Buch lesen: «Skyline Deluxe», Seite 9

Schriftart:

Das war ihm wichtig. Er wollte den Frauen gefallen.

Letztlich fühlte er sich so am wohlsten. Also los.

Die paar Momente im Gang und Aufzug genügten. Natürlich waren Fremde um ihn. Die Hotelgäste kamen um diese Zeit in Bewegung, reisten ab, gingen Frühstücken, Shoppen oder kamen schon aus dem Restaurant zurück. Und störten seine mentale Idylle.

Die paar Momente genügten, sich zu fragen, wie das Wiedersehen am schicksalhaften Frühstückstisch sein würde. Wie lange hatten sie eigentlich Zeit? Thomas war verliebt. Das wusste er. Er wusste auch, sie sah das nicht vor. Er war nervös. Nicht sehr, aber spürbar und fragte sich wieso. Sie hatte ihm mit einem sagenhaften Blow die Dusche versüßt. Seine Schenkelwünsche waren mehr als erfüllt worden. Er hatte sie vom Feinsten geknallt. Er war nervös, weil er noch nicht bei ihr war. Er kannte sich.

Er verliebte sich zu leicht, zu gern. Es bedeutete nicht das Potential für weitreichendes Zusammenleben.

Er war einfach zu gerne verliebt.

Bei so einer Gelegenheit kaum zu vermeiden. Wozu auch?

Wenn er verliebt war, wurde er unsicher, konnte aber nicht erwar­ten, sie zu sehen. Wie das eben so ist.

Die junge Empfangsdame fragte ihn nach seiner Zimmernummer und gleich darauf überraschenderweise:

„Do you have somebody here?“

Unwillkürlich antwortete Thomas wahrheitsgemäß: „Yes“, als ihm einfiel, dass sie von der Einzelbelegung seines Zimmers wissen müsste. Stand doch alles im Computer.

„Did a second person check into your room?“, ging es auch gleich weiter.

„It´s a friend. With an own room“, sagte er, ein No wohlweislich aus Höflichkeit vermeidend und das new des Freundes, der Freundin gerade noch zurückhaltend, um möglichst wenig zu verraten.

„It´s good to make friends“, ließ sich die Dame über ihre Kompetenz hinaus zu einem Kommentar hinreißen.

Thomas sah in ihre Augen und glaubte darin die Bestätigung für seine Vermutung zu finden, dies sei ein Wink.

Ihr entzückendes Lächeln versöhnte ihn sogleich und er verfolgte sein Ziel: das geliebte Zaubermädchen.

Geradeaus ging es zu dem Platz, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Eigentlich idiotisch davon auszugehen, dort säße sie wieder, aber Thomas hatte nicht darüber nachgedacht.

Vielleicht wählte man einfach den einzigen Ort, der überhaupt einen Anhaltspunkt bot. Das Restaurant war auch nicht so groß, dass man sich nicht finden könnte. An diesem Platz, dem Tisch auf der Rück­seite einer Trennblende im mittleren Bereich und dadurch vom Eingang nicht sichtbar war sie natürlich nicht. Dort angekommen, fand er sie nicht vor, sah deshalb auf und direkt auf Chi am Ecktisch im hinteren Restaurantbereich nahe dem Pool. Scheinbar in ihr Frühstück vertieft, schien sie ihn nicht kommen zu sehen. Diese in sich gekehrte Abwesenheit passte nicht zu ihr. Hatte er sie doch beim Essen aufrecht sitzend in Erinnerung. In diesmal fröhlicher Morgentrance schritt er mit leicht schwebend gemessenen Schritten auf sie zu. Sie hob ihren Blick nicht bis Thomas vor ihr stand und tat dann ganz überrascht, ihn hier zu sehen. „Hier versteckst du dich also vor mir“, eröffnete er das Gespräch. Chi schmunzelte. Sie hatte das mit ihrem kleinen Suchspiel gar nicht beabsichtigt, da sie sich ehrlich zu wenig Gedanken über den in Thailand sehr wichtigen äußeren Anschein ihres Verhältnisses machte, aber Thomas wurde gerade bewusst, wie gut diese Szene ihren Kontakt nach außen als unproblematische Bekanntschaft unter Hotelgästen oder sonst wie entspannte Verbindung ohne schwerwiegende Tragweite für die Umgebung verkaufte.

Auch wenn es so oder so niemand zu kümmern brauchte, wäre ein offenes zur Schau tragen ihrer aktuell sehr persönlichen Affektion in einem höchst unschicklichem Sinne aufdringlich.

