Buch lesen: «Gargoyles», Seite 4

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Viktor

Da war dieses grüne Licht gewesen, das ihn umhüllte wie eine toxische Wolke. Und ein unbekanntes Gefühl floss so plötzlich durch sein Inneres, als hätte man ein Feuer entfacht und Öl hineingegossen. Ein rhythmisches Hämmern wummerte in seinem Inneren, BA-DUM, BA-DUM. Er, den der Künstler George Steam Viktor genannt hatte, spürte Leben in seiner Brust. Er wurde befreit von seiner steinernen Hülle, die sich abpellte wie die Haut eines Basilisken. Viktor war orientierungslos, alles, was er sah, war dieses grüne Licht. Instinktiv öffneten sich seine Flügel und hoben ihn in die Luft. Seine Augen suchten nach einem Fluchtpunkt und fanden ihn. Purpurnes Licht traf seine Netzhaut und blendete ihn. Er war von einem grünen Inferno in ein rotes Meer geflogen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis seine Augen sich auch an diese Farbe gewöhnten und seine Sicht zurückkehrte. Er erblickte seltsame Gebilde, die dicht aneinandergereiht die Kulisse zierten. Und zwischendrin sah er Gewächse aus dem Erdreich ragen wie grüne Finger. Figuren aus Fleisch und Blut, deren Münder auf und zu gingen und dadurch eine hohe Geräuschkulisse erzeugten, tummelten sich unter seinen Füßen. Sie wirkten wie ein Strom aus Ameisen. Wie betäubt durch die vielen Eindrücke, die mit eiserner Wucht auf ihn einschlugen, bemerkte der Gargoyle nicht, dass er Gesellschaft bekommen hatte. Jemand berührte seine Hand, er drehte sich hoch oben in der Luft um und blickte in die gütigsten Augen, die er je zu Gesicht bekäme. Lavendia war ihm gefolgt und hatte ihn gefunden. Sie wirkte hilflos, verängstigt, obwohl sie wusste, dass Viktor wie sie war. Viktors Finger vergruben sich in ihre. Wie Todesengel folgten sie dem Sonnenaufgang, der sie mit seinem Lichtspiel aus roten, goldenen und violetten Strahlen weg von dem Tumult der Stadt führte. Ihr Weg brachte sie auf eine weite Wiese, wo erst kürzlich jemand das Gras mit einer Sense geschnitten hatte, denn die Luft war noch erfüllt vom Geruch der abgetrennten Grashalme. Für Lavendia hatte es nie einen schöneren Duft gegeben, doch er würde aus ihrem Gedächtnis verschwinden, da die Gargoyles zu der Zeit noch keine Ahnung hatten, welches düstere Zeitalter ihres werden würde. Viktor blickte nochmals in Lavendias Augen, in denen er sich komplett verlor. Sie waren von einem mystischen Violett, umrandet von einem tiefschwarzen Kreis. Nicht einmal der Himmel brachte mit seiner Tag und Nachtgleiche einen solchen Farbton zustande. Das Pochen in seiner Brust wurde stärker, aber es fiel ihm schwer, das Gefühl zu deuten. Prinzipiell gesehen waren sie beide nach ihrer Erweckung durch den Fluch der Hexe wie neugeborene Säuglinge, betrachtete man die Umstände, dass sie die Welt mit ihren Gebräuchen, Formen und Farben, ihrem Wissen, ihren Gerüchen und alledem erst kennen und verstehen lernen mussten. Desto erleichtert waren beide, dass sie einander hatten. Sie waren keine einsamen Löwen in der Prärie, sie waren zwei ausgeklügelte Wölfe. Ein Herdentier, dessen Stärke das Rudel ist. Und wie auch der Wolf seine Kameraden selbst in der finstersten Nacht findet, bemerkten die beiden Gargoyles ein ihnen bekanntes Geräusch; es war das Auf und Abschlagen von Flügeln, das sich über ihren Köpfen bildete. Zwei weitere ihrer Gattung hatten in ihren Kreis gefunden und gesellten sich hinzu. Es waren Orgun und Augustine. Von ihren tristen, steinernen Hüllen befreit, gaben Orgun und seine Gefährtin Augustine ein ebenso prächtiges Gemälde ab wie die beiden anderen Gargoyles. Orguns tiefseeblaue Augen waren mit einer kalten Strenge auf Viktor gerichtet. Er musterte ihn, seine Körperhaltung blieb indes gelassen. Seine schmalen Lippen verzogen sich hernach zu einem beruhigten Lächeln.

