Buch lesen: «Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur», Seite 15

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Ovid zufolge hasst Ino-Leukothea-Mater Matuta die Dienerinnen, weil eine SklavinSklavin zu Athamas’ Nebenfrau wurde. Der Aiolide wird als böswillig (improbus, Vers 555) beschrieben, wie es auch in den Gedichten der Anthologia Palatina76Anthologia PalatinaAP. IX 253 geschieht. Seine Liebe zu diesem Sklavenmädchen ist furtim (555), wie Athamas auch in anderen Texten Ino heimlich liebte, hinter dem Rücken seiner Frau Nephele77. Man kann sich fragen, wer für diese Liebe verantwortlich war: Athamas oder die Dienerin? Wer verführte wen?

Die SklavinSklavin, deren Name nicht genannt wird78, ist diejenige, die Athamas Inos IntrigeIntrige enthüllt, mit anderen Worten, sie beschuldigt Athamas’ Frau des Komplotts mit dem gedörrten Samen. Aber es wird nicht gesagt, warum und gegen wen Ino intrigiert hat; dies muss allen bekannt gewesen sein. Dieser Bericht steht im Gegensatz zu den Erzählungen (Fast. II 628OvidFast. II 628), in denen Ino selbst den Samen verbrennt, und ist denen (Fast. III 853)OvidFast. III 853 ähnlicher, in denen die Samen durch den Betrug der Stiefmutter gedörrt werden. Ovid verwendet dieselbe Tradition von Theon, wie sie Stephanos von Byzanz überliefert hat79 .

Ino leugnet die Tat80, aber die fama, nämlich das Gerücht, das Inos Geschichte nach der I-L-M-Version vorher verkündet hat, macht nun die I-P-H-Version bekannt. Fontenrose meint, diese Episode, wie die von Theon, sei möglicherweise die ursprüngliche Legende eines Mannes mit zwei Frauen; diesem Forscher gemäβ, „[it] probably represents a feature of the original legend in which the maidservant tried to influence Athamas against Ino either by telling some damaging truth about her or by deliberately lying“81; das heißt, dass die Dienerin sich nur wünscht, dass ihr Liebhaber sich mit seiner Frau zerstreitet, damit sie ihn ganz für sich hat.

 4’) Epilog: Das Gebet für die Nachkommenschaft der anderen

Ovid beendet diese Geschichte mit der Erklärung des Kultes der Matralia: Mutter MatutaMatuta wird seltsamerweise nicht als Mutter verehrt – sie sah ihren Sohn Learchos sterben und versuchte ihren Sohn Melikertes zu töten –, sondern als AmmeAmme, die sich um ihren Neffen Bacchus gekümmert hat. Die Mütter müssen deshalb für die Kinder anderer Person und nicht für ihre eigenen Kinder beten. Ovid sagt nicht, wie Plutarch82, dass sie für die Kinder ihrer Gewister beten müssen, sondern nur für alterius (561). Normalerweise wird es so verstanden, dass man für die Kinder der Schwester beten müsse, denn Ino war gut zu Bacchus, es wird aber gemeinhin vergessen, dass sie an der Jagd und dem Zerreißen ihres anderen Neffens Pentheus beteiligt war83. Das Wort felix (560) „a ici le sens actif (= propitia) comme dans l’expression VenusVenus felix“84. Dass Ino nicht glücklich gewesen ist, wird auch von Porphirios erwähnt85.

Der Text ist es wert, wie der in den Metamorphosen, ihn einer allgemeinen persönlichen Betrachtung zu unterziehen.

