Buch lesen: «Gargoyles», Seite 2

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„Was machst du hier?“, keifte ihn sein Bruder wie ein tollwütiger Hund an.

„Ich lese“, antwortete Ash ihm ruhig. Er wusste, dass Dean manchmal hitzköpfig war. Als sie noch Kinder waren, hatte Ash seinen Bruder in fast jedem Kampf geschlagen. Dean hasste ihn dafür, dass er, als sein ältester Bruder, von Ash übertroffen worden war. Aber Deans Fähigkeiten beliefen sich auf etwas anderes. Daher war er in noch jungen Jahren als oberster Schriftführer in den Rat berufen worden. Normalerweise oblag dieser Posten nur den Ältesten. Aber Viktor hatte es so gewollt.

„Was willst du, Dean?“

„Vater schickt mich, dich zu holen. Du weißt es ist Essenszeit.“

Unter den Kathedralen der Westminster Abbey Church hatten sie ihr Zuhause. Dort unten hatte sich das Volk der Grimm eine wahre Stadt erbaut. In der großen Halle saßen sie am Abend zusammen und teilten die Speisen miteinander. Ash folgte Dean den Flur entlang, der zum Saal führte. Fackeln tanzten an den Wänden, ihr warmes Licht brach sich an den Stellen, wo sie keine Chance gegen die Finsternis hatten. Ganz vorne saß Viktor als Klanoberhaupt und trank Wein aus einem verzinkten Becher. Er unterhielt sich mit Vlad, einem der Ältesten. Vlad sah furchteinflößend aus, mit seinem kreisrunden Gesicht wie das eines Kürbis, in dem kreisrunde, aber hohle Augen lagen. Sie waren immerzu rot umrandet, es lag vermutlich an seinem zu hohen Weinkonsum. Ash verglich ihn gerne mit einem aufgedunsenen Zombie, der zu lange im Wasser gelegen hatte. Der Wächter lief durch die Reihen, als er plötzlich festgehalten wurde.

„Hi Ash“, piepste Jessica ihm zu und berührte ungeniert seine Hand.

„Hallo Jessica“, seufzte Ash leicht genervt. Er hatte nichts gegen sie, eigentlich mochte er sie, auch wenn sie ihm zuweilen zu sehr auf den Leim rückte. Sie war seine Nervensäge und ja, Jessicas Aussehen war nicht von schlechten Eltern. Ihr platinblondes, langes Haar fiel ihr in glatten Strähnen vom Kopf. Sie hatte eine liebliche Art, konnte aber schlagartig zum Biest werden, wenn man sie reizte. Und, das musste Ash zugeben, ihre Brüste hingen wie süße, reife Äpfel von ihrem Körper und sie gewährte durch das Tragen von körperbetonten Shirts gerne einen Blick darauf. Aber heute war dem Wächter nicht zum Flirten zumute. Erstens lag ihm die Rüge seines Vaters noch bitter auf, zweitens hatte er ein schlechtes Gewissen Elaine gegenüber, denn sein Herz wollte sie nicht vergessen. Und drittens war ihm unwohl bei dem Gedanken, dass Jessica sich nur seinetwegen zur Ausbildung als Wächterin gemeldet hatte.

„Na, wo hast du dich heute rumgetrieben?“, fragte sie ihn und holte ihn damit aus seiner Gedankenspule.

„Ich …“, setzte er an zu antworten, wurde aber schon im nächsten Augenblick von Dean gepackt und weiter nach vorne geschliffen.

„Wir reden später, okay?“, rief er Jessica noch rüber, aber er sah nicht mehr, wie sie ihren Daumen zum Zeichen ihres Einverständnisses hob.

Viktor stellte seinen Becher ab und entließ Vlad mit einer Handbewegung aus ihrem Gespräch. Dieser stand auf und verschwand.

„Setzt euch“, wies Viktor seine Söhne an.