Darauf Rücksicht zu nehmen war Thomas stets bedacht, während Chi dies angesichts ihrer eigenen Experimentalinteressen praktisch vollkommen außer Acht ließ.

So sehr sie sich als Japanerin gerade aus der gehobenen Gesell­schaftsklasse über die dortige Herrschaft unabdingbarer öffentlicher Förmlichkeit klar sein musste, so wenig machte sie sich hier Gedanken über die feinen Mechanismen eines toleranten Schutzes der Privatsphäre durch die spezielle Höflichkeit im Umgang der Thai. Warum auch? Sie war hier im Urlaub und nicht auf Studien­reise bezüglich kulturgesellschaftlicher Details südostasiatischer Ethiken des Mekong Deltas.

Das Maß ihrer anerzogenen Höflichkeit und Zurückhaltung im alltäglichen Rahmen reichten bisher im Vergleich zu dem Verhalten der meisten anderen und besonders der aus westlicher Hemisphäre stammenden Touristen vollkommen aus. Es gab nichts, als nur profane Situationen ohne wirklich zwischenmenschlich emotionale Färbung zu bewältigen. Ansonsten waren die Thai die pragmatische Distanz der Japaner schon gewöhnt. Zwar fehlte darin offenbar die Freundschaftlichkeit, eine herzliche Freundlichkeit, die nichts bedeuten musste, doch ehrlich gemeint war und so viel von der Atmosphäre im Land ausmachte. Deshalb wirkten Japaner auf Thai vor allem kühl. Deshalb machte man sich keine Sorgen. Es waren ja Touristen. Und höflich waren sie ja.

Wenn sie nicht gerade Ansprüche stellten.

Des weiteren verfolgte Chi bekanntlich aktuell eine Art unjapani­schen Selbsterfahrungstrip. Darüber war ihr der Sinn für ihre Umgebung, die Aufmerksamkeit bezüglich ihrer Wirkung auf diese, etwas abhanden gekommen. Schließlich war das eines der Dinge, von denen sie sich zu befreien suchte. Zu viel Rücksicht auf die Meinung anderer zu nehmen. Ständig darauf achten zu wollen, zu müssen, wie sie auf andere, auf die Öffentlichkeit wirkte, was sie von ihr hielten. Sie wollte tun und lassen, was sie für richtig hielt. Wozu sie Lust hatte. Was ging das andere an? So richtig Chi damit lag, genau hier lag auch ihr momentaner Irrtum.

Thomas hatte die Selbstbefreiungsaktion noch nicht so ganz begrif­fen. Das würde ihm auch nicht gelingen. Viel zu souverän wirkte Chi auf ihn. Hätte eben diese scheinbare Stärke auch Anlass geben können, seine Intelligenz auf eine dahinter verborgene Unabhängig­keitsschwäche zu stoßen, war er durch seine Verliebtheit zeitweilig zu verblendet, um das in Betracht zu ziehen.

Starke, gefasste Frauen törnten ihn an.

Sehr wohl erkannte er den Nutzen äußerer Formalität zur Wahrung des persönlichen Freiraumes. Den Schutz, den Höflichkeit einer individuellen Unversehrtheit der Gefühlswelt bot, indem man nicht alle Welt wissen ließ, wie es in einem aussah, wie man sich fühlte, was zwischenmenschlich vorging. So belästigte man gleichzeitig auch die Anderen nicht damit. Denn auch das wollte man selbst doch nicht unbedingt. Von jedermann zu jeder Zeit mit deren persönlichem Zeug vollgeschwallt werden. Wen interessierte das schon? Interessant war das auch nicht. War man nicht selbst Mensch? War man nicht klug genug zu wissen, wie Menschen eben sind? Wer war schon einmal so besonders, etwas Außergewöhn­liches zu bieten? Und wenn? Blieb diese Spezialität nicht gerade deshalb speziell, weil sie es für die speziell Betroffenen war?

Was ließ sich schon verallgemeinern, ohne dem das Spezielle zu rauben?

Die allgemeinen Wahrheiten menschlichen Daseins waren bald auch Schwarz-Weiß-Malerei.

Gleichgültige Beurteilung oberflächlicher und daher vereinfachter Betrachtung solcher eigentlich spezieller Ereignisse aus einer unbe­teiligten Distanz. Diese blieb oft genug böswillig. Verächtlich und herablassend. Wahrscheinlich aus Neid aufgrund verlorener eigener Gefühlstiefe oder grundsätzlichem Mangel daran. Diese mündet leicht in die Selbsttäuschung, über die als bedrohlich empfundene Unberechenbarkeit derselben erhaben und daher höher entwickelt beziehungsweise zumindest höher gestellt zu sein.

