässt meinen Geduldsfaden endgültig reißen.

„Meine Fresse. Sie sind ja total überfordert“, musste an der Stelle einfach mal gesagt sein.

Richard hat sich an seinem Glas Wasser verschluckt und hustet sich die Seele aus dem Leib, während Mum und Dad vor Schreck die Augen weit aufgerissen haben.

„Wir haben alle einen Pflegekurs besucht. Wie du sehen kannst, haben wir alles im Griff“, informiert mich Richard mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme.

Wutentbrannt knalle ich meine Serviette auf den Tisch, gehe zum Fenster rüber, kralle mir den Vorhang und ziehe das Teil so weit auf, dass die Sonne den Sohnemann ganz sicher so richtig schön volle Breitseite und bis zur Schmerzgrenze blendet.

 

Daraufhin nehme ich neuerlich Platz. Seine Mum erhebt sich keine zwei Sekunden später und zieht den Vorhang wieder zu.

Erneut stehe ich auf und öffne ihn. Sie zieht ihn wieder zu. Das Spielchen spielen wir einige Male, bis seine Mum aufgegeben hat.

Als Adam genervt die Augen – Vampir wie er ist – zusammenkneift, nutze ich seine Ablenkung, um auf ihn zuzugehen, seine Rollstuhlbremsen zu lösen, ihn mit einem Ruck vom Tisch wegzuschieben und ihn näher an uns heranzurollen.

Er wehrt sich und blockiert mit seinen Händen an den Ringen die Räder des Gefährts. Ich wusste, dass er sie bewegen kann.

Durch den plötzlichen Stopp bin ich ihm voll hinten reingeknallt, was ihn abrupt loslassen lässt. Ups. Das hat sicher wehgetan. Naja, selbst schuld. Was pfuscht er mir auch ins Handwerk.

So schiebe ich ihn dann direkt neben meinen Platz, damit er bei uns sitzen kann und kralle mir meine Serviette, die ich ihm als Lätzchen um den Hals schlage und hinter dem Nacken zusammenbinde. Natürlich reißt er sie sich gleich wieder runter.

Was soll der Scheiß?“, knallt er mir vor den Latz.

„Ich füttere dich, was sonst? Immerhin sitzt du im Rollstuhl, du Ärmster“, spule ich meine Mitleidsnummer ab. „Das muss so schwer für dich sein. Du hast doch schon genug durchgemacht, da musst du dir das hier nicht auch noch antun“, antworte ich vollkommen überzeichnet, lade Kartoffelbrei auf einen Löffel auf und steuere seinen Mund an.

Er dreht angewidert den Kopf zur Seite weg.

„Komm, mach den Mund auf“, bestärke ich ihn. „Einer für Mummy, einer für Daddy, einer für Richard, einer für Anne und einer für Rose.“ Ich sehe seine Eltern an, die sich das Schauspiel mit offenen Mündern geben.

„Ich hab mir schon immer ein Baby gewünscht. Er ist ja so hilflos“, stoße ich gekonnt dramatisch aus.

„Das reicht jetzt“, wendet Adams Dad ein. Eigentlich lässt die Vehemenz in seiner Stimme keinen Zweifel zu, dass er es ernst meint und seine Geduld jetzt am Ende ist, doch ich lasse mich davon nicht einschüchtern.

Wieder will ich Adam Essen reinschaufeln, doch er schlägt mir die Gabel aus der Hand. Dann greift er nach den Ringen an seinem Gefährt – will flüchten – doch ich schiebe mein Bein zwischen die großen Hinter- und die kleinen Vorderräder seines Rollstuhls, sodass er festsitzt.

Als wär nichts gewesen, esse ich weiter, während er versucht, abzuhauen. Das tut ganz schön weh, wie er mein Bein mit den Rädern immer wieder einquetscht, aber ich hätte mir eher das Körperteil abgebissen, als ihn gehenzulassen.

Adams Dad räuspert sich. Mit einem „Wie geht es dir in der Schule, Rose?“ will er wohl krampfhaft das Thema wechseln. Mich wundert es ehrlich gesagt, dass er mich noch nicht selbst vor die Tür verfrachtet hat.

„Gut, danke der Nachfrage, Mister Laurren. Wann geht denn Adam wieder zur Schule?“, will ich wissen.

„Adam möchte zu Hause unterrichtet werden“, informiert mich sein Vater.

Ich sehe Adam an, der es aufgegeben hat, freizukommen und mich gerade mit der puren Kraft seiner Gedanken zu töten versucht. „Oh stimmt“, bemerke ich, „Er muss ja alles wieder neu lernen. Wie man spricht, isst, … wie man sich benimmt“, konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

Richard ist ein Grinsen entwischt, das er zu spät vor uns verbergen konnte. Seine Freundin sieht ihn furienmäßig an und meint: „Das ist nicht witzig. Sie macht sich über ihn lustig. Wie pietätlos ist das denn?“ Was bedeutet denn bitteschön „pietätlos“?

Ich kommentiere ihre Aussage ebenfalls mit einem Grinsen, mit dem mich Richard angesteckt hat.