„Wir sind gleich“, bemerkte er.

„Sind wir eben nicht“, höhnte Viktor in einem schon fast verächtlichen Tonfall. Er streckte seine Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf Orguns Flügel.

„Deine Flügel haben andere Merkmale als die unseren.“

Es stimmte, Orguns und Augustines Flugwerk wies ein paar Unterschiede zu den der beiden anderen auf. So war der Knochen, der am obersten Punkt der Flügel herausragte bei Viktor und seiner Begleiterin nach hinten gekrümmt, während die von Orgun und seiner Partnerin jeweils zu den Seiten rechts oder links zeigten. Zudem waren diese nicht mottenzerfressen und von einem weit kleineren Adernetzwerk geprägt.

„Trotz allem teilen wir ein gemeinsames Schicksal“, merkte Orgun etwas gekränkt an, „wir sollten uns nicht an Kleinigkeiten festmachen. Ich würde vorschlagen, wir suchen uns fürs Erste ein sicheres Versteck.“

Sie einigten sich darauf, gen Westen zu fliegen. Schon bald hatten sie andere ihresgleichen gefunden und der ursprüngliche Kreis der Gargoyles war wieder vereint. Sie erkannten die Unterschiede in ihrer Spezies und teilten sich fortan in zwei Gruppen auf, die Grimm und die Pearce. Da Orgun und Viktor solch schillernde Persönlichkeiten waren, überließ man ihnen die Rädelsführung. So formten die beiden Anführer ihre Klans nach ihren Wünschen. Sie hielten sich abseits der Menschenwelt, noch. Denn die glitzernden Lichter, die prächtigen Farben und die vielen Gerüche hatten ihren unsichtbaren Zauber auf die Welt der geflügelten Wesen geworfen und ihre Existenz unter ihnen schon bald zurückgefordert. Ein schwerer Fehler.

Das Spiel möge beginnen

„Was zum Teufel war das gerade eben?“

Ash brüllte seinen Unmut seiner Schwester hinterher, die vor Aufregung zitternd in ihr Zimmer stürmte und sich in beruhigenden Kreisbewegungen die Schläfen massierte. Ihr Bruder hatte sie grob bei ihren Flügeln gepackt, sie aus St. Paul’s herausgezerrt, seine Hand wie eine Handschelle um ihre geschnallt und war im Eilflug nach Westminster ohne Zwischenvorfall zurückgekehrt. Sie hatte keinen Widerstand geleistet, ohnehin zog Ash eine geistlose Hülle hinter sich her, denn Freyas Gedanken hingen noch bei dem jungen Mann aus der Kirche, der die Gargoyles gesehen hatte. In der Realität angekommen, schnellte ihr Geist wie ein Geschoss zurück in ihren Körper und war mit der Tatsache völlig überfordert. Ihr Kopf schmerzte, ihr Puls raste wie ein Schnellzug durch einen Tunnel und ihre Schläfen pochten mit diesem dumpfen, unangenehmen Hämmern.

„FREYA“, schrie Ash, seine Stimme war eine Mischung aus schriller Angst und tobender Wut. Er knallte die Tür hinter sich zu, es kümmerte ihn nicht, ob es Aufsehen erregte, dafür war sein Nervenkostüm zu angeschlagen. Durch sein Brüllen holte er Freya ins Diesseits zurück.

„Ich habe dich gefragt, was da eben passiert ist?“

„Woher soll ich das wissen?“, verteidigte sie sich, aber ihre Stimme klang kleinlaut.