Um Einiges angenehmer verstand Thomas die verständnisvoll allwissende Höflichkeit der Thai. Natürlich konnte man nicht wissen, wie allwissend sie wirklich war. Das ist wahrscheinlich Teil des Tricks. Verständnisvoll war sie sicher. Sicher, wenn es keine falsche Höflichkeit war. Die war bestimmt nicht allwissend, sondern die beschriebene Anmaßung, urteilen zu können. Bei der buddhistisch geprägten Höflichkeit der Thai handelte es sich insgesamt um ein großzügiges Verständnis für die grundsätzliche Schwäche, ein Mensch zu sein, was man nur allzu gerne an den Tag legte, da man selbst einer war und sich deshalb vermutlich wünschte, darauf hoffen zu können, dieser Form der Vergebung unterliegen zu dürfen. Eigentlich ganz einfach.

Das war der Grund, warum man als feiner Mensch die Umwelt nicht unnötig mit persönlichen Einzelheiten strapazierte.

Nicht unnötig. Dafür durfte man jederzeit seine Wünsche äußern, wenn dies angebracht schien. Zum Beispiel um diesen nachkommen zu können. Die Leute ständig mit sich, seinen Eigenarten oder was man meint, an Vorkommnissen von Bedeutung verfügbar zu halten, zu malträtieren ist ungehörig. Selbst die schönsten Dinge verlieren dadurch diesen Glanz, den sie nur für einen selbst haben. Außer man teilt sie mit den entsprechend Vertrauten. Ansonsten hat es etwas davon, Jemand fremdem vom gestrigen Stuhlgang oder der letzten Onanie zu erzählen. Niemand will davon hören, während auch niemand Stuhlgang leugnen oder darauf verzichten würde, was größtenteils auch für die Onanie galt. Trotzdem hieß, die Dinge des Lebens zu kennen nicht unbedingt, unentwegt damit behelligt werden zu wollen. Schon gar nicht, wenn es sich um die Dinge anderer Leben handelte, die außerdem gerade nicht zum eigenen passen wollten. Hieß es nicht gerade, diese Dinge nicht wichtiger zu nehmen, als sie eben waren? Vor allem die eigenen? Wollte nicht Jemand, der zu mitteilsam war damit in seinen Mitmenschen dringen, ihm sein Leben aufdrängen und in seinem Sinne eine Art Verbindung hervorrufen, die einfach nicht bestand, nicht gewünscht war und weiter, sollte man sich darauf tatsächlich einlassen, sogar eine gewisse Schuld heraufbeschwören, nun auch etwas vom eigenen Leben einzubringen, preiszugeben? Konnte man das schon als Missbrauch bezeichnen? Ungehörig, unschicklich, unhöflich war es ganz sicher. Umgekehrt genossen die persönlichen Erfahrungen, das eigene Erleben, Empfindungen und Gefühle eine Exklusivität, die sie schützte, wenn man sie nicht mit jedem, sondern nur mit auserwählt Nahestehenden oder gar nicht teilte.

Manche Dinge mussten wohl wirklich bei einem selbst bleiben, da sie nicht authentisch vermittelt werden konnten.

Zu sehr an die eigene Person, das Selbst gebunden.

War es nicht überhaupt so, dass eine Sache, eine Erfahrung und Erlebnis, die damit verbundenen Gefühle nur einem Menschen vermittelt, nur wirklich geteilt werden konnten, wenn dieser dieselbe Erfahrung mit einem zusammen oder eine sehr ähnliche, vergleichbare selbst gemacht hatte? Konnte man über den Duft einer Blume zu jemandem sprechen der keinen Geruchssinn hatte? Den Geschmack des Weines erklären, wenn der Andere ihn nicht trinken konnte? War jeder Orgasmus, eines jeden Menschen einzigartig? Wie auch jeder Rausch konnte doch ein Orgasmus an sich und ein Rausch als solches Einmaliges betrachtet und bis zu einem gewissen Grade unter Menschen darüber ein Austausch getätigt werden. So wie über das Autofahren, Flugreisen oder alles worüber die Leute so gerne reden.