Ash nahm an seinem rechtmäßigen Sitz Platz, während Dean sich direkt neben seinen Vater gesellte. Zwischen Viktor und Ash war ein Sitzplatz frei.

„Wo ist eure Schwester?“, zischte das Klanoberhaupt ungehalten hervor.

Zwischen all der Aufregung hatte Ash nicht bemerkt, dass seine ältere Schwester Freya nicht anwesend war.

„Du kennst doch Freya, Vater, in ihr lebt eben der Geist unserer Mutter“, versuchte Dean seinen Vater zu beruhigen, der seinerseits die Frage weniger an seinen ältesten Sohn, sondern vielmehr an Ash gerichtet hatte. Wieder war der Wächtergargoyle den anmaßenden Blicken seines Erzeugers ausgeliefert.

„Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte“, gab Ash ermüdet zur Antwort.

„Na, dann such sie gefälligst! Es ist schon spät, sie sollte längst zurück sein. Bestimmt ist sie bei einer unserer sicheren Plätze. Am besten fliegst du rüber zur St. Paul’s Cathedral und siehst nach, ob sie sich dort aufhält.“

Ash war wütend. Er hatte nicht einmal die Chance bekommen, sich ordentlich hinzusetzen und nach einem harten Tag etwas zwischen die Zähne zu kriegen. Jetzt musste er auch noch nach seiner abenteuerlustigen Schwester suchen gehen. Er stand auf, sein Stuhl quietschte mit dem missgünstigen Ton, den er beabsichtigt hatte zu erzeugen, über den Boden. Viktors Haltung hatte ihm zu verstehen gegeben, wo sein Platz war und was verdammt noch eins seine Aufgabe war. Erneut den Babysitter für seine Schwester zu spielen.


Der Fluch der Hexe

Tabitha und Abigail Lane waren zwei Schwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Sie lebten gemeinsam im Haus ihrer verstorbenen Mutter in einem Ort, den man Salem nannte. Salem, im schönen amerikanischen Staate Massachusetts, sollte später in die Geschichtsbücher als der Platz eingehen, wo die meisten Hexenprozesse stattfanden und man zahlreiche Frauen der Hexerei bezichtigte, sie verurteilte und sie schließlich bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Salem würde später zum Geburtsort der Hexenverfolgung ernannt werden. Was im Jahre 1602 in dem Örtchen noch keiner ahnte, es gab tatsächlich zwei Hexen unter der Bevölkerung. Abigail stand für das Gute, sie war eine Augenweide für jeden Mann, hatte goldblondes Haar und strahlend blaue Augen und jede der einheimischen Frauen beneidete sie. Tabitha stand ihrer Schwester in Sachen Schönheit in nichts nach. Ihr Kopf war von rabenschwarzem Haar bedeckt und und in ihren Augenhöhlen funkelten tiefgrüne Smaragde, aber in ihrem Herzen herrschte eine arktische Kälte. Mit ihrer düsteren Aura konnte sie Menschen schon fast töten. Abigail liebte lange Spaziergänge an der freien Natur, ihre Schwester ging oft nur nach draußen, wenn es blitzte und donnerte, dass man meinen konnte, die Hölle hätte sich aufgetan. Ja, sie hatten nichts gemeinsam, bis auf eine Kleinigkeit. Sie waren beides Hexen. Abigail diente dem Guten, sie benutzte ausschließlich weiße Magie. Trotz dass viele sie um ihr blendendes Aussehen beneideten, schenkte sie den Menschen immer ein fröhliches Lächeln. Sie pflanzte Hoffnung in die Herzen, deren Böden schon erkaltet waren. Tabitha wurde gemieden wie die Pest, die Dorfbewohner verachteten sie, und die Geschichten, die man sich über sie erzählte, flößten Kindern das nackte Grauen ein. Wie der Zufall es so wollte, hatten sie beide ein Auge auf denselben Mann geworfen. George Steam war als Künstler in Salem bekannt. Ein eher hagerer, unscheinbarer Mann, dessen Gesicht von einer Sehhilfe geziert war. Er war Bildhauer und hatte den Leidensweg Christi für die lokale Kirche in Stein gemeißelt. George war ein Freigeist. Er hatte nicht viel übrig für die Welt außerhalb seiner Werkstatt. Doch Abigails unüberwindbarer Charme ließ selbst ihn dahinschmelzen. Wäre da nicht ein kleiner Teufel namens Tabitha gewesen. George wusste, dass es falsch war, Gefühle für zwei Frauen zu hegen und so suchte er Trost in weiterer Arbeit. Er werkelte Tag und Nacht an großen Steinblöcken, bearbeitete sie mit Hammer und Meißel. Trotz der schweißtreibenden Arbeit ließen ihm seine Gedanken um die beiden Frauen keine Ruhe. So floss der Schmerz, den er über seine missliche Lage empfand, in seine Kunst mit ein. Bewaffnet mit seinem Werkzeug formte er massive Skulpturen aus dem Gestein. Sie hatten Flügel, die zunächst wie die eines Engels aussahen, und liebliche Gesichter dazu und er nannte sie Gargoyles. An einem Juninachmittag lud George Abigail in seine Werkstatt ein. Die gute Hexe hatte ihre Gefühle für den Bildhauer vor ihrer eifersüchtigen Schwester geheim gehalten. Sie ahnte aber nicht, dass Tabitha sich bereits mehrere Male mit George getroffen und er ihr heimlich den Hof gemacht hatte. In der Blase ihrer Illusion gefangen, führte George seine Angebetete an diesem Nachmittag zu seinem Schaffensort und präsentierte ihr stolz sein neuestes Werk. Zwölf Steinfiguren, so hoch und breit wie Menschen selbst, reihten sich vor Abigails Augen auf und ließen sie in einen Status des Staunens verfallen.