„Dieser Mensch hat uns gesehen, das ist dir hoffentlich bewusst. Und wir hatten beide unsere Flügel ausgebreitet. Das ist doch nicht möglich, das ist nicht möglich“, sagte er mehr zu sich selbst und donnerte mit seiner Faust auf das Tischchen vor ihm.

„Ash beruhige dich, es bringt überhaupt nichts, wenn du so aus der Haut fährst. Wenn wir die Sache klären wollen, sollten wir einen kühlen und vor allem pragmatischen Kopf behalten.“

„Du klärst hier überhaupt nichts, Fräulein, nur deinetwegen sind wir überhaupt in dieses Schlamassel geraten.“

„Wie hab ich das wieder zu verstehen?“, Freya verzog ihr Gesicht zu einer gereizten Maske.

„Das heißt, liebe Schwester, dass du von nun an Hausarrest hast“, Ash schritt näher auf Freya zu. Der seidene Faden, an dem sein letztes bisschen Geduld für seine Schwester gehangen hatte, war gerissen und war in einen tiefen Abgrund aus Wut, Enttäuschung und Verärgerung gefallen.

„Für wen hältst du dich, dass du mir so etwas aufbürdest?“

„Ich bin dein Bruder, Herr Gott, und ich bin für dich verantwortlich.“

„NEIN!“

„Nein?“, wiederholte er stutzig. Ein gefährliches Flimmern huschte über seine Augen.

„Ash, denkst du, ich wüsste nicht Bescheid, dass Vater dich zu meinem Aufpasser degradiert hat? Was in St. Paul’s passiert ist war ein Zeichen. Vermutlich hat es was mit der Prophezeiung zu tun.“

„Eine unvollständige Legende, Freya“, redete Ash Freyas Gedanken klein. „Höchstwahrscheinlich etwas, das nicht existiert. Es wurden Seiten aus dem Buch gerissen, Schwester, und Jahrhunderte lang haben beide Klans versucht, die fehlenden Stücke zu finden und sind gescheitert. Und dann kam der atomare Krieg, vermutlich sind die restlichen Teile dadurch vernichtet worden.“

„Und was, wenn nicht?“, warf Freya auffordernd ein. Die Frau mit den Teufelsflügeln auf ihrem Rücken hatte in jenem Moment, in dem sie Alex Lane sah, eine tiefe Verbindung zu ihm gespürt. Sie war von ihm angezogen worden wie die Motte vom Licht und sie empfand, dass es damit mehr auf sich haben musste, als ihr Bruder ihr weiszumachen versuchte. Ash ging erneut auf seine Schwester zu, sein Unmut war etwas abgeklungen, brodelte aber noch unter seiner Schale. Er legte mit leichtem Nachdruck seine Hände um ihre Schultern.

„Freya, unsere Spezies wird die Quelle von Samhain nie finden. Das müssen wir akzeptieren. Es sind schon zu viele Jahrhunderte vergangen, in denen sich diesbezüglich nichts getan hat. Diese Legende ist wertlos und setzt nur Staub im Bücherregal an. Was deine nächtlichen Wanderungen betrifft, ich werde dich nicht maßregeln und an die Leine nehmen wie unser Vater es gerne hätte. Aber ich appelliere an deine Vernunft. Dort draußen tobt ein Krieg, bitte werde nicht auch noch du eines seiner Opfer. Bleib hier, in Sicherheit und beuge dich den Wünschen unseres Vaters. Ich bitte dich als dein Bruder, denn an meinen Händen klebt schon zu viel Blut.“