In den zwei großen Teilen, hier erste und zweite Abteilung genannt86, gibt es einige Züge, die entweder als parallel oder als entgegengesetzt gelten. Ovid präsentiert zwei Könige, den einen im ersten Teil (Servius Tullius, römisch) und den anderen im zweiten (Evander, griechisch). Der Dichter hält sich für den Wahrsager des ersten Teils, nämlich der Gegenwart, wie Carmentis die Wahrsagerin des zweiten Teils ist, nämlich der Vergangenheit, der Zeit von Ino87. Jupiters Ehefrau erscheint als Juno im ersten Teil. Es wird angenommen, dass sie durch die FurienFurien agiert, die auch Ino angreifen, wie sie nachher selbst Herkules gegenüber zugibt; im zweiten Teil erscheint sie, sogar physisch, als Saturnia und agiert durch die Mänaden. Dieser letzte Punkt ist sehr auffällig. Bekannt ist der bacchische furor der Mänaden, der Dienerinnen von Bacchus88; hier aber geht es um Bacchus’ AmmeAmme selbst und ihren zusammen mit dem neuen Gott erzogenen Sohn, die sie töten wollen! Der berühmte Ausdruck der Metamorphosen (IV 428) wird hier m.E. ganz und gar erfüllt: Juno benutzt die Waffen ihres Feindes; dort bezog sich das auf den Wahnsinn, hier auf seine Anhängerinnen.

Der einzige und bedeutsame Bezugspunkt zwischen dem zweiten und dem dritten Teil ist das Bild der Ino: Das Gerücht von Vers 527 stellt das positive Bild von Ino (I-L-M-Version) dar; der Ruf von Vers 557 präsentiert das negative Bild von Ino (I-P-H-Version). Ovid stellt beide Versionen zusammen, um zwei Eigenheiten des Kults von Mater Matuta zu erklären, aber er kümmert sich nicht darum, beide Erzählungen aneinander anzupassen: Er bietet sie nur nebeneinander dar und geht nicht weiter.

Der Text ist voll von Anrufungen: die guten Mütter, Bacchus, der kleine Learchos, Melikertes; Ino ruft die Götter und die Männer des Landes an; Ovid nimmt noch einmal den Faden der Erzählung auf und ruft Ino an; sie aber fragt die Weissagerin (Carmentis), die wiederum ihre Gesprächspartnerin anruft89. In Met. IV 416–542OvidMet. IV 416–542 werden Tantalos, Sisyphos (vom Erzähler), Athamas’ Diener (vom Aioliden), Melikertes (vom Erzähler) und Neptun (von VenusVenus) angerufen.

Die Gestalten, die sprechen – nie vor der Ankunft in Italien – und deren Worte überliefert sind, sind viele im Vergleich zu anderen Texten Ovids: Juno (als Saturnia) zu den Mänaden; Ino, zu den Göttern und den Männern des Landes; Herkules zu Ino (als Tante von Bacchus); Ino zur Weissagerin; Carmentis zu Ino und Melikertes.

Ovid stellt die Szenen dar, indem er abrupt die Aktion unterbricht und den Leser zu einem bestimmten Ort, ja zu einem neuen Gebiet des Mythos bringt: zum Forum Boarium in RomRom, neben dem Tiberstrom – in HellasHellas zur Klippe – in Rom zum Hain neben dem Tiber90. Das Raumspiel ist deshalb sehr wichtig: Forum Boarium – Tempel von Mutter MatutaMatuta – Athamas’ Haus – das von zwei Meeren umspülte Land – Mündungsgebiet des Tibers – Hain – Aventin – Carmentis’ Haus – Meer – Athamas’ Haus – Tempel von Mutter Matuta. Und die Bewegung ist wesentlich: die guten Mütter bleiben nahe – die Sklavinnen werden entfernt – Bacchus kommt zu Ino – Athamas wird gehetzt – Inos Lauf – die Fahrt auf der SeeSee – das Treffen mit den Mänaden – der Kampf zugunsten Melikertes – Herkules’ Ankunft – die Flucht der Mänaden – das Gerücht fliegt – Ino geht zu Carmentis – Leukothea und Palaimon werden auf dem Meer fahren – die Sklavinnen werden entfernt – Inos Dienerin geht zu Athamas.