„Und wie gefallen sie dir?“, fragte George seine heimliche Liebe.

Abigail lief an den Skulpturen vorbei. Ihre zarten Hände berührten das Material, schlagartig spürte sie die hingebungsvolle Liebe und die Leidenschaft, mit der sie gefertigt worden waren.

„Oh George, sie sind einfach wunderschön. Ich kann mich nicht daran entsinnen, je etwas so Prächtiges erblickt zu haben.“

Jede der Figuren war in ihrer Machart anders und somit einzigartig. Ein Detail verband sie jedoch, ihre engelsgleichen Flügel auf ihren Rücken. Ein Merkmal, das hervorstach, das sie von anderen Skulpturen anderer Künstler massiv unterschied und sie zu etwas Besonderem machte. Ihre Gesichter waren von George mit perfekter Präzision bearbeitet worden, man bekam in ihrer Nähe das Gefühl, als stünde man vor einem Gott, der von purem Licht umgeben war.

„Ich habe ihnen sogar Namen gegeben“, sagte George und lief auf die beiden vordersten Figuren zu, die offenkundig männlichen Geschlechtes waren, „diese beiden hier heißen Viktor und Orgun“, meinte er stolz und seine Brust hob sich dabei.

„Und diese beiden Schönheiten“, führte er fort und deutete auf die weiblichen Figuren, die hinter Viktor und Orgun standen, „habe ich Lavendia und Augustine getauft.“

Abby ließ den Moment auf sich wirken.

„George, deine Kunst ist so inspirierend, doch ich fürchte, in Salem wird niemand von ihnen Notiz nehmen. Schlimmer noch, vielleicht werden die Leute dich für einen Ketzer halten und dich töten“, in Abigails Stimme lag Furcht. Sie wollte George um keinen Preis verlieren, ebenso wenig wie er sie.

„Was schlägst du also vor?“, fragte der Künstler.

