Buch lesen: «Babaji - Botschaft vom Himalaya», Seite 2

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3. Der Avatar als göttliche Inkarnation

Die Lehre vom Avatar3 ist ein Grundpfeiler hinduistischer Theologie. Diesem fällt, insbesondere in der Entwicklung einer periodisch wiederkehrenden Endzeit, eine entscheidende Rolle zu.

Große Avatare sind selten. Sie erscheinen immer zu einer Zeitenwende, zu Krisenzeiten der Weltgeschichte, um den Körper der Welt von einer ihn zersetzenden Krankheit durch radikalen Eingriff zu heilen. Das Erscheinen einer Erlöserfigur in Menschengestalt wird daher oft mit einem einen ertrinkenden Schwimmer Rettenden verglichen, der ihn nur dadurch vom Tode bewahren kann, dass er sich in denselben See stürzt.

Das Phänomen der Herabkunft des Göttlichen von der Transzendenz in die Erscheinungswelt ist kein einmaliges historisches Ereignis, vielmehr ist die immer wieder sich offenbarende heilige Kraft ein feierliches Leitmotiv im unendlichen Drama des kosmischen Prozesses.

Als weltbewegende Kraft sind die Ereignisse, Lehren und Bedeutung, ausgelöst durch das Erscheinen des Avatars, überliefert im klassischen Schrifttum, den großen Epen, den Puranas, Schastras und Upanischaden, wie auch im Brauchtum und der mündlichen Tradition.

Das Herabkommen von Göttern auf die Erde ist etwas ganz Gewöhnliches und ist beschrieben in zahllosen Mythen. Die Bhagavad Gita enthält die vielleicht eindringlichste Formulierung der Avatar-Doktrin, wonach das Göttliche sich durch die ihm eigene, geheimnisvolle Kraft der maya gebiert:

»Immer wenn die Grundsätze der Pflichterfüllung sich Lokkern oder erschlaffen und die Ungerechtigkeit überhand nimmt, dann ströme Ich hervor: um die Gerechten zu schützen und die Übeltäter zu vernichten, um die göttliche Weltordnung wieder einzusetzen, werde ich in jedem Weltalter zum vergänglichen Wesen inmitten der sterblichen Geschöpfe. «4

Ramakrischna, der große Heilige des neunzehnten Jahrhunderts, vergleicht die Avatare mit Wellen im unendlichen göttlichen Meer:

»Dem Geist und der Materie wohnt, vergleichbar einem Meer ohne Grenzen, eine unendliche Macht inne. Um einer besonderen Aufgabe willen nimmt diese unendliche Macht zu einer bestimmten historischen Zeit sozusagen konkrete Formen an - das ist, was man einen großen Menschen nennt. Er ist, genaugenommen, eine örtliche Manifestation der alles durchströmenden Macht, mit anderen Worten eine göttliche Inkarnation. Diese Größe in einem Menschen ist im eigentlichen eine Manifestation göttlicher Energie ... Der Avatar ist immer derselbe: Er stürzt sich in das Meer des Lebens, taucht an einem Ort auf und wird Krischna genannt, taucht wieder unter und erscheint am anderen Ort als Christus.« 5

Die Lehre vom Avatar, dessen Erscheinen für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins immer richtungweisend ist, beinhaltet nicht nur ein Transzendieren der irdischen Wirklichkeit, sondern auch Verwirklichung des göttlichen Gesetzes auf der Erde. So ist das Phänomen der Herabkunft des Gottes eng verbunden mit dem Aufstieg des Menschen.