Das arglistige, heimliche oder durch andere Figuren vermittelte Agieren häuft sich im Text. Athamas wird von den FurienFurien und durch ein Trugbild gehetzt, aber es ist Juno, die dahinter steckt – Saturnia taucht in einer anderen (deswegen falschen) Gestalt auf – Juno sagt, dass Ino falsch ist und sich als Freundin vorstellt, obwohl sie keine Freundin der Mänaden ist – Carmentis sagt voraus, aber dies scheint nur so: Der Gott spricht aus ihr – Man sieht Ino und Melikertes, aber sie sind die Gottheiten Leukothea-Mutter Matuta und Palaimon-PortunusPortunus – Athamas verliebt sich heimlich in eine Dienerin – Die SklavinSklavin enthüllt ihm Inos IntrigeIntrige – Man muss für die Kinder der anderen beten91.

Der Text ist voll von intertextuellen Hinweisen. Zunächst wendet sich Ovid an die guten Mütter und dann beginnt die echte Erzählung; aber sofort berichtet der Dichter eine ganz andere Geschichte (ferunt, Vers 479) und geht auf die Zeit der Könige zurück, eine Zeit, die der mythologischen Zeit der Helden und Götter sehr nah ist. Der Dichter kommt noch einmal zur Gegenwart zurück und ruft Bacchus an: Dies ist nicht Ovids Geschichte, sondern Bacchus‘, einer der wichtigsten Figuren dieses Berichts, obwohl der Leser nicht Bacchus’ Worte liest, sondern die Worte Ovids. Besser gesagt: Dies sind die Worte des von Bacchus geführten Dichters, weswegen der Gott noch ein zweites Mal angerufen wird. Die Erzählung wird fortgesetzt, Ovid spricht mit jeder Figur, die unter dem Bösen leidet, er redet nicht mit denen, die dieses Übel veranlassen. So wendet sich Ovid weder an JunoJuno noch an Athamas, der am Ende des Gedichts, in Vers 555, für improbus gehalten wird, noch an Ino in dieser Abteilung, denn auch sie wurde von den FurienFurien gehetzt, wie sie nachher zugibt, sondern an Learchos92 und Melikertes. Ovid berichtet die I-L-M-Version, von Athamas’ Wahnsinn und Learchos’ Tod bis zu Inos Sprung mit Melikertes ins Meer.

Ovid fährt mit der Geschichte fort, aber der Ton ist ab Inos Sprung ganz anders. Zunächst wird die unbeschwerte Reise von Ino und Melikertes dank Panope und ihrer Schwestern dargestellt; da beginnen die Worte, die bis jetzt nicht ausgesprochen worden sind, aufzutauchen; erst kommen sie indirekt vor, dann werden sie wortwörtlich berichtet. Die Gefahr ist jedoch nicht gebannt, denn die bösartige Macht der ersten Abteilung ist noch da, aber heimlich, weil sich alles geändert hat: Juno, als Saturnia betrachtet, das heißt, als Tochter von Saturn, der seine eigenen Kinder verzehrt, stachelt (der Name des Hains wies den Leser auf die Gefahr hin) die Mänaden an, Inos Sohn zu zerreißen. Nun spricht nicht Ovid, sondern Juno, und sie wendet sich nicht an den Leser, sondern an die Mänaden; Ovid versucht die Situation zu kontrollieren und ergreift das Wort, aber die Aktion ist stärker als er, seine Stimme geht im Geschrei der Mänaden unter. Dann ruft Ino die Götter und die Männer des Landes, und zwar diejenigen von RomRom, die die guten Mütter begleiten und an die der Dichter sich wendet. Inos Schreien wird gehört und der Held dieser Zeit, Herkules – der nicht Römer ist – tritt in Erscheinung; Ovid kann seine Erzählung fortsetzen. Herkules kommt herbei, die Mänaden flüchten und es herrscht wieder Ruhe. Dann fragt Herkules Ino, aber es ist Ovid, der antwortet, und nicht sie. Genauso wie Juno ihr Gesicht verbirgt, verbirgt Ino ihre Vergangenheit. Der Dichter ruft Athamas’ Ehefrau, wobei der Leser zu einer anderen Dimension der Geschichte geleitet wird: Ovid erzählt nicht den guten Müttern oder dem Leser Inos Geschichte, sondern ihr selber.