Ash drückte Freya einen sanften Kuss auf die Stirn. Er überragte seine Schwester um einige Zentimeter, obwohl er jünger als sie war. Er ließ sie in ihrem riesigen Zimmer zurück. Ein Außenstehender hätte nicht verstehen können, weshalb Freya von hier flüchtete. Sie hatte alles, was man sich wünschen konnte. Ein großes Bett, schicke Kleidung, die ordentlich sortiert im begehbaren Schrank hingen, eine Kommode mit mehreren Spiegeln, in denen sie ihr perfektes Äußeres pflegen konnte, Luxus ohne Ende. Aber in ihrem Herzen war Freya nicht glücklich. Das Materielle sollte nur einen trügerischen Schein wahren. Ashs Worte rasten durch ihren Kopf, blieben an den sensiblen Bereichen in puncto Hinweise und Wahrheitsfindung hängen und legten dort einen Schalter um. Ein fehlendes Stück, eine Prophezeiung, die bis jetzt ins Leere geführt hat. Sie wies auf einen Schlüssel hin. Was, wenn dieser Mann der Schlüssel war oder ihn gar besaß? Freya hatte ihrem Bruder zwar tief in die Augen geblickt, als dieser sie zur Vernunft hatte treiben wollen, aber ihr Inneres hatte sich in dem Moment in zwei Hälften geteilt. Die eine Seite, die dem fürsorgenden Bruder eine verständnisvolle Mimik vorgaukelte, und die andere, welche schon einen Plan ausheckte, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Und Freya wollte Antworten.


Alex kam schwitzend und keuchend auf seinem Zimmer an. Er hechelte wie ein Hund, dessen Herr ihn unbarmherzig getrieben hatte. Spielte sein Verstand ihm einen üblen Streich? Oder war es real, was er zuvor in der St. Paul’s Cathedral erlebt hatte? Oder doch nur einer von diesen beängstigend real wirkenden Tagträumen? Aber er tagträumte nie, war mit seinem Herz und seinem Verstand immer im Hier und Jetzt. Was könnte dann Schuld an diesem Albtraum gewesen sein? Ihm kam ein schlimmer Gedanke. Konnten es die Auswirkungen seiner letzten Ausschweife auf der Studentenparty gewesen sein? Aber er hatte den Joint doch abgelehnt, und das, obwohl Terry den verführerisch rauchenden Glimmstängel immer wieder unter Alex Nase gehalten hatte und ihm sagte „Alter, nur einen Zug und du wirst dich fühlen wie ein König.“