Als höchste Verwirklichung des Göttlichen im Menschen ist der Avatar das vollkommene Vorbild für seine geistige Neugeburt. Dabei unterscheidet die Philosophie des Hinduismus zwei Aspekte der göttlichen Geburt:

»Der eine ist ein Abstieg, die Geburt Gottes in der Menschheit, die Gottheit, welche sich in menschlicher Gestalt und in der Natur zeigt - dies ist der ewige Avatar; die andere ist ein Aufstieg, die Geburt des Menschen in der Gottheit - der Mensch, welcher sich in die göttliche Natur und das göttliche Bewusstsein erhebt, über das Gesetz der karmisch bedingten Seelenwanderung hinaus. «6

Der Unterschied zwischen dem menschlichen Gott und dem göttlichen Menschen ist der, dass der Avatar seiner Identität mit brahman, der göttlichen Kraft, voll bewusst ist, ganz zum Unterschied vom Menschen, der, obwohl aus derselben Potenz geschaffen, von seinen Sinneswahrnehmungen befangen ist. Es ist diese immanente göttliche Lebenskraft, die es dem Menschen ermöglicht, die Bedeutung eines Avatars ahnend zu begreifen, da ja nur Gleiches Gleiches zu erkennen vermag.

Der Avatar, dessen Erscheinen einer uralten menschlichen Sehnsucht nach Erlösung und Erfüllung seiner tiefsten Wünsche entspricht, manifestiert sich ganz konkret, doch wird seine eigentliche Bedeutung jeweils nur von wenigen Zeitgenossen erkannt. So galt Christus für viele nur als Sohn des Zimmermanns aus Nazareth und dem orthodoxen jüdischen Klerus als störendes, ihre etablierten Positionen gefährdendes Element; wie auch Krischna, einer von vielen Prinzen seiner Zeit, seine Gottesmacht nur einigen wenigen Vertrauten offenbarte.

Adi Schankara7 der wohl bedeutendste Lehrer des Vedanta, hat das Phänomen des Avatars vielfach kommentiert. Er lässt ihn an einer Stelle sprechen:

»Die Unwissenden glauben, Ich habe mich erst jetzt manifestiert, doch bin Ich der ewig leuchtende Herr. Ich erscheine nicht allen Menschen, sondern nur denjenigen, die an mich glauben, denn ich halte mich hinter dem Schleier der yoga-maya verborgen. «8

Es wird im religiösen Schrifttum auch immer betont, dass allein die Unkenntnis des eigenen immanenten Selbst den Menschen in seiner Blindheit gefangen hält.

Bisweilen jedoch offenbart sich der Avatar als Ischwara, als Herr der Schöpfung, indem er die Begrenzung des menschlichen Zustandes auflöst und dem Gläubigen die geistige Schau zuteil werden lässt. Dabei entspricht der Verklärung des Gottes in Menschengestalt die Erleuchtung des Jüngers, dessen inneres Auge das Bewusstsein der göttlichen Transzendenz gewahrt:

»Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und ging mit ihnen auf einen hohen Berg.

Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie Licht. «9

»Und als er am Freitag am Kreuz aufgehängt wurde, war zur sechsten Stunde Finsternis auf der ganzen Erde. Und es stand mein Herr mitten in der Höhle und erhellte sie und sagte: ›Johannes, für die Menschen unten werde ich in Jerusalem gekreuzigt und mit Lanzen und Rohren gestoßen und mit Essig und Galle getränkt.

Mit dir aber rede ich, und was ich rede, höre! Ich habe dir eingegeben, auf diesen Berg zu gehen, damit du hörst, was ein Jünger vom Meister lernen muss und ein Mensch von Gott.‹

Und als er das gesagt hatte, zeigte er mir ein festgemachtes Lichtkreuz, und um das Kreuz herum eine große Volksmenge, die nicht nur eine Form hatte ...

Den Herrn selbst aber sah ich oben auf dem Kreuz, und er hatte nur eine Stimme, doch nicht die uns gewohnte Stimme, sondern eine liebliche und gütige und wahrhaft Gott gehörige...

›Die nicht einförmige Menge um das Kreuz herum ist die untere Natur ... noch ist nicht jedes Glied des Herabgekommenen zusammengefasst. Wenn aber die Menschennatur und ein mir nahekommendes und meiner Stimme folgendes Geschlecht aufgenommen ist, wird der, der mich jetzt hört, mit diesem vereint werden und nicht mehr sein, was er jetzt ist, sondern über ihnen sein wie ich jetzt.