Ovid redet durch den Mund eines anderen: ferunt; rumor und nun diceris, traditur; der Sprecher bleibt unbekannt. Ovid ist nur ein Übertragungsweg, Leser oder Zuhörer einer Erzählung, die ihn überfordert. Diese unpersönlichen Subjekte, nämlich unbekannte Menschen einer mythologischen Zeit, lassen Ovid und seine Zeitgenossen vorbeiziehen: ‚Was damals passiert ist, erfahrt ihr, Römerinnen, auch heutzutage‘. Ovid spielt mit der Zeit. Rigoros bringt er die Zeitachse in Unordnung (535): ‘nunc’, ait‘o uates, uenientia fata resigna’.

Zwei Verse früher wurden auch mit einem nunc begonnen, aber dieses bezog sich auf seinen echten Inhalt, nämlich Ovids Zeit; am Anfang des Verses 535 ist das ‚jetzt‘ nicht real, sondern mythologisch, wie man dank des danebenstehenden ait bemerkt. Dies ist das ‚nun‘ der Weissagerin und nicht das der guten Mütter, es ist die Gegenwart der Vergangenheit. Aber diese Vergangenheit, die Gegenwart geworden ist, bleibt nicht bei sich selbst, sondern sie richtet sich wie von einer Schleuder geworfen an die Zukunft, bzw. an die Vergangenheit und die Gegenwart der guten Mütter und der Männer des Landes in der Zeit von Ovid.

Der Dichter führt noch einmal die Erzählung weiter und schildert die Umstände. Aber sofort ergreift wieder die Prophetin das Wort und beginnt laeta (541) zu singen und von der Zukunft zu sprechen, die Ovids Leser gegenwärtig ist. Wichtig ist, zu beachten, dass eigentlich nicht Carmentis weissagt, sondern der Gott, von dem sie besessen ist und dem sie nur die Stimme leiht. In diesem Moment geschieht die Enthüllung der Namen, die den griechischen Ursprung preisgibt und die lateinische Gegenwart von Ino und Melikertes verrät. Ovid endet mit der Vergangenheit, nachdem die Gestalten ihren Namen geändert haben, und er führt sie bis zum Leser, bis zur Gegenwart (550): … hic deus, illa dea est.

In diesem Augenblick bricht die Rede ab und eine Antwort taucht auf, zu der nie eine Frage gestellt worden war: Ovid führt die guten Mütter in die Erzählung ein und stellt den Text als einen Dialog dar, von dem nur die Worte einer Gesprächspartnerin festgehalten sind; so findet die ‚Unterhaltung‘ mit Ino statt. In der Tat antwortet Ovid den guten Müttern, indem er Ino erzählt, was bei ihr eigentlich geschah; denn die Dienerin, die zur Geliebten Athamas’ wurde, war Inos und nicht Athamas’ SklavinSklavin. Der Aiolide ist untreu und heuchlerisch, weil er diese Verliebheit zuließ; er handelte nicht offensichtlich, sondern heimlich, wie Saturnia in Semeles Hain. Dann antwortet Ovid, indem er immer noch zu Ino, und zu den guten Müttern spricht, tritt in Athamas’ Haus ein und hört, wie die Dienerin Athamas die Arglist hinsichtlich des gedörrten Samens enthüllt. Die Stimmen erheben sich überall: Die Dienerin verrät Athamas Inos IntrigeIntrige; Ino leugnet es, aber der Ruf, die Sage, nimmt es an. All dies bringt Ovid zur Sprache, der auf eine Frage antwortet, und die guten Mütter sind die Zuhörer der Antwort. Einfach genial!

Darüber hinaus kann man eine gewisse Ringkomposition des Chors in diesem letzten Teil feststellen: Mütter – Ovid – Ino – Dienerin / Athamas / Ino / Ruf – Ino – Ovid – Mütter. Es scheint, dass der Dichter die Frage von den guten Müttern gestellt bekommt, aber er antwortet nicht ihnen, sondern Ino (558): hoc est cur odio sit tibi serua manus. Ovid nimmt das Wort wieder auf und mahnt die frommen Mütter: Sie (hier ergreifen sie noch einmal das Wort) müssen die Kinder anderen Leuten übergeben, denn utilior Baccho quam fuit illa suis (562). Und der Text schließt mit Bacchus, der als erster in der Textstelle angerufen wurde.