„Nein, Mann, echt nicht!“

„Dein Pech. Du verpasst was, nicht ich.“

Scheiße! Aber der Rauch war ihm passiv in die Nase gestiegen und davon war ihm schon fast schlecht geworden. Alex gehörte nicht zu denen, die während ihrer Schulzeit und auch noch danach mit Drogen experimentierten. Er hatte den Tod in Form einer winzigen Pille niemals angerührt, weder auf der Highschool noch auf dem College und schon recht nicht auf der Uni. Vor Jahren hatte er bei einer Feier über die Stränge geschlagen und es war ihm eine Lehre gewesen. Nach Dutzenden Drinks hatte das Mädchen, welches er eigentlich nicht leiden mochte, verdammt sexy ausgesehen und Alex war mit ihr im Bett gelandet. Als er am nächsten Morgen neben der Bratze aufgewacht war, hätte er sich am liebsten seinen Arm, auf dem sie ihren fettigen und nach Qualm stinkenden Schädel abgelegt hatte, abgebissen. Seitdem hatte er sich geschworen, die Finger von allem Bewusstseinsverändernden zu lassen. Und nun war er in diese äußerst seltsame Begegnung mit diesen, nennen wir sie mal Wesen verwickelt. Er hatte nicht geträumt, so etwas konnte man nicht träumen. Seine Augen hatten bei vollen Bewusstsein und klarem Verstand ihre Flügel gesehen. Er versuchte sich einzureden, es wäre nur ein Streich. Irgendwelche Kids, die einen auf Cosplay machten. Nur, dass zurzeit keine Kostümfestivals stattfanden und, was noch viel wichtiger war, die Flügel der beiden Kreaturen hatten verdammt echt ausgesehen. Alex Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt, sein Haaransatz war feucht, als hätte er ihn nach dem Duschen lediglich kurz durchgeföhnt. Nachdem die beiden Wesen verschwunden waren, hatte auch er seine Beine in die Hand genommen und war den gesamten Weg zu seiner Wohnung zurück gehechtet. In seinem Nacken hatte die blanke Furcht gesessen und ihn angetrieben. Im Wohnheim angekommen, hatte er hektisch seinen Schlüssel hervorgezogen und war förmlich mit der Tür in sein Zimmer gefallen; hatte keine Zeit gehabt, den Lichtschalter anzumachen. Und so war sein Zimmer nun dunkel, die Schwärze lag auf den Wänden, dem Boden, der Decke und nagte zusätzlich an seiner Seele. Er fühlte sich wie ein verängstigtes Kind, das seine erste Begegnung mit etwas Paranormalem hatte. Ihm fiel ein Sprichwort seines Großvaters ein, je größer die Dunkelheit, umso heller das Licht. Dunkelheit wird von Licht geschlagen, Furcht lässt sich damit zurückdrängen. Alex tastete nach dem Kabel der Tischlampe, seine Finger zogen sich hinauf bis zum Schalter und legten den Knopf um. Ein sanfter, kleiner Lichtschein erglänzte in der Dunkelheit und vertrieb zumindest stückweit die Angst, seine Panik und die Dämonen in seinem Kopf. Aber Dämonen sind hinterhältige Wesen, die sich nicht so leicht durch ein mickriges Leuchten verjagen lassen. Deshalb stürzte Alex‘ Gedankenwelt schon bald darauf wieder ins Chaos. Zum ersten Mal wünschte er sich zurück in seine Heimat, wünschte sich zurück in das Drecknest seiner Mutter. Herr Gott, er hätte momentan sogar seinen kriminellen Bruder vorgezogen als die Scheiße, in die er geraten war. Alex ließ sich auf sein Bett fallen und ringelte sich ein wie ein Igel, der Besuch von einem Raubtier bekommen hat. Das Medaillon um seinen Hals, das Schmuckstück, welches er sein Erbe nannte, rutschte zur Seite hinweg und er griff danach. Während seine Finger manisch über die Oberfläche glitten (er hatte in diesem Moment etwas von Gollum, der den einen Ring immerzu streichelt und ihm zuflüstert), plagten ihn düstere Gedanken. Bis zwischen all die Pein plötzlich und unerwartet die Erlösung eintrat. Sein Unterbewusstsein rief ihm die seemannsblauen Augen ins Gedächtnis, hinter denen so viel Anmut verborgen lag. Der Schrecken hatte auch etwas Schönes mit sich gebracht, denn nicht nur Freya war von Alex‘ Erscheinung wie betäubt gewesen. Wer sie wohl sein mochte? Dieser wunderschöne Engel mit den Dämonenflügeln. Und obwohl er bis dato noch nie taggeträumt hatte, flüchtete er sich nun in eine andere Welt. Und in dieser Eingebung legte diese furchteinflößende und doch so anziehende Persönlichkeit, die er dort oben auf der Brüstung hatte stehen sehen, ihre Flügel um seinen Leib und wog ihn darin wie einen Säugling. Er vernahm eine Stimme, sie klang zu fern, um ihre Botschaft genau zu deuten. Am Ende hörte er das Wort Herz heraus. Und die Dämonen verwandelten sich in harmlose Schatten.

Ashs Schwachpunkt

Nachdem Ash seiner Schwester eine Standpredigt in puncto Gehorsamkeit verpasst hatte, war er, ohne Rechenschaft bei seinem Vater abgelegt zu haben, auf sein Zimmer gegangen. Zum einen war er sich sicher, dass Viktor längst über die Rückkehr seiner geliebten Tochter im Bilde war, zum anderen hatte er keinen Nerv übrig, Viktors Strenge zu begegnen. Nicht nach allem, was er heute Abend erlebt hat. Darum ließ er sich gestresst auf sein Bett fallen, er atmete seinen Frust in einer langen Salve aus und schloss die Augen. Anders als Alex, der nichts von Tagträumen hielt und für den es ganz und gar ein Zeichen psychischer Unbeherrschtheit war, konnte Ash dem nicht entkommen. Seine Fantasie war sein Feind geworden, die Kraft, welche ihn einesteils von der Realität forttrug, wenn er sie mal wieder nicht ertrug. Zum anderen war sie zu seinem Foltermeister mutiert, einem Gespenst, das zunächst harmlos wirkte und später immer grauenhaftere Züge annahm. Denn als er erneut seine Augen aufschlug und zur Seite blickte, sah er ihr kaltes, totes Antlitz. Ein gequältes Lächeln zwang er sich ab. Ash wusste, es ging wieder los, er hatte die Grenze der Realität überschritten und sie hatte ihn kurz danach abgeholt.