War es aber dann nicht so, wie die moderne Lebensmittelindustrie die Einzigartigkeit jeder Tomate oder jeder Erdbeere in künstlicher Imitation der rein chemischen Verbindungen zu einem nivelliertem Einheitsgeschmack, einer uniformierten Vereinfachung, eines im­mer gleichen Normgeschmackes Tomate oder Erdbeere degradierte und das Eigentliche, das jeweils Eigene damit verloren war? Kam es somit auf eben dieses Eigenartige, beim Menschen Persönliche an? Die Abweichung und vielleicht sogar Verunreinigung des rein Tomatischen, Erdbeerischen, die seine lebendige Einzigartigkeit ausmachte? Die ganz intime Schwäche des Menschen so zu sein, wie er war und damit wie kein anderer. Musste das nicht geschützt werden? Diese private Intimität des Selbst. Vor der herabwürdi­genden Gleichmacherei einer oberflächlichen Bewertung durch das Gerede und der Vermittlung zwischen Jedermann. Behielt man es nicht besser bei sich? Doch musste sich etwas von dem Selbst auch teilen lassen. Sonst bliebe der Mensch letztlich allzeit allein.

Dies gelang in der Freundschaft, der Familie, der Arbeit.

Allem gemeinsamen Erleben, gemeinsamen Leben, gemeinsamer Erfahrung. In seiner höchsten Form: der Liebe.

Konnte Höflichkeit eine gemeinsame Erfahrung sein, die Ausdruck der Achtung davor zu sein versuchte. Einigkeit darüber, dass man eben Mensch war. Nicht mehr und nicht weniger.

Keine Freundschaft oder Nähe vorgab, wo keine bestand, sich dadurch aber auch diese nicht durch aufdringliches Getue verbaute. Nicht so tat, als gehöre man zur Familie und deshalb auch selbst, diesen Bereich überzeugt vor Einflüssen schützte, wodurch man sich als Gast, vielleicht Freund qualifizierte. Nicht Liebe heuchelte, um diese und die eigene Fähigkeit zur Liebe nicht zu beleidigen, und dadurch untergrub, störte oder Schlimmeres. Indem man sich nicht erhob, aber auch nicht unterwarf, weil man das selbst bei anderen nicht mochte, sondern gleich war, weil man sich, wie den Anderen, den Anderen wie sich als Mensch erkannte und achtete.

Als einzigartiges Geschöpf.

Diese für Thomas nicht neue Erkenntnis schoss in diesem Augenblick mit traumhafter Schnelligkeit durch sein Gehirn und damit lag er ziemlich nah an Chi´s unbewussten Beweggründen zu ihrem Selbstversuch. So souverän sie ihn und den überwiegenden Teil der Situationen dabei nach außen zu bestimmen verstand, so selbstbezogen war sie im gleichen Zusammenhang auch und nahm ihre Wirkung auf die Umgebung zu wenig war.

In ihrem Verständnis lief alles nur zwischen Thomas und ihr ab.

Es sollte nur um sie beide gehen. So ganz ließ sich das aber nicht einrichten. Wie sie sich immer noch nicht absolut sicher war, wie sie eigentlich ihre Entschlüsse zum bisherigen Verlauf getroffen hatte, bemerkte sie nicht, dass sie sich durchaus in einen Zusam­menhang fügte. Wenn sie auch sicher war, all das nicht für diesen Urlaubsaufenthalt geplant zu haben, wollte sie jetzt eine zu Beginn vorhandene Bereitschaft nicht mehr ausschließen.

Vielleicht hatte sich zu viel aufgestaut. Latente Unzufriedenheit, erziehungsbedingte, innere Zwangsempfindungen oder einfach eine zu lange währende Abfärbung des Druckes in der Geschäftswelt zu Gefühlen der Unfreiheit.

Trotzdem hatte sie Thomas nicht hergezaubert.

Jedenfalls nicht unbewusst und bewusst schon gar nicht.

Seine Faszination für ihre helle, wie er meint durchsichtige Haut und ihre für ihn sogar bei einer unscheinbaren, am Nebentisch sitzenden Fremden atemberaubenden Schenkel war nicht ihre Idee gewesen. Die verständnisvolle Aufmerksamkeit in der Höflichkeit der Thai würde ihr bald zu Bewusstsein kommen.

„Dein Radar hat mich gleich gefunden“, antwortete Chi zufrieden.

„Liegt das an der großen Antenne?“

Anzügliche Scherze waren nicht ihr Spezialgebiet.