Interessant ist es, an dieser Stelle die in den Metamorphosen und den Fasten berichtete Erzählung der I-L-M-Version schematisch zu vergleichen, worauf Bömer in seinem Kommentar hinweist93:


Metamorphosen Fasten
IV VI
IV VI 485–488 Junos Zorn, quod Ino paelice natum educet (4)
IV 432–473 Juno in der Unterwelt (41½)
IV 473–511 Tisiphone (38½)
IV 512–562 Athamas und Ino (51) VI 489–502 Athamas und Ino (14)
512–519 Athamas und Learchos (7½) 489–490 Athamas und Learchos (2)
519–542 Ino und Melikertes (23½) 491–502 Ino und Melikertes (12)
543–562 Die comites der Ino (20)

Offensichtlich sollten auf Grund der in jeder Abteilung verwendeten Verse Junos Zorn, Athamas’ Wahnsinn und Inos Sprung in den Fasten als „Vorspiel (22 Verse) zu einer ausführlichen Erörterung der Situation im römischen Kult (48 Verse)“94 angesehen werden. In den Metamorphosen aber hat die Darstellung dieser Ereignisse einen epischen Ton. Auffällig ist, dass Ovid mehr als die Häfte der Geschichte (80 Verse von 147, wenn man die Szene der sidonischen Frauen mit eingeschließt) für Junos Reise in die Unterwelt und Tisiphones Angriff aufwendet. Wenn zu dieser Überlegung von Bömer auch die 20 Verse des in diesem Buch genannten ‚Anhangs‘ hinzugefügt werden (nämlich die Bestrafung der sidonischen Gefährtinnen von Ino), ergibt sich, dass mehr als 2/3 der ganzen Gechichte zu Szenen gehören, die sich nicht in der Tradition des Mythos befinden. Bömer meint abschließend, „diese neuen Szenen hier einzufügen war höchstwahrscheinlich Ovids eigene Konzeption“95.

Beide Texte haben unterschiedliche Ziele, weswegen sie sich auf unterschiedliche Aspekte konzentrieren: In den Metamorphosen werden Athamas’ Wahnsinn und Inos und Melikertes’ Divinisierung erzählt; in den Fasten aber soll der Kult zu Ehren von Mater Matuta in ihrem römischen Tempel im Forum Boarium berichtet werden, weswegen alles, was hier ‚I-L-M-Version‘ genannt wird, nur ein Prolog des echten Interesses von Ovid ist, nämlich die AbenteuerAbenteuer von Ino und Melikertes nach ihrem Sprung zu erzählen und noch konkreter ihre Erlebnisse in dem Gebiet, das eines Tages RomRom heißen wird.

Bemerkenswert ist es nun, die großen Unterschiede in der Zusammenfassung beider Textstellen zu beachten. In den Metamorphosen prahlt Ino mit ihrer Beziehung zu Bacchus und zu ihren Schwestern96; in den Fasten begründet Ovid selbst die gute Tat von Ino, nämlich die, auf ihren Neffen aufzupassen, nachdem ihre Schwester SemeleSemele verbrannt starb (demütiges Bild von Ino). In den Metamorphosen beklagt sich Juno aus vollem Hals97 über verschiedene Beleidigungen und sie betont Athamas’ Stolz und Inos Schmach; in den Fasten, in denen bis zur Ankunft von Ino und Melikertes in Italien keine Unterhaltung mit genauen Worten stattfindet – das heißt, dass man sich schon außerhalb der üblichen I-L-M-Version befindet –, bietet man nur ein Motiv für Junos Zorn an: Bacchus’ Erziehung (positives Bild von Ino). In den Metamorphosen schickt Tisiphone Athamas und Ino den Wahnsinn; in den Fasten ergreift der Irrsinn Athamas, aber man sagt nicht explizit – alles weist auf Juno hin –, wer ihn geschickt hat. In den Metamorphosen beschreibt Ovid ausführlich und auf grausame Art Learchos’ Tod; in den Fasten wird er kaum angedeutet. In den Metamorphosen lässt Ino Learchos unbestattet; in den Fasten begräbt Ino die Leiche ihres ältesten Sohnes (frommes Bild von Ino). In den Metamorphosen bittet VenusVenus Neptun, dass er ihre Nichte und ihren Urenkel zu Seegöttern macht, und Neptun gewährt ihr die Bitte; in den Fasten bittet kein Gott für Ino und Melikertes. Panopes (kleine Gottheit) Eingriff ist nur sehr kurz. In den Metamorphosen besteht man auf Grausamkeit und auf Tod; in den Fasten werden alle blutrünstigen Merkmale vermieden.