Denn solange du dich noch nicht selbst mein eigen nennst, bin ich nicht das, was ich bin ... Als ersten erkenne den Logos, dann wirst du den Herrn erkennen, an dritter Stelle aber den Menschen und was er gelitten hat ... «10

»Siehe das ganze Weltall, mit allem, was sich bewegt und nicht bewegt, als eine Einheit, als ein Ganzes in meinem Leib.

Doch mit deinem irdischen Auge kannst du mich nicht sehen. Ich will dir ein Geistesauge geben- siehe meine höchste mystische Natur:

... Mit vielen Gesichtern und Augen, vielseitig, wunderbar, mit göttlichen Dingen geschmückt, mit himmlischen Kräften versehen.

Göttlich bekleidet und bekränzt, durchdrungen von himmlischen Wohlgerüchen, ein überaus wunderbares, lichtvolles, unendliches, allsehendes Wesen.

Wenn tausend Sonnen zugleich am Himmel aufflammen würden, käme es wohl nicht dieser Herrlichkeit gleich.

Da sah nun Ardschuna das ganze Weltall, das so mannigfaltig in seiner Erscheinungswelt ist, als ein Einziges, in den Körpern der Götter als viele Teile geoffenbart.«11

Der Augenblick der Bewusstseinswandlung, und davon zeugen auch die Erlebnisberichte der Schüler Babajis12, wird erlebt als ein Moment höchster Weihe und als ganz besonderer Gnadenbeweis des Göttlichen: dem Glaubenden widerfährt die Schau dessen, was als das ganz Andere erlebt wird, ihm aber näher ist als das eigene Selbst. Das schauende Bewusstsein wird eins mit dem Geschauten, und die essentielle Beziehung alles Gewordenen mit dem Ursprung des Seins wird zur entscheidenden Erfahrung..

4. Der Avatar aus der Sicht des Schaiwismus13

Im Drama der Schöpfung fallen den Gyanis, Yogis und Siddhas, d.h. den Weisen, Asketen und Menschen mit übersinnlichen Kräften, eine wichtige Rolle zu, doch ist es der Avatar, der die entscheidenden Impulse zur Entwicklung des menschlichen Bewusstseins gibt.

Unter den Avataren sind die meisten sterblich; wie Krischna und Christus verlassen sie ihren Körper am Ende ihrer irdischen Mission. Einige wenige, die Purnavatare, die das Göttliche in seiner höchsten Potenz inkarnieren, sind unsterblich. Von ihnen berichtet die Tradition, dass sie keinen körperlichen Tod sterben, dass sie immer und überall gegenwärtig sind, sich zu bestimmten Zeiten manifestieren und sonst dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Alle Purnavatare sind Inkarnationen Schiwas; zu ihnen zählen Hanuman, Baba Goraknath und Babaji.

Zu allen Zeiten der großen Übergänge zwischen den Schöpfungsperioden ist das höchste Amt der Auflösung des Gewordenen in den Händen des unendlichen Wesens selbst. Der Purnavatar oder Mahavatar14 erscheint immer dann, wenn das Ausmaß des Gesetzesverfalls jenseits der integrierenden Kraft des Avatars ist: der Urheber des Schöpfungsdramas greift selbst in die Handlung ein.

Diese höchste Kraft bezeichnet das System des sanatana dharma als ›Samba Sada Schiwa‹, als ewigen Gott Schiwa, eins mit seiner schakti oder schöpferischen Potenz, der Mutter des Weltalls, Amba.

Aus der Sicht einer immerwährenden Transformation ist alles, vom Subtilsten bis zum Grobstofflichen, eingebettet in einen Prozess unaufhaltsamer Verwandlung, wobei alles Geschaffene letztlich in seinen Ursprung zurück absorbiert wird.