„Meine Augen sind sehr gut.“ Thomas sagte es, als sei es als Erinnerung an seine herzliche Güte zu verstehen. Selbstverliebt und trotzdem die wahren Werte der Freundschaft betonend.

„Bin ich also doch nicht so unscheinbar?“

Sie hatte sehr wohl von unten heraus beobachtet, wie er sie sofort gesehen hatte und benutzte erneut das despektierlich klingende Wort in Englisch: Insignificant.

„Was sehen deine guten Augen?“

„Du hast die traumhafte Shorts von gestern an …“ Chi´s Po machte unwillkürlich einen kurzen Satz nach links als Reflex.

Sie fühlte sich aufrichtig geschmeichelt, dass er das unter dem Tisch wahrnahm. Als nächstes presste sie ihre Lippen zusammen, so dass wieder nur die beiden Enden sich so wenig wie möglich hoben, um ihn nicht auch noch mit einem anerkennenden Lächeln zu belohnen. Sie sah ihn gleichzeitig skeptisch von der Seite an, indem sie den Kopf leicht nach rechts wandte, als wollte sie sagen: Ja, du Schlauberger. Es macht mir Vergnügen, dir zu gefallen. Es ist das Mindeste, das zu bemerken. Trotzdem platze ich vor Freude darüber. Lange kein Grund sich etwas darauf einzubilden.

„… das T-Shirt ist fast das gleiche. Du bist nicht geschminkt, aber deine Augen leuchten viel heller. Deine Haare sind ein bisschen unordentlich“, schloss er mit einer sanften Spitze in Richtung ihres bisher so jenseitig akkuraten Äußeren, als Hinweis einer leicht aufkommenden Laszivität durch verrutschte Haarsträhnen.

„Meine Augen leuchten?“, fragte sie gekonnt interessiert.

„Für mich leuchtest du. Vielleicht sehen alle dieses Leuchten.“

„Glaubst du? Glaubst du man sieht es mir - uns an?“

„Ja. - Nicht jeder kann das sehen. Nur empfindsame Menschen. Die reinen Herzens sind“, kam ihm die Bibelformulierung über die Lippen. „Those with pure heart.“

Und meinte pure senses, reine, unverwirrte Sinne.

Das gefiel Chi: pure heart.

„Glaubst du das wirklich?“, fragte sie noch mal.

„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich sehe. Den meisten ist es wahrscheinlich egal.“

„Sie sehen gar nicht hin. Sie haben auch keine reinen Herzen. Leider“, seufzte Chi mit untypisch leerem Blick in eine unendliche Ferne, bevor sie ganz schnell zu ihrer Haltung zurückfand.

„Darf ich mich setzen?“, fragte Thomas fast so, als würden sie sich nicht kennen und er müsste wirklich um Erlaubnis bitten.

„Du hast noch gar nichts zu essen geholt“, wunderte sie sich aufrichtig.

„Ich brauche erst mal mehr Kaffee“, gab er ehrlich zu Bedenken.

Thomas bemerkte, dass sie Tee trank, wie gestern. Er saß ihr jetzt gegenüber mit dem Rücken zum Saal. Das behagte ihm gar nicht.

Eine Hostess kam und brachte Kaffee mit.

Thomas merkte seinen hohen Bedarf an Milch und Zucker an, was zu den üblich freundlichen Erstaunensbekundungen beim Personal führte, er sei so süß. Das quittierte er wie immer mit seiner Formel über Milch und Honig - milk and honey, um die es ihm beim Kaffeetrinken eigentlich nur ginge.

Chi begleitet den förmlichen Wortwechsel stumm amüsiert.

Ein ritualisierter Austausch unbedeutender Höflichkeiten zur artigen Manifestierung der gegenseitigen Akklamation. Sehr freundlich.

Thomas schüttete die Unmengen Zucker und Milch in seine volle Kaffeetasse und fabrizierte das unvermeidliche Fußbad in der Untertasse. Wie gestern. Chi sagte nichts. Auch nach einem 0,07 Millimeter Lächeln suchte man vergebens. Thomas saugte das Gemenge mit einer Serviette auf, sögerte an der übervollen Tasse und trank dann schnell nach. Er wusste, dass das peinlich war.

Chi kannte das vom Vortag. Seine konsequente Ungeschicklichkeit in dieser Sache, war liebenswürdig.

Diese Tollpatschigkeit in gewissen Momenten war eine Mischung aus in diesem Falle Morgentrance und daher kommender oder allgemein vorhandener Gleichgültigkeit gegenüber Etikette.