„Wir müssen sie aus Salem herausschaffen. Hier ist nicht der richtige Ort für deine Kunst. Glaub es mir oder nicht, ich habe das Gefühl, dass es in Salem schon bald zu Unruhen kommen wird. London ist eine große Stadt mit vielen gebildeten Leuten. Ich kenne dort jemanden, der eventuell Interesse an deinen Skulpturen haben könnte. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass sie die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen.“

„Oh Abigail“, jauchzte George, ging zu ihr rüber und legte seine rauen Handwerkerhände um ihre zarten Elfenfinger, „du bist so gut zu mir, wie habe ich das nur verdient? Dein Plan klingt durchaus gut, aber er würde eine Unsumme an Geld verschlingen, das ich leider nicht habe.“

„Überlass das nur mir, Liebster“, fügte sie schlussendlich hinzu, ehe die beiden einander küssten und Abschied nahmen. Abigail wies George an, niemandem sonst von seinen Gargoyles zu berichten. Mithilfe von loyalen Freunden schaffte Abigail die Skulpturen über Nacht aus Georges Werkstatt und buchte ein Schiff nach London zur Überfahrt. Die Gargoyles als Fracht verladen, setzten George und Abigail am Morgen des 26. Junis im Jahre 1602 Segel nach London. Niemand der Besatzung ahnte, dass sie einen blinden Passagier bei sich hatten, der dem liebenden Paar ihr Glück rauben und an die Krähen verfüttern würde.

Drei Tage dauerte die Überfahrt. Eine Zeit, in der George und Abigail von wohligem Glück begleitet waren. Nicht zuletzt, weil die gute Hexe ein kleines Geheimnis unter ihrem Herzen trug, welches sie dem Künstler nach ihrer Ankunft in der Stadt mitteilen wollte. Londons Hafen stank nach Fisch, der salzigen Seeluft und dem fauligen Atem der Menschen. Als Abigail und George ihre Kajüte verließen, drang wildes, ungehobeltes Pöbeln der Seemannsleute an ihre Ohren. Die Möwen zogen hoch oben in der Luft ihre Kreise, erfüllten sie mit ihrem Kreischen, das wie ein Sägeblatt über Stein geschliffen klang. Sie tummelten sich auf den Balken der vielen Anlagebrücken und spekulierten darauf, dass ein unvorsichtiger Seemann irgendwo einen Fisch fallen ließ. Die raue Anlegestelle lag schon bald hinter George und Abigail, die sich in Richtung Stadt aufmachten. Die gute Hexe hatte dem Direktor des Museums of Art geschrieben und ihn um ein Treffen gebeten. Sie hatte Georges Kunst in den höchsten Tönen gelobt. Ihm selbst erschien seine Situation noch zu surreal, etwas, das nicht von Menschenhand, sondern von Magie gelenkt wurde. Am erwählten Treffpunkt luden die Arbeiter Georges Skulpturen von den Wägen und trugen sie ins Innere des Gebäudes. Es ging für die Gargoyles tief hinab in das Kellergewölbe. Versteckt unter Linondecken stellten die Arbeiter, die beim Verladen ziemlich ins Schwitzen gekommen waren, die Figuren schließlich eine nach der anderen ab. Der Direktor war schon vor Ort. Georges Augenblick war gekommen, er enthüllte seine Kunstwerke. Der Direktor, ein dickbäuchiger Mann namens Andrew Powell, der ein Monokel trug und eine Vorliebe für Spitzbärte hatte, betrachtete die Gargoyles mit hochgezogenen Brauen. Das Kellergewölbe war gut beleuchtet, sodass er die Darbietung problemlos sehen und beurteilen konnte. Georges Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wusste nicht, wie er Mister Powells Gesichtsausdruck und sein gelegentliches Grunzen zu interpretieren hatte. Hoffentlich war die Fahrt nicht vergebens gewesen.