Als alles verwandelnde Potenz ist Schiwa auch der Gott der Schöpfung. Er, der endet, ist auch derjenige, der beginnt, mehr also als nur ein Funktionselement einer Dreiheit: als Schiwa-Rudra ist er der Zerstörer, als Sadaschiwa der ewige Gott und als Maheschwara die große Gottheit des Urbeginns, der somit über die Prozesse der Auflösung, der Welterhaltung und der Schöpfung regiert. Aus dieser Sicht gibt es letztlich weder Schöpfung noch Zerstörung, sondern nur einen unendlichen Prozess der Verwandlung.

Im Mythos wird das Bild gebraucht von Schiwa, dem Zerstörer, als einzigem Zeugen, der die Periode kosmischer Grabesnacht transzendiert, indem er das Universum mit allen seinen Welten hineingibt als Opfergaben in das Feuer seines eigenen Lichts:

»Wenn Dunkelheit nicht ist, wenn ist weder Tag noch Nacht, weder Sein noch Nichtsein, ist allein Schiwa.«15

In der Ikonografie wird Schiwa auch dargestellt als der einsame kosmische Tänzer, dessen Tanz alle Wesen und Welten beinhaltet. Seine endlos sich wiederholenden rhythmischen Figuren und Gesten fließen hervor aus dem nie nachlassenden Strom seiner göttlichen Energie. Wenn der Mond in den Wassern versunken, die Berge verschwunden, die Sonne verloschen, die Menschheit vergangen, die Sterne gefallen und die Erde in den Fluten eines gigantischen Ozeans versunken, ist Schiwa allein geblieben, den pralaya tandava16 tanzend.

Schiwa, der brahman des Vedanta, ist der göttliche Urgrund, in welchen selbst die Götter, als die verwirklichenden Teilaspekte seiner Macht, untertauchen und wiedererstehen, die auch den Menschen von seinem Innersten her regieren. Diese Vielfalt der Manifestation des Göttlichen in der Materie veranschaulicht der Mythos in den eintausendundacht Namen oder Aspekten Schiwas, die er alle in der Einheit seines Wesens einbeschließt.17 Diese Teilmanifestationen wiederum werden wirksam im fünffachen Offenbarungsprozess der Schöpfung, Erhaltung, Auflösung, Verschleierung und Gnade.

Die Entfremdung, die Bewegung fort vom Urgrund des Seins, wie die Reabsorption in das Göttliche hinein, ist ein unaufhörlicher Prozess, der auch das sogenannte Böse als unumgängliches, die Dualität gestaltendes Prinzip mit einschließt. Die Verehrung des Schrecklichen, als die andere Seite des huldvollen, gnadenreichen Gottes, ist ein wesentlicher Bestandteil hinduistischer Gottesschau.

Schiwa, als Zerstörer aller weltlichen Illusion, verlangt das Erlebnis des Göttlichen in seiner furchtbarsten Form: das Vermögen, der unverschleierten Wahrheit ins Auge sehen zu können, ohne davon überwältigt oder verstört zu werden. Deshalb rief Ramakrischna seine Schüler auf: »Betet das Schreckliche an, stürzt euch in den Tod, nicht ins Leben!«

Den Dämon und den Gott als eins zu erkennen, ist eine Weihe höchster Ordnung. Dabei wird einem die Gewissheit zuteil, dass einem nichts geschehen kann, als was einem seit Ewigkeiten zugehört.

Als höchstes Wesen hat Schiwa teil an der Erfahrung der Endlichkeit, ohne dass seine Offenbarungspotenz dadurch gemindert ist: in der manifestierten Wirklichkeit nimmt er die verschiedensten Formen an, bleibt aber unverändert in seiner Wesenheit.

Schiwa, das Urbild des Yogi, stellt die Ikonografie dar als jenseits aller Zeitlichkeit in unberührbarer Einsamkeit auf dem Schneegipfel des Kailasch Berges sitzend, versunken in die kristallklare Schau des Urgrundes seines unendlichen Wesens.