„Was bedrückt dich, mein Liebster?“, sagte die dünne Stimme, an der nur der Tod haftete.

In Ashs Kehle bildete sich ein Kloß, er blieb unfähig, der Erscheinung auf seinem Bett neben ihm eine Antwort zu geben. Er starrte Elaines Geist an und fühlte einen betäubenden Schmerz, seine Augen füllten sich mit Flüssigkeit. Wie gerne hätt er sie berührt, hätte ihr gesagt, wie sehr er sie liebte, hätte noch einmal den süßen Nektar ihrer Lippen gekostet. Aber sie konnten einander nicht mehr fühlen, sie war nur ein Geist, gefangen im Reich des Todes. Elaine war zu einem Hirngespinst verkommen, welches, aus seiner Furcht vor dem Versagen, seinen Schatten der Vergangenheit und seiner zerbrochenen Liebe, sich hatte zu einem gefährlichen Tumor entwickeln können.

„Wieso tust du das?“, wagte Ash schließlich zu fragen, „wieso quälst du mich so?“, seine Frage drang würgend aus ihm heraus, denn er drohte an seinen unterdrückten Tränen zu ersticken. Er wollte sie nicht frei lassen, obwohl er es hätte können. Hier war er alleine, hier störte ihn niemand. In seinem Zimmer konnte er brüllen, toben, schreien, weinen, es würde niemanden kümmern.

„Das tue ich nicht. Du weißt selbst, ich existiere nur in deinem Kopf. Wenn überhaupt quälst du dich selbst.“

„Elaine, sag mir, wie ich das nicht könnte? Dein Blut klebt an meinen Händen. Du hättest an dem Tag vor neun Jahren, als es passierte, gar nicht dabei sein dürfen. Es war meine Schuld.“

Jetzt konnte er es nicht länger zurückhalten. Seine Trauer übermannte ihn und die Tränen kullerten seine Wangen wie ein Sturzbach hinab. Ein Jahr nach Elaines tödlichem Verunglücken hatte Ash begonnen, über sie zu halluzinieren. Er hatte niemandem davon erzählt, weshalb sollte er auch? Zum einen gab es niemanden, der ihm ein offenes Ohr geschenkt hätte, und selbst Freya, zu der er eigentlich eine gute Beziehung hatte, vorausgesetzt sie benahm sich standardgemäß, wollte er damit nicht belasten. Es war sein Kryptonit, damit musste er alleine fertig werden.

„Ich habe Angst, Elaine. Acht Jahre besucht mich nun dein Geist, acht Jahre, in denen ich nicht vergessen konnte, was damals geschah.“

„Und dennoch erscheine ich nur, wenn du Kummer leidest, Liebster. So wie jetzt. Also frage ich dich erneut, was bedrückt dich?“

Ash wurde hellhörig. Es stimmte, Elaines Geist war ihm oft in seinen dunkelsten Stunden erschienen. Aber nie war sie lange genug geblieben, um ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Irgendetwas hatte sich geändert und Ash befürchtete, es könnte mit der Begegnung mit dem Menschen zusammenhängen. Also tat er etwas, was er zuvor in Elaines Beisein noch nie getan hatte. Er öffnete sich ihr.