„Nun, Mister Steam“, begann der Direktor und schürzte seine Lippen, „ich wünschte, wir hätten uns früher kennengelernt. Ihre Skulpturen sind außergewöhnlich und ihre Machart deutet auf Brillanz hin. Ich darf Ihnen also gratulieren, George. Mit meiner Hilfe werden Sie bald zu einem der bekanntesten Künstler in ganz London aufsteigen. Ihre, wie nennen Sie sie noch gleich, Gargoyles, diese Figuren werden schon bald sämtliche Kirchen der Stadt zieren, oh was rede ich da, der ganzen Welt.“

Georges Knie wurden weich. „Danke, Mister Powell, das bedeutet mir sehr viel.“

Der Direktor schüttelte George kräftig die Hand. „George, laufen Sie mir ja nicht weg, mein lieber Junge. Ich sehe Sie dann morgen früh wieder und werde dann alles Weitere mit Ihnen besprechen. Ich möchte nicht zu voreilig sein, George, aber bei Ihrem Talent würde es mich nicht wundern, wenn das Königshaus Sie schon bald engagiert.“

Dem Schein der vielen Fackeln folgend, verließ Mister Powell George und Abigail. Seit ihrem Aufbruch aus dem Hafen hatten die beiden endlich wieder einen Moment für sich.

„Meine liebste Abby“, schwärmte George“, nur dir habe ich das zu verdanken.“

„Doch nur dir gebührt der Ruhm. Der Direktor hat recht, du hast so viel Talent, George, du darfst es nicht an einem so kümmerlichen Ort wie Salem lassen.“

Sie trat näher an ihn heran. „Mein Liebster, da gibt es etwas, dass ich dir noch sagen möchte. Ich trage dein Kind unter meinem Herzen.“

George wusste zunächst nicht, wie er auf Abbys Geständnis reagieren sollte. Er fühlte so vieles durch seine Brust rauschen wie einen Sturzbach. Vor allem aber erfuhr er Glückseligkeit, die ihn für einen kurzen Moment sprachlos machte.

„Abby … das … ist… einfach nur WUNDERBAR!“

Er hob seine Angebetete auf seine Arme und drehte sich mit ihr im Kreis.

„Ich liebe dich, Abigail. Ich habe dich schon immer geliebt. Du bist die Eine, die ich an meiner Seite haben möchte, für jetzt und …“

„… für immer und in aller Ewigkeit, Amen“, sagte eine kaltherzige Stimme, die plötzlich aus dem Nichts drang.

Ihre bitterböse Aura ging ihr wie ein Schatten voran, als Tabitha sich zu erkennen gab. Sie war wie stets in schwarze Kleidung gehüllt, man hätte meinen können, sie ginge auf eine Beerdigung.

„Ich wusste es, dass ihr beiden hinter meinem Rücken miteinander anbandelt“, spuckte die böse Hexe wütend aus. Ihre grünen katzengleichen Augen funkelten, als wäre ein Vulkan explodiert.

„Tabitha, lass mich dir das erklären“, versuchte George sie zu beruhigen.

Du elender Verräter, wage es ja nicht, dich herauszureden! Ich habe dir mein Herz geschenkt und das ist dein Dank dafür? Dass du dich für meine langweilige Schwester entscheidest?“