Die künstlerische Darstellung Babajis als swayambhu (sich selbst erzeugendes göttliches Wesen) in der Position des meditierenden Yogi auf dem Kailasch als Zentrum der Welt und Übergang in die göttliche Transzendenz zeigt ihn auch als Herr über die drei gunas: radschas, tamas und sattva, den strukturierenden Grundelementen des Daseins, veranschaulicht durch drei konzentrische Kreise, sowie über die fünf Elemente Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Mit dem Urlaut OM beginnt die Schöpfung und die Trennung von Schiwa und Schakti, die vereint sind im Licht, das vom Herztschakra Babajis die Welt erleuchtet.

So vereint und manifestiert Schiwa absolute, in sich ruhende Stille mit sich in die unendliche Vielfalt des Lebens verströmender dynamischer Energie.

Als kosmisches Wesen »sind seine Stirn Feuer, Sonne und Mond seine Augen, die vier Himmelsrichtungen seine Ohren, die Veden seine Stimme, der Wind, der die Welt durchzieht, ist der Atem, der seine Brust belebt, die Erde seine Füße. Er ist das innere Selbst aller Lebewesen. «18

Entsprechend der unterschiedlichen geistigen Entwicklung der Menschen zeigt sich Schiwa als Du in göttlicher Form - davon berichtet die Fülle der Mythen, überliefert in den großen Epen des Mahabharata und Ramayana, und auch die Erlebnisse, Visionen und Träume der Gläubigen.19 Schiwa offenbart sich weiter als das Wissen, das aus dem Innersten des Menschen geboren wird, wobei das Göttliche als ›ich‹, im eigenen Werdeprozess einbezogen, erlebt wird und auch in der Form einer außenstehenden Person als Meister oder Guru.

Als göttlicher Guru ist Schiwa inkarniert in Babaji, der seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im Vorgebirge des Himalaya als Baba Haidakhan verehrt wird und im Abendland durch die Veröffentlichung von Paramahansa Yoganandas Autobiografie eines Yogi um die Mitte unseres Jahrhunderts als Mahavatar Babaji bekannt wurde.

5. Haidakhan Vischwamahadham20 - Zentrum der Mythologie um Babaji als Schiwa-Avatar

Haidakhan ist ein kleines Dörfchen im Kurmantschal Vorgebirge des Himalaya, sechsundzwanzig Kilometer östlich des Marktfleckens Haldwani im Distrikt Nainital der Großprovinz Uttar Pradesch.21

Mythologisch ist die Kurmantschal Region ein uraltes Gebiet und wird, unter anderem, auch in Verbindung gebracht mit der zweiten Inkarnation des Gottes Vischnu als Kurma, Schildkröte, zu Beginn des satya yuga, des Zeitalters der Wahrheit, dem ersten Zeitabschnitt unseres gegenwärtigen Äons.

Nach Angaben im Uttar Manas Skanda Purana22, in einem Dialog zwischen Schiwa und seinem Sohn Karttikeya23, wird dieser Ort schon als ein während der Eiszeit heiliges Gebiet erwähnt, als der indische Subkontinent noch bis zur Vindhatschal Region, im heutigen Radschasthan, mit Gletschern bedeckt war.

Nach dem Mythos beauftragte Schiwa Virabhadra24, eine feurige Emanation aus seinem Munde, »fürchterlich anzuschaun und von gewaltiger Macht«, mit der Lokalisierung des Zentrums der damaligen riesigen Landmasse, ehe das aus den Wassern herausragende Gebiet in die fünf Kontinente zerbrochen war.

Dieses weltbewegende Ereignis, das einer Neuschöpfung gleichkam, wird kommentiert mit »die Berge fielen krachend ein, die Erde erbebte, die Winde brüllten, aufgewühlt ward die Tiefe des Meeres«.