Letztlich blieb es nichts weiter als verschüttete Flüssigkeit, ein schmutziger Tisch. Man wischte es weg.

Ein solch quasi materieller faux pas kümmerte Thomas nicht.

Hätte er sich gegenüber der Bedienung im Ton vergriffen oder wäre aus Unachtsamkeit ungerecht oder grob zu ihr gewesen, hätte er sich noch Stunden später Vorwürfe gemacht.

Chi fand die äußerliche Verfehlung unangenehmer und hätte sich, wäre sie es gewesen ziemlich geschämt, während ihr mangelnde Rücksichtnahme gegenüber einem Angestellten keine sonderlichen Bedenken verschafft hätten.

So war es aber Thomas, der ungeschickt war und vielleicht lag es daran, dass es ihm selbst wenig auszumachen schien, dass sie ihn dafür gern hatte, mit dem Tischgerät nicht zurecht zu kommen.

„Ich säße lieber mit dem Blick zum Saal“, gab Thomas zu verstehen.

„Ich sitze nicht gern mit dem Rücken zum Geschehen.“

„Sollen wir tauschen?“

„Kann ich neben dir sitzen?“

„Das macht man doch nicht. Man sieht sich doch an.“

„Ist mir egal. Ich fühle mich so nicht wohl.“

„Wirkt das nicht zu vertraut?“

„Jedenfalls könnten wir dann besser flüstern.“

„Jetzt holst du dir erst mal was zu essen und ich mache inzwischen Platz.“

Thomas trank die Tasse in einem Zug leer und bat:

„Bestellst du noch mehr Kaffee für mich?“

„Alles klar. Milk and honey for the sweet boy.“

Thomas stand auf und wand sich in Richtung Buffet um.

Dazu musste er an den allwissenden Augen dieser besonders distinguierten Empfangsdame vorbei. Er fürchtete sich ein wenig vor ihrer allmächtigen Schau, die den ganzen Saal zu überblicken und beherrschen schien, wollte aber ihrem Blick nicht gekünstelt ausweichen. Das hätte auf eine blöde Art lächerlich gewirkt. Er war schließlich Gast und natürlich machte er sich ihretwegen nicht in die Hosen. Er hatte einfach echt zu wenig geschlafen, noch nichts gegessen und war ein wenig überempfindlich. Da konnten kritische Augenpaare schöner Frauen schon wehtun. Ihr jetzt irgendwie über Gebühr freundlich strahlendes Lächeln erlöste ihn. Sie selbst konnte sich gerade noch eine so sweet Bemerkung ersparen. Dabei an die Geschichte vom Nachtportier über eine offene Balkontüre denkend hätte sie sich beinahe verplappert und bitter… sweet gesagt.

Sie begrüßte lieber den nächsten Gast und schwor sich, in Zukunft wieder mehr Fassung im Amt zu bewahren.

Thomas sammelte auf seinem Teller. Er hatte Hunger. Doch war es eigentlich nicht gut, so früh schon so viel zu essen. Keinesfalls wollte er gierig wirken. Wie diese Touristen, die aus dem inklusiven Frühstück so viel wie möglich herauszuholen versuchten. Quasi um das Mittagessen zu sparen. Die vielen guten Sachen machten ihm einfach jede Menge Appetit, der bei seinem Hunger ausreichend vorhanden war. Am liebsten hätte er alles probiert und von seinen Lieblingsfrühstücksspeisen gerne etwas mehr. Sein Teller war voll. Man könnte ja noch mal gehen, wenn die Zeit reichte. Mit dem Teller in der rechten Hand, drei Brotsorten noch auf die Speisen getürmt und dem viel zu kleinen Glas Fruchtsaft in der anderen balancierte er vorsichtig zurück zu dem jetzt überraschend fern gelegenen Tisch. Oh er hatte zu wenig geschlafen. Chi sah ihn kommen und machte mehr Platz. Sein frischer Kaffee war schon da. Im Anrichten von Dingen war sie sehr gut. Vom vormaligen Fußbad war nichts mehr zu bemerken. Innerlich war sie über seinen Seiltänzerakt ziemlich erheitert, riss sich aber zusammen. Seine Erleichterung, alles heil auf dem Tisch absetzen zu können, äußerte sich in einem plötzlich sein angespanntes Gesicht erhellenden Lächeln.

„Guten Appetit.“ Chi war selbst bereits fertig mit Essen und würde keine zweite Portion holen. Noch einen Tee hatte sie genommen. „Was hältst du davon, nachher an den Pool zu gehen?“, fragte sie. „Du könntest dich noch etwas ausruhen.“

Kluges Mädchen.