„Zumindest brauchen wir nicht um unser Essen zu betteln“, murmelt Adam, sodass es jeder bei Tisch hören konnte.

Man könnte eine Stecknadel im Raum fallen hören. Das hat echt wehgetan. Natürlich wissen auch die Laurrens, dass wir nicht so viel Geld wie sie haben. Und wie das so mit Gerüchten ist, hält sich eines davon hartnäckig, das er gerade gegen mich verwendet. So viel zu dem Kaff, in dem sich alles rumspricht.

„Du bist echt ziemlich großkotzig für jemanden, der eine zweite Chance gekriegt hat“, zische ich.

Adam schlägt mit geballter Faust so hart auf den Tisch, dass alle zusammenzucken – mich mit eingeschlossen. Angestrengt fixiere ich ihn. Die Ader an seiner Schläfe pocht vor Zorn und er sieht aus, als würde er mir gleich eine verpassen.

Fuchsteufelswild raunt er wie ein Wahnsinniger: „Ich habe nie um eine zweite Chance gebeten. Ich wär lieber tot, als an dieses Ding gefesselt, aber du musstest ja auftauchen und pfadfindermäßig die Kavallerie rufen. Hast dir schön ein Abzeichen verdient. Bist du hier, um dir die Belohnung abzuholen?

Weißt du was, ich hasse dich. Ich ertrage deine Anwesenheit nicht. Wenn ich könnte, würde ich dir dasselbe antun, was du mir angetan hast. Ich wünschte, du wärst einfach vorbeigefahren und hättest mich verrecken lassen.“ Wie Nadelstiche prasseln diese niederträchtigen Worte auf mich herab.

Aus einem Impuls heraus springe ich hoch und knalle ihm eine schallende Ohrfeige runter, die dicke, rote Male an seiner Wange hinterlässt.

Anne hat sogar einen Schrei losgelassen, der diese grauenhafte Szene untermauert.

Einige Sekunden starren wir uns nur an. Sein aggressiver Blick und das Schnauben, mit dem er sich im Zaum zu halten versucht, nicht selbst mit der Hand auszuholen, bohren sich direkt in meine Eingeweide.

Als ich das nicht mehr länger ertragen kann, flüchte ich zur Tür raus – darauf bedacht, die Flut an Tränen, die sich anbahnt, noch bis ich draußen bin einzudämmen.

*******

In letzter Zeit geht mir das Gurkenstopfen viel leichter von der Hand als sonst. Naja, liegt wahrscheinlich an der unbändigen Wut, die ich an dem unschuldigen Gemüse auslasse, wenn ich an das Aufeinandertreffen mit Adam vor ein paar Tagen denke. Ich hab das Essen immer noch nicht so richtig verdaut – es liegt mir im Magen wie ein Stein. Ab irgendeinem Zeitpunkt ist da etwas total schief gelaufen.

Als meine Sonntagsschicht gegen fünf zu Ende ist, trete ich mit meinem Rad die Heimreise an. Vor dem Anwesen der Laurrens, das blöderweise direkt auf meinem Heimweg liegt, treffe ich auf den joggenden Richard, der mir von Weitem zuwinkt. Toll, ich hab jetzt echt keinen Bock darauf, das wieder alles durchzukauen. Ich hab schon genug daran zu knabbern.

„Hallo Richard, wie geht’s?“, frage ich ihn in der Hoffnung, er möge mich schnell wieder weiterziehen lassen, als er leichtfüßig auf mich zukommt.

„Kann nicht klagen und dir?“, trällert er quietschvergnügt. Okay, er ist wohl nicht nachtragend, weil ich seinen Bruder gehauen habe.

Ich zucke nur mit den Schultern. Richard sieht zum Haus rüber und meint: „Ganz schön gruslig da drin zurzeit. Adam führt ein strenges Regiment.“

„Selbst schuld, wenn ihr ihm die Führung kampflos überlasst“, entgegne ich. „Wie kommst du damit klar?“

Er lächelt und rauft sich die Haare. „Ist ganz schön schwer. Immerhin hat es ihn echt übel erwischt. Er geht nie nach draußen. Heute hab ich ihn gefragt, ob er neben mir herfahren will, wenn ich jogge, da ist er fast ausgerastet. Seine Freunde hat er auch schon vergrault. Die kommen schon lange nicht mehr her – haben es aufgegeben. Adam wollte sie nicht sehen – hat sie einfach weggeschickt, ohne sie zu empfangen. Er bunkert sich da drin ein und leidet vor sich hin.“ Ach du Scheiße.

Plötzlich ertönt ein klirrendes Geräusch aus der Richtung des Anwesens und etwas, das aussieht wie ein Stuhl, fällt vom ersten Stock und zerschellt auf der Terrasse.

„Das ist Adams Zimmer“, stößt Richard aufgebracht aus und aktiviert unsere Beine, die uns schnell die Einfahrt überqueren lassen.

Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich ahne bereits Schlimmes, da passieren wir gerade die Eingangstür der Villa.