Die Eismassen blieben nur auf den höchsten Erhebungen des heutigen Himalayagebirges zurück. Schiwa und das Pantheon der Götter, vormals zu Hause auf dem Kurmantschal Kailasch-der mit dem mythischen Meru Parvat als axis mundi identisch ist-, zogen sich zurück auf den gleichnamigen Berg Kailasch im heutigen Tibet, nördlich des Manasarovar Sees, während das alte heilige Zentrum nach und nach von den Menschen besiedelt wurde. Das Zentrum der Welt hat als meru dandaseine mikrokosmische Entsprechung in der Wirbelsäule, mit der die Bewusstseinszentren, oder Tschakren, als Manifestationsorte der Götter verbunden sind.

Als Schiwa sich mit Sati vermählte, brachte er sie zum Kurmantschal Kailasch, an dessen Fuß sich zu alten Zeiten ein See befand. In diesem pflegte sie zu baden, und noch bis zum heutigen Tag heißt dieser Ort ›Sati Kunda‹.

Am Tag ihrer Ankunft pflanzte die Göttin dort ein Bäumchen, das heute als stattlicher und einziger Baum mitten im Flussbett des Gautama Ganga steht. Diesen Fluss leitete Schiwa, zu einem späteren Zeitpunkt, etwa eineinhalb Kilometer nördlich an die Oberfläche, als besonderen Gnadenbeweis für einen der sieben Rischis25 mit gleichem Namen, der sich in diese Gegend zum Meditieren zurückgezogen hatte.

Der Gautama Fluss fließt aus dem Manasarovar See unterirdisch viele Kilometer lang durch das Himalayagebirge und taucht unweit des Örtchens Haidakhan an die Oberfläche. Weiter fließt er durch die Stelle des ehemaligen ›Sati Kunda‹, ohne aber je den heiligen Baum zu überschwemmen, selbst nicht zur Zeit des jährlichen Monsunregens, wo riesige Wassermassen den Fluss zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. Ebenso wie das Wasser des Ganges kann man es jahrelang aufbewahren, ohne dass ein Fäulnisprozess einsetzt.

Am Fuße des Kailasch, nur wenig über dem Wasserspiegel des Gautama Flusses, befindet sich eine Höhle, die wie der Berg selbst auf die Schöpfungsgeschichte zurückgeht. Diese Höhle wird im Schiwa Purana26 erwähnt als Aufenthaltsort der Gottheiten und wird verehrt als ein Ort, wohin Schiwa sich bisweilen zu tiefer Meditation und asketischen Übungen (tapasya) zurückzieht.

In dieser Höhle, von der aus unterirdische Gänge nach Haridwar, Benares und zum Manasarovar See führen, wurde Babaji erstmals wieder im Juni 1970 von einem Bewohner der Gegend durch Weisungen eines Traumes gefunden.27

Der Kailasch (etwa 2 600 m hoch) wird sowohl im Mythos wie in Erzählungen aus der Gegend beschrieben als ›der goldene Berg‹, denn der Meru Parvat wird auch Hemadi - der goldene Berg, Ratnasanu - Juwelenspitze, Karnikatschala- Lotusberg und Devaparvata - Berg der Götter genannt.

An seinen unteren Hängen gibt es heute vereinzelt kleine Siedlungen, doch zeigt der Berggipfel kaum Vegetation, noch sind dort Wasserquellen zu finden. Auf seiner höchsten Erhebung ist ein Schiwaheiligtum mit lingam und dhum28 und ein von Pilgern gestifteter Glockenaltar.

Der Berg ist vielfach mit einer sehr seltenen Art des Paridschata Baumes (entstanden beim Quirlen des Milchmeeres des Trankes der Unsterblichkeit) bewachsen, von denen nur einer unter tausenden Samen hervorbringt.

Zu Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstand auf einem dem Kailasch gegenüberliegenden Hügel ein Schiwatempel von Babajis eigener Hand unter Mithilfe einiger Einwohner aus der Gegend. Sein Grundriss ist achteckig als Symbol für die aschthasiddhis29 (die acht Machtaspekte Schiwas).