Thomas nickte mit vollem Mund.

Für japanische Verhältnisse waren seine Tischmanieren am Morgen gelinde gesagt schwer hinnehmbar. Das vergnügte Chi, da es genau ihrer Intention entgegenkam, Dinge zurückzulassen, weniger wichtig zu nehmen, sich nicht auf Vergangenheit und Herkunft, sondern nur aufeinander zu beziehen. Da half es, wenn auch wirklich etwas anders war als sonst. Wer weiß, vielleicht hingen in der Persönlichkeitsstruktur lässige Handhabe beim Frühstück mit Freizügigkeit beim Sex zusammen. Letztere wollte sie bei ihrem Gefährten nicht missen und sein formloses Verhalten betreffend, war es gut möglich, dass sie ihn unbewusst deshalb gewählt hatte, weil Gegensätze sich bekanntlich anziehen und sie sicher einen gesunden Gegenpol zu ihrer eigenen, strengen Selbstdisziplin gebrauchen konnte, die wiederum Thomas so attraktiv erschien.

„Ich will gar nicht ausgehen. Solange ich bei dir sein kann.“ Thomas hatte heruntergeschluckt und diese infantil-romantische Aussage getroffen, die ihm gleich selbst ein bisschen kindisch und auch zu einnehmend vorkam. Hatte sie nicht gesagt, es ginge nicht um Liebe? Er hatte sich aber verliebt und es fühlte sich sehr danach an. Sie waren doch ehrlich vertraut.

„Wir können uns genauso gut am Pool verwöhnen lassen.“

Chi hatte die Klammerattacke überhört. Sie dachte nicht daran, dies in Betracht zu ziehen, da es in ihrer Sicht des Verhältnisses nicht vorgesehen war. Sie ließ sich nicht einnehmen.

„Da schonen wir unsere Reserven für Wichtigeres als im Smog herumzulaufen“, setzte sie neckisch hinzu.

„Ich hab gar keine richtige Badehose“, erwog Thomas lakonisch.

Er ging nie zu einem Pool. Sonnenbaden in der Großstadt. Fand er komisch. Halb nackt zwischen Hochhäusern die Stadtluft genießen und in Chlorwasser springen? Die Einheimischen waren bestimmt nicht auf diese Idee gekommen. Dafür gab es Palmenstrände. Dort benutzte er zum Schwimmen eine von den lustig bedruckten, knielangen Shorts aus Baumwolle, welche Touristenmärkte vorrätig hielten. Die waren zwar nicht fürs Wasser gedacht, taten es jedoch und waren viel billiger als Badehosen aus flüssigkeitsabweisenden Kunstfasergeweben.

Er hasste diese engen Plastikhosen. Weder sein Hintern, noch seine Geschlechtsteile fühlten sich in der Gummiverpackung wohl. Schließlich wollte er keine Schwimmrekorde brechen und trocknen tat bei der Hitze alles in kürzester Zeit. Die Hose war im Zimmer. Das erzählte er Chi und bestellte mehr Kaffee.

Diesmal ohne Fußbad. Aufmerksam füllte die Hostess die Tasse nur zu drei Viertel. Das Ende der Frühstückszeit nahte und Thomas hätte noch gerne ein paar Früchte und mehr Saft geholt bevor abge­räumt würde. So exklusiv Fünf-Sterne-Hotels waren, so konsequent musste auch die Organisation bleiben.

Natürlich warfen sie niemanden hinaus.

Das verbot sowohl die Klasse des Etablissements, als noch vielmehr die thailändische Höflichkeit. Nur das Buffet wurde abgeräumt, um Platz für den Mittagstisch zu schaffen. Die Gäste des Lunch warten zu lassen, wäre auch nicht vertretbar. So sollte alles seine Ordnung haben. Fix, doch ohne drückende Hast. Sicher waren sie froh, wenn jemand die vorhandenen Früchte nahm, die ansonsten hätten weggeworfen werden müssen. Man bekam sogar ein Lächeln dafür geschenkt.