Letztendlich schließt Bömer (treffend m.W.): „So besteht kein Gegensatz zwischen den Met. und den Fasten, die Divergenzen gehen nicht auf verschiedene Versionen zurück, sondern auf die unterschiedliche Form und Intention der beiden Darstellungen“98. In den Metamorphosen will Ovid ja Junos Grausamkeit schildern, in den Fasten aber will er nur auf die am Anfang der Geschichte gestellten Fragen antworten.

I.3 Ibis
I.3.1 IbOvidIb. 277–278. 277–278

Diese Textstelle deutet auf die wunderbare, von Ino-Leukothea geleistete Hilfe in OdHomerOd. V 333–353. V 333–353 hin. Ino wird als Semeles Schwester dargestellt, womit es sehr wahrscheinlich ist, dass Ovid dem gebildeten Leser einen Hinweis auf das Motiv der Divinisierung Inos gibt, nämlich den, dass sie Dionysos’ AmmeAmme war.

Ganz anders verstehen die Scholien (Schol. in Ou. Ib. 277 La PennaScholia zu OvidSchol. in Ou. Ib. 277 La Penna) diesen Text, die übrigens zwei interessante Angaben anbieten. Die erste auffällige Angabe ist die Begründung der von Ino geleisteten Hilfe an Ulixes, ein Grund, der mit Porphyrios und Eustathios nicht übereinstimmt: Ulixes war ein Verwandter von Ino. Die Verbindung dieser Verwandschaft ändert sich je nach Handschrift. In P[EC] ist Ulixes ein direkter Verwandter von Ino; wie sie verwandt sind, wird nicht gesagt. In den anderen Fällen wird Ulixes Athamas’ Familie zugeordnet. In B(a*) wird nicht gesagt, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie stehen; in G und in Z ist er ein Neffe Athamas‘. Im ersten Fall wird er als Sisyphos’ Sohn bezeichnet; im zweiten als Sohn von Laërtes, der als Aiolos’ Sohn und Athamas’ Bruder angesehen wird, eine Angabe, die von keinem anderen Beleg weder in der griechischen noch in der lateinischen Literatur bestätigt wird. In C(FD*) wird Ulixes zum Sohn der Nichte von Athamas, obwohl der Scholiast davon berichtet, dass viele glauben, er sei Sisyphos’ Sohn, wie es auch in G zu lesen ist. Auf jeden Fall eilte Ino Ulixes zu Hilfe, weil sie beide irgendwie verwandt waren.

Die zweite wichtige Angabe dieser Scholien ist die Erwähnung des zweiten Schlüsselpunkts der I-L-M-Version, nämlich Inos Sprung. In der Spur von Frg. 275 SHKallimachosFrg. 275 SH von Kallimachos und von Frg. 12 BlänsdorfLaeviusFrg. 12 Blänsdorf von Laevius wird in diesen Versen beteuert, dass Ino im Wahnsinn gesprungen ist. Nichts wird über Athamas’ Verfolgung berichtet. Darüber hinaus will der Scholiast m.E. ausdrücken, dass Inos Zustand allein ihren Sprung berechtigt, und eine Verfolgung durch ihren Mann als Begründung nicht notwendig ist.