Nach einer mündlichen Überlieferung30 wurde der Tempel 1843 fertiggestellt, und da nur Felsgestein aus der Umgebung dafür zur Verfügung stand, pflegte Babaji die Größe der Baublöcke mit seinem Stab zu umreißen, worauf diese sich im exakten Maß aus dem Gestein lösten. Von dem dreiseitigen lingam im Tempelinneren wird erzählt, dass er mit göttlichem Atem belebt ist. In den Jahren nach Babajis Erscheinen wurde der Tempelbezirk zu einem Aschram mit Wohngelegenheiten erweitert.

Das etwa einen halben Kilometer breite Flussbett ist übersät mit Steinen und Geröllblöcken, von denen Babaji sagt, dass sie Seelen sind, die Erlösung erlangt haben, und dass der Tag nicht mehr fern sei, wo so viele Menschen nach Haidakhan strömen werden, dass ihre Zahl die der Steine im Flussbett übertreffen wird.

Der Stein als Kultobjekt und Medium der Offenbarung spielt eine bedeutende Rolle nicht nur im Mythos und Ritus, sondern auch in den Erlebnissen der Adepten des Aschrams. So bezeichnet, zum Beispiel, im Flussbett unterhalb des Tempels ein lingam den »heiligsten Ort der Erde« ; seine Bedeutung wurde vor einigen Jahren von einem Adepten in einer Vision geschaut:

»Am Abend des achtundzwanzigsten Januar 1976 wurde im Flussbett, unterhalb des Aschrams, eine Hochzeit gefeiert. Während der Festlichkeiten ließ Babaji mich zu sich rufen und trug mir auf, nach Seinem kleinen Jungen zu sehen, der vermisst wurde.

Langsam stieg ich in der Dunkelheit die vielen Stufen zum Aschram hinauf. Einige Male blieb ich stehen, um mich auszuruhen und um auf das bunte Treiben hinunterzuschauen. Die Klänge der Blechkapelle und die Stimmen der vielen Menschen drangen zu mir herauf als ein Gemisch von Summen und Dröhnen. Und als ich mich so an das Mauerwerk anlehnte und hinuntersah, schaute ich plötzlich das ›andere Haidakhan‹, sozusagen die geistige Wirklichkeit des Ortes, der mir während meines zweimonatigen Aufenthaltes so vertraut geworden war.

Die Worte ›Haidakhan ist das Zentrum der Welt‹ kamen mir immer wieder in den Sinn. In der Einfachheit der gegliederten Steinwälle des eingefriedeten havana kunda (ausgehobene Grube für das Feueropfer), in dem sich das Leben tummelte, schaute ich den ersten und letzten Ort, der auf der Erde besteht ... «

Mahendra Baba31 hat die Bedeutung und Schönheit dieses Ortes in ekstatisch inspirierten Versen in seinem Haidakhandi Aratt32 beschrieben:

»Haidakhan ist ein einzigartiger Ort, voll Reinheit, Glückseligkeit - des Lebens höchstes Ziel,

Dort fließt der Gautama Fluss, dort weilen Götter und Weise. Erblicke ich den Berg Kailasch, fühle ich mich aus tiefster Seele zu ihm hingezogen.

Am Fuße des Berges - eine göttlich-schöne Höhle: dies ist der Wohnort des Herrn.

Die Tiere des Waldes, ganz ohne Furcht, leben in Eintracht miteinander.

Selbst Nandana Van, der Himmel Krischnas, erscheint mir armselig, vergleiche ich ihn mit dem Wohnort des Herrn. Preis und Ehre dir, Haidakhan, heiligster Ort, Wohnsitz Schiwas, des Herrn ...«

In seiner Vision der Zukunft eröffnet Schiwa seinem Sohn Karttikeya, dass eine Zeit kommen würde, da die Götter wieder zum Kurmantschal Kailasch zurückkehren werden; dann würde auch Haidakhan seine ursprüngliche Bedeutung wiedergewinnen als zentrales Heiligtum der Welt; es sei dies auch die Zeit eines Wendepunktes in der Weltgeschichte und der Beginn eines neuen Zeitalters.

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