„Es hat mit Freya zu tun. Sie ist der Auffassung, einen möglichen Hinweis zur Legende von Samhain gefunden zu haben.“

„Und das würde bedeuten, du könntest frei sein. Ihr alle könntet frei und von eurem Fluch befreit sein.“

Ash drehte seinen Kopf in Elaines Blickrichtung. Sie sah noch exakt so aus, wie er sie in Erinnerung behalten hatte. Ihr kastanienbraunes Haar mit den rötlichen Schattierungen dazwischen, das immer in glanzvollen Wellen von ihrem Scheitel hing. Und ihre moosgrünen Augen, in die er sich vor so vielen Jahren unsterblich verliebt hatte. Er streckte seine Hand aus und sie folgte seiner Geste. Ihre Fingerspitzen kamen sich näher, während ihre Blicke aufeinander ruhten. Elaines Hand glitt durch Ashs hindurch, sie hinterließ nur einen dünnen Luftzug auf seiner Haut.

„Lass sie mich noch einmal spüren“, bat Ash.

„Du weißt, das kannst du nicht.“

„Trotzdem bitte ich dich, mich zu küssen. Mich zumindest für jetzt von diesem Schmerz zu befreien.“

Elaines Lippen bewegten sich auf seine zu. Er schloss seine Augen und gab sich dem Moment hin. Leere. Da war nur Leere, und dann spürte er plötzlich Wärme, und vernahm ein Kichern. Ash schlug blitzartig seine Augen auf und schreckte hoch.

„JESSICA!“, schrie er empört.

Das junge Gargoyle Mädchen beugte sich, gestützt auf ihren Knien und ihren ausgestreckten Armen über Ash. Ihre Stellung hatte etwas Laszives, denn sie streckte ihren Po weit nach hinten.

„Wie zum Teufel bist du hier hereingekommen?“, fluchte Ash und zog sich auf seinem Bett weiter Richtung Rückenlehne, um von ihr wegzukommen.

„Du hast die Tür nicht abgeschlossen“, antwortete sie ihm unschuldig.

„Und das gibt dir das Recht, einfach so hereinzustiefeln?“

„Ich hab mir Sorgen gemacht. Du bist beim Abendessen einfach abgehauen und nicht mehr wieder gekommen.“

„Ich hatte etwas zu erledigen“, wich er aus.

Ash war unterdessen von seinem Bett aufgesprungen und zur Kommode herübergelaufen. Er hatte Jessica den Rücken zugewandt, als ob er versuchte, sich so vor ihr abzuschirmen. Sie hingegen ließ nicht locker und sah seine Haltung nur als Ansporn dazu, sich mehr ins Zeug zu legen, um in seiner Gunst zu wachsen.

„Hör zu, Ash, ich bin eigentlich wegen etwas Bestimmten hier. Ich wollte dich bitten, dass du meine Ausbildung zur Wächterin künftig übernimmst.“

Ash drehte sich herum. Ihm war bewusst, er hatte eine harte Nuss vor sich, dass sie allerdings zu solchen Methoden griff. Normalerweise oblag es einem Ausbilder nicht, sich seine Schüler auszusuchen. Die Gruppen wurden nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt und Jessica hatte bei ihrer Einschreibung nicht Ash zum Mentor bekommen sondern Rick.

„Wieso? Was stimmt denn mit Rick nicht?“

„Er ist toll. Ich habe schon einiges von ihm gelernt. Aber ich glaube nicht, dass ich mit ihm an meiner Seite die Wächterin werden kann, die ich sein möchte.“

Rick, Ash, Darwin, Blake und Garry waren die Ausbilder der Wächtereinheit der Grimm. Sie gaben ihr Wissen weiter, lehrten ihre Rekruten verschiedene Kampftechniken, machten sie vertraut mit Waffen und den elektronischen Überwachungssystemen. Nach nur drei Monaten Lehre werden die Jünglinge das erste Mal in die Nacht herausgeschickt und sind dann auf sich alleine gestellt. Nicht selten kehren viele von ihnen nicht mehr zurück oder sind stark verwundet. Einem jeden Gargoyle ist das bewusst, wenn er sich für diesen Posten bewirbt. Jessica hingegen spielte leichtsinnig mit ihrer Entscheidung.