„Ich hol mir noch Saft und Früchte“, sagte Thomas als er aufgegessen hatte. „Möchtest du auch noch etwas?“

„Danke, ich geh schon voraus und ziehe meinen Bikini an“, antwortete Chi. „Wir treffen uns am Pool.“

„Nimm einen Platz unter einem der Pavillons. Sonst ist es zu heiß und wir kriegen Sonnenbrand.“

Das lag ganz in ihrem Sinne. Asiaten legen wert auf helle Haut. Kaum vorstellbar eine Asiatin möchte sich absichtlich in der Sonne bräunen, einen dunkleren Teint bekommen. Chi mit ihrer durch­sichtigen Alabasterhaut schon gar nicht. Sie wäre wohl gefährdet.

Es würde natürlich zu heiß werden. Um die Mittagszeit. Thomas hatte vor, noch etwas Schlaf nachzuholen. Ein Sonnenbrand wäre die zwangsläufige Folge, sollte er in der prallen Sonne einschlafen. Ein übler Sonnenstich nicht ausgeschlossen, aber gratis. Die meisten Liegen standen ohne Sonnenschutz um den Pool. Ganz klar sah der Großteil der Touristen die Sonnenseite des Aufenthaltes in einem anderen Licht.

Chi hatte sich bereits erhoben, war um den kleinen Tisch herum und im Zuge dessen mit ihren Schenkeln und Po, anstatt eines in der Öffentlichkeit unpassenden Kusses, vor Thomas' genüsslich ihren Geruch aufsaugenden Anlitz nach außen getänzelt, um nun Richtung Ausgang und Fahrstuhl zu gleiten. Kümmerten sich die wenigen, übrigen Gäste um ihr bald endendes Frühstück und ihre Gespräche, schaute Thomas ihr weiter fasziniert nach.

Laufstegerprobt schien sie ihm auf einem Strahl glühenden Xenons dahin zu schweben, als würden nicht ihre Beine sie, sondern das gleißende Licht ihre hellen Schenkel tragen, die in so simplem, wie wunderschönem Kontrast zu der blauen Shorts einmal mehr ihren porzellanischen Schein verströmten.

Der leicht strubbelige Bubikopf auf dem stolz gereckten Hals unterstrich ihre kerzengerade Haltung. Beim Blick auf ihren, in der kurzen, hautengen Hose sitzenden Po brandete die Erinnerung an die Nacht durch Thomas' Trance-Gehirn und er ergab sich wonnig der Erkenntnis seines sagenhaften Glückes.

Am Ausgang drehte sie sich kurz zu ihm und zwinkerte. Nur einmal schnell, so dass er es sah und jeder, der es sehen sollte. Denn jede der Hostessen und die Dame des Einlasses hatten die Show von ihrem Platz oder verstohlen aus den Winkeln ihrer Augen mit angemessener Bewunderung verfolgt und schenkten dem am Tisch zurückgeblieben Mann bei seinem neuerlichen Weg zum Buffet nun anerkennendes Lächeln, als hätte er einen Oscar gewonnen.

Da Chi weg war, hatte er wenig Grund sich aufzuhalten.

Ein bisschen träumte er noch mit Blick aus dem Fenster von dem Bisherigen, aber nur solange bis er Früchte und Saft vertilgt hatte. Dann schon kam ihm der Raum ohne sie allzu trist vor und auch das gerade noch zugewandte Personal war nun auf das Bevorstehende, den Lunch konzentriert, wie auch Thomas jetzt weiter dem Wieder­sehen am Pool zustrebte.

Nichts war wunderbarer als der Ort ihrer Anwesenheit.

Ab ins Zimmer Hose holen.

Sie war in einem Aufzug nach unten, während er auf einen nach oben wartete und als sich die Tür des seinen schloss, meinte er, sie aus dem nebenan flitzen zu sehen. Im Aufzug fühlte er sich einsam. Er dachte daran, was er Chi unbedingt fragen wollte und dann, dass er nur die Ersatzbadehose schnappen würde und gleich wieder hinunter wollte. In seinem Zimmer fehlte sie ihm und im Tageslicht schien ihm die vergangene Nacht dieser Räume wieder unwirklich. Er vergaß weswegen er hier war und schaute ins Schlafzimmer.

Die Cremedose auf dem Nachttisch erhellte sein Gemüt.

„Sie wartet am Pool auf dich, Narr!“, sagte er sich im Geist und schollt sich für seine labile Konzentration auf die Gegenwart.

Unbewusst antizipierte er den Verlust. Die Trennung. Er musste sie danach noch fragen. Aber jetzt galt es die Zeit zu genießen, trotz und mit verliebter Blauäugigkeit. Ohne Gedanken an Morgen.

11,99 €
Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
821 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783738047240
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Mit diesem Buch lesen Leute