„Lass ihn in Ruhe, Tabitha, das geht nur dich und mich etwas an.“

Abigail stellte sich schützend vor George. Tabitha schlich wie ein räuberisches Biest vor ihr hin und her. Das Messer, des an ihr begangenen Verrates, stach ihr tief ins Herz, sodass die schwarze Hexe vergaß, was sie für George je empfunden hatte. Sie griff die beiden an. Grüne Blitze zuckten aus ihren Händen und richteten sich wie fliegende Speere gegen ihre Schwester. Abigail wurde nach hinten geschleudert. George verlor dadurch seine Deckung und wurde Opfer von Tabithas entfesselter Macht. Ein Blitz traf ihn an seiner Schläfe und er viel bewusstlos nieder. Abigail hatte sich vom Angriff ihrer Schwester wieder aufgerappelt. Obgleich sie Trägerin des Guten war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ihrer boshaften Blutsverwandten zu stellen. Sie konterte Tabithas Angriff mit einem bläulichen Strahl, der die grünen Blitze zerbrechen ließ wie ein herunterfallender Porzellanteller. George kam wieder zu Bewusstsein. Er glaubte zunächst, einem üblen Traum aufzusitzen, als er die beiden Frauen kämpfen sah. War es denn möglich? Abigail und Tabitha waren Hexen? Unter dem vielen Schmerz fühlte er seine moralische Welt allmählich einstürzen wie ein schlecht gezimmertes Haus. Die Schwestern lieferten sich einen erbitterten Kampf, Gut versuchte Böse zu besiegen, Böse konterte mit weiteren Blitzen und gedachte, das Gute zu unterjochen. Aber die dunkle Seite in Tabitha hatte zu viel Macht und so brach sie Abigails Schutzschild. Die gute Hexe strauchelte nach hinten, Tabithas grüne Blitze schlugen in ihre Schulter ein, machten sie kampfunfähig. In seiner hilflosen Lage musste George mit ansehen, wie seine schwangere Geliebte keuchend am Boden lag. Ihr Brustkorb ging zunächst in hechelnden Abständen schnell auf und ab, ehe er sich abgeflacht und arrhythmisch bewegte. Triumphierend lächeln stellte Tabitha sich wie ein bedrohlicher Schatten über George.

„Wenn du denkst, meine Rache wäre damit vollendet, dann irrst du. Nicht nur Abigail ist dir wichtig, sondern auch deine Kunst.“

Sie blickte zu den Gargoyles, ein diabolisches Lachen krönte ihre Lippen.

„Hört mir genau zu, ich verfluche dich hiermit, George Steam, mögen deine Figuren durch das Antlitz des Teufels geschändet werden. Niemals soll ein sterbliches Wesen sie sehen können. Sie sind verflucht ein Leben in der Finsternis und Einsamkeit zu leben.“

Giftgrüne Schwaden umhüllten Georges Kunstwerke. Die Gesteinsmasse, aus der sie gefertigt worden waren, splitterte von ihnen ab wie die Schuppen von einer Echse. Die Gargoyles waren zum Leben erwacht. Ihre Engelsflügel verwandelten sich in scheußliche Drachenflügel, die ledern von ihren Rücken hinabhingen und sie als Kinder des Bösen brandmarkten, während ihre Gesichter vom Fluch der Hexe verschont blieben. Wie aufgescheuchte Raben und mit einem Schrei, der wie der Angriff einer Harpyie klang, flogen George Steams einstige prachtvolle Skulpturen in alle Richtungen und erzeugten über ihren Köpfen einen höllischen Lärm. Die Gargoyles ergriffen einer nach dem anderen die Flucht und Tabitha blickte mit irrem Blick ihrer Schändung nach. Sie war abgelenkt und sah nicht kommen, wie Abigail sich hinter ihrem Rücken wieder aufrappelte, ein Messer aus ihrer Tasche zog und es ihrer teuflischen Schwester ins Herz rammte. Blut quoll schwallartig aus Tabithas Mund, die mit letzter Kraft Abby bei den Schultern packte und ihr zuflüsterte „das ändert nichts. Mein Fluch besteht fort. Von jetzt an bis in alle Ewigkeit.“

Sie krachte zu Boden. Ihr Lebenssaft verteilte sich kreisförmig um sie herum und ließ es so wirken, als würde eine fremde Aura hinter ihr erscheinen. Abby rannte zu George, dessen Leben ebenfalls am seidenen Faden hing.

„Bleib bei mir, Liebster“, flehte sie ihn an und konnte kaum ihre Tränen zurückhalten.