„Jess“, begann Ash und faltete seine Hände vor seinem Mund. Er war nicht dumm, konnte gut zwischen den Zeilen lesen und ahnte, weshalb seine Verehrerin das alles tat, „ich weiß, du erhoffst dir mehr von alledem. Dass ich mein Herz für dich öffne. Das ist auch der Grund, weshalb du dich zur Wächterin ausbilden lässt.“

„Wenn du doch die Antwort kennst, wieso tust du dann so überrascht und lässt es nicht einfach zu?“ Ihre Augen funkelten herausfordernd und brannten leidenschaftlich, so als wolle sie hier und gleich von ihm genommen werden.

„Du bist ein nettes Mädchen, und wärst sicherlich für jeden eine gute Partnerin. Ich mag dich, aber … ich kann nicht.“

Er drehte sich wieder weg. In seinem Herzen rührte sich viel Kummer. Überhaupt hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er mit Jessica über solche Themen sprach.

„Es ist Elaine, hab ich recht?“, fragte sie ihn unverhohlen. Jessica hatte ihre Geschichte gehört, jeder hatte das.

„Du bist immer noch nicht über ihren Tod hinweg, obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, quälst du dich nach wie vor damit.“

Der Wächter-Gargoyle blickte in den viereckigen Spiegel über seiner Kommode. Das Licht in seinem Zimmer, das aus simplen Neonröhren floss, wirkte fluoreszierend. Ash betrachtete einen Moment sein Spiegelbild. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er erblickte ein abgekämpftes, müdes und wehleidiges Wrack. Sein Kopf wandte sich wieder Jessica zu. Eigentlich sah sie nicht schlecht aus, sie wirkte für ihr noch sehr junges Alter trotz allem reif. Ihre Lackleggings legten sich perfekt um ihre schlanken Beine, dazu ihr Spitzentop, zu dessen Ansatz wieder ihre festen Brüste herauslugten. Ash sah ihre Oberweite zu ihrem stetigen Atmen auf und ab hüpfen und ihm wurde heiß. Bevor er mit Elaine angebandelt hatte, war er durch viele Betten gerutscht, hatte viele der Gargoyle Frauen glücklich gemacht. Aber nur in seiner Elaine hatte er wahre Liebe gefunden. Er spürte ein kleines Teufelchen in seinem Nacken sitzen, das ihm zuflüsterte, die Jahre vor seiner toten Freundin wären ebenso spitze gewesen. Sollte er der Versuchung nachgeben? Jessica als Trostfick betrachten, um endlich von seinem Schmerz wegzukommen? Immerhin war sie hier, er wusste, was sie für ihn empfand und dass es ihr sicherlich auch nur um das eine ging. Ash trat näher an seine Verehrerin heran, ihre Blicke trafen sich. Jessicas Atmen wurde schneller, sie standen nun Brust an Brust.

„Jessica, ich werde sehen, ob ich mit Rick darüber verhandeln kann, was dein Training anbelangt. Und wenn ich zukünftig nicht mehr zum Essen erscheine, dann hat das seine Gründe, verstanden?“

Sie tat einen Schritt nach hinten, überlegte, ob sie noch etwas sagen sollte. Aber der Zug war abgefahren. Nicht das Teufelchen auf Ashs Schulter hatte gesiegt, sondern der Engel.

„Natürlich. Ich wäre dir trotzdem sehr verbunden, wenn du es so hinbiegen könntest, dass ich in deine Trainingseinheit komme.“

Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange und er spürte ihre Haare seine Haut streifen, roch den süßen Geruch ihres Parfüms, das sie wohl nur für ihren Besuch bei ihm aufgelegt hatte. Als Jessica aus Ashs Zimmer war, schwoll auch die leichte Beule in seiner Hose wieder ab. Kryptonit ist eine Waffe und sie ist besonders schlimm, wenn sie weiblichen Geschlechtes ist, denn dann hat sie viele Gesichter.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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