„Es ist zu spät, Abigail. Mein Vermächtnis ist vernichtet. Du hast es gesehen, du hast gesehen, wie die Gargoyles geflohen sind, und nie wird ein Mensch sie erblicken können.“ Das Reden fiel ihm schwer, wie ein brodelnder Kessel ging sein Atem von seiner Brust, ein klackerndes, fast schon metallisches Geräusch. „Sie mögen mit dunkler Magie beschmutzt worden sein, aber das haben sie nicht verdient. Ich bin so weit gekommen und am Ende habe ich alles verloren.“

Ein letzter Atemzug, ein letzter Blick in Abbys wunderschöne Augen. George Steam starb noch an Ort und Stelle. Abigail schaffte seinen Leichnam aus dem Kellergewölbe weg und begrub ihn heimlich auf einem Friedhof. Sie hatte keine Ahnung, wohin Georges Skulpturen geflohen waren. London war groß, die Gargoyles konnten überall sein. Innerlich betete sie, sie mögen einander finden und sich gegenseitig Trost spenden. Als Abby das letzte bisschen Erde über Georges Grab geschaufelt hatte, kniete sie nieder.

„Mein Geliebter, Tabithas Fluch ist zu mächtig, als dass ich ihn rückgängig machen könnte. Aber ich möchte nicht, dass du dich fortan im Grabe herumdrehst, daher werde ich mein Bestes versuchen und deinen Skulpturen, deinen Gargoyles, wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer schenken.“

Sie verließ Georges Begräbnisstätte und lief zu einem Baum der, verborgen hinter Sträuchern und anderem Gestrüpp, noch auf dem Friedhof stand. Abigail berührte den Stamm, ein Knacken spaltete von unten nach oben zunächst die Rinde und fuhr dann tiefer bis ins Holz hinein. Es war vergleichbar mit Moses, der das Meer teilt. Ihr Zauber riss den Baum entzwei und ließ einen zickzackförmigen Spalt in der Erde entstehen. In dieser Schneise säumten weiße Steine den Weg, wo Abigail mit ihren Füßen auftrat. Am Ende des Pfades ließ Abigail mithilfe ihrer Zauberkraft einen Schrein entstehen, einen Altar. Er war sehr schlicht gehalten, eigentlich war es auch nur ein Becken, das sich mit Wasser füllte bis an den oberen Rand.

„George, ich weiß, ich kann es nicht mehr gut machen, dass ich dich über mein wahres Wesen belogen habe“, sprach Abigail zum Himmel gewandt, „doch diese Quelle soll fortan als Heilungschance für deine Gargoyles dienen. Vom heutigen Tage an, soll sie als die Quelle von Samhain bekannt sein. Ihr Wasser kann den nahenden Tod vertreiben oder menschliches Leben schenken.“

Um neugierige Augen von der Quelle fernzuhalten, legte Abigail einen Schutzzauber um den Ort. Sie vollendete ihr Werk damit, dass sie die Quelle für eine sehr lange Zeit versiegelte. Die Gargoyles hatten sich auf und davon gemacht. Weder der Wind noch die Vögel sahen sie und Abby blieb über ihren Verbleib im Dunkeln. Im nächsten Jahr gebar sie ihren und Georges Sohn. Als alleinerziehende Witwe reiste sie mit Christopher in den Süden Englands, wo sie sich auf einer Farm niederließ und ihren Sohn standesgemäß großzog. Christopher ahnte, dass seine Mutter etwas Besonderes war, fand aber nie den Mut, sie nach ihrer wahren Herkunft zu fragen. Als er zum Mann herangereift und alt genug für eine eigene Familie war, erkrankte Abigail. Am Abend vor ihrem Tod setzte sie sich vor den Kamin und die Flammen übermittelten ihr eine Vision. Sie sah die Gargoyles und dass es zwischen ihnen zum Krieg kommen würde. Mit letzter Kraft schrieb sie eine Prophezeiung nieder.

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