Buch lesen: «Planet der Magie», Seite 4

Schriftart:

Der Auftrag der Karaquz

Die borkenartigen Früchte lagen in einer süßlich riechenden Brühe, auf deren Oberfläche Fettflecke trieben. Drei dampfende Terrinen mit diesem Gericht brachten die Karaquz in die Unterkunft. Auch Löffel hatte man nicht vergessen, und kleine Tücher, die wohl als Servietten dienen sollten.

„Ich hoffe, man weiß hier, was für einen Menschen genießbar ist“, sagte Macay und sah misstrauisch in seine Terrine.

Rall stach mit dem Löffel in eine Frucht. Sie war weich und ließ sich leicht zerteilen. Das Innere sah allerdings auch aus wie Baumrinde, was nicht gerade appetitanregend war. „Schmeckt nach nichts“, stellte er nach dem ersten Bissen fest. „Aber die Brühe könnte verdünnter Honig sein. Sehr aromatisch.“

Sie saßen in einem fensterlosen Raum, der mit drei einfachen Betten, einem Tisch und Stühlen eingerichtet war. Für Licht sorgte eine schalenförmige Lampe unter der Decke, in der eine Flamme brannte.

„Ich bin froh, dass man uns kein Fleischgericht gebracht hat“, sagte Macay und begann ebenfalls, zu essen. „Glaubt ihr dem Ratsherrn, was er über die Iyllas gesagt hat?“

„Warum sollte er uns anlügen? Was wir von ihm über die Rolle der Karaquz auf dieser Welt erfahren haben, muss allerdings nicht die Wahrheit sein.“

„Es klang logisch, so wie er es erklärt hat.“

„Alles, was er sagt, ist logisch und durchdacht“, sagte Zzorg. „Wir haben die Händler vor der Kegelstadt gesehen. Aber es waren nicht so viele, wie ich es bei dem Handelszentrum eines ganzen Kontinents erwarten würde. Weder die Konvois mit Waren, noch die vielen anderen Städte der Karaquz haben wir mit eigenen Augen gesehen. Also sollten wir vorsichtig sein mit unseren Schlussfolgerungen.“

„Welchen Schlussfolgerungen?“, fragte Rall.

„Der Ratsherr stellt uns die Karaquz als mächtig und reich dar. Auf die Frage nach Feinden hat er ausweichend geantwortet. Ebenso ist er nur am Rande auf den Herrscher im Norden des Kontinents eingegangen, der die Jagd auf Menschen angeordnet haben soll.“

„Mir ist noch etwas Anderes aufgefallen“, sagte Macay, als seine Terrine leer war. „Als ich sagte, dass wir magisch begabt sind und es auf Bundara Magie geben soll, hat er das Thema gewechselt. Dann hat er uns weggeschickt.“

„Ich glaube, er braucht unsere Hilfe. Das bringt uns in eine gute Verhandlungsposition.“

„Wir werden morgen hören, was der Ratsherr vorschlägt“, sagte Macay. Er gähnte. „Stellen wir heute Nacht Wachen auf?“

„Unnötig. Wir sind mitten in der Kegelstadt. Fremde kommen hier nicht herein, dazu ist die Stadt zu gut bewacht. Und falls die Karaquz uns umbringen wollen, hätten wir sowieso keine Chance.“

Sie legten sich schlafen. Das Licht unter der Decke brannte weiter.

Als Macay erwachte, war es dunkel. Er hörte die Atemzüge seiner beiden Freunde und fragte sich, was ihn geweckt hatte.

Ein schabendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen. Nicht sehr laut, aber eindringlich. Macay versuchte sich zu erinnern, wie der Raum eingerichtet war. Das Geräusch kam aus der Richtung, in der die Tür sein musste.

Vorsichtig stand er auf und tastete sich durch die Dunkelheit. Sollte er seine Freunde wecken? Vorerst nicht. Vielleicht war es nur eine Wache der Karaquz, die sich draußen gegen die Tür lehnte und dabei hin und wieder bewegte.

Nachdem er die Wand erreicht hatte, tastete Macay nach der Tür. Sie musste ein oder zwei Schritte links von ihm sein. Als er die Hand ausstreckte, um den Türrahmen zu suchen, öffnete sich die Tür einen Spalt weit. Ein schwacher Lichtschein fiel in den Raum. Da Macay auf der Seite der Türangeln stand, konnte die Person draußen ihn nicht sehen.

Macay atmete flach und hob die Faust, um schnell zuschlagen zu können.

Die Tür wurde weiter aufgedrückt, eine Gestalt in einem grauen Umhang kam herein. Sie hatte die Größe eines Karaquz-Arbeiters, war aber nicht so schmächtig.

Durch die Tür drang genügend Licht, um sich im Raum orientieren zu können. Der Eindringling sah, dass von den drei Betten nur zwei belegt waren. Als ahne er im selben Moment Macays Gegenwart, fuhr er herum und griff mit bloßen Händen an. Allerdings mit einer Präzision, die langes Training erfordern musste.

Macay spürte, wie ihn ein leichter Schlag traf, der ihn gegen die Wand stolpern ließ. Ein stärkerer Schlag schickte ihn keuchend zu Boden.

Als er sich aufrichtete, war es wieder dunkel. Die Tür war geschlossen. Befand sich der Angreifer noch im Raum?

„Was ist geschehen?“, fragte Rall aus der Dunkelheit.

„Jemand ist hereingekommen“, sagte Macay. „Vielleicht ist er noch hier.“

Sekunden später erhellte ein rötliches Leuchten den Raum. Zzorg stand kampfbereit neben seinem Bett, die Hände schalenförmig vor den Bauch haltend. Zwischen ihnen glomm ein magisch erschaffener kleiner Feuerball.

Macay sah sich um. Kein Fremder war im Zimmer.

„Hast du schlecht geträumt?“, fragte Rall anzüglich.

„Nein.“

Neben der Tür lag etwas auf dem Boden, das vorher nicht dort gewesen war. Macay bückte sich danach. Es war ein gefaltetes Stück Papier.

„Eine Nachricht in Menschenschrift“, sagte er.

„Lies vor!“

Nehmt den Auftrag der Karaquz an. Meidet Merimain. Sucht das versteckte Tal“, las Macay vor.

„Steht ein Name darunter?“

„Nein. Aber unser Besucher muss ein Mensch gewesen sein.“

„Hier in der Stadt leben keine Menschen mehr, behauptet der Ratsherr“, sagte Zzorg. „Also war es entweder kein Mensch oder der Ratsherr lügt.“

„Eine dritte Möglichkeit ist, dass es hier Menschen gibt, von denen der Ratsherr nichts weiß.“

„Glaubst du wirklich, das ist möglich? Bei den vielen Wachen und dem besonders gesicherten Zugang zu dem inneren Bereich, in dem wir uns befinden?“

„Wir wissen nur, was wir gesehen haben“, sagte Rall. „Befolgen wir die Hinweise, die auf dem Zettel stehen?“

„Zunächst müssen wir herausfinden, was Merimain ist und was es mit dem versteckten Tal auf sich hat. Warten wir ab, was der Ratsherr uns morgen zu sagen hat.“

„Also legen wir uns wieder schlafen“, sagte Rall gähnend.

Das Frühstück, das man ihnen brachte, bestand wieder aus den gekochten Borkenfrüchten. Diesmal jedoch in einer dunklen Brühe, die nach Fleisch schmeckte.

Macay musste sich überwinden, davon zu essen. „Wenn die Karaquz keine Iyllas essen, welches Fleisch dann?“, fragte er.

„Es werden unzählige Waren in die Stadt geliefert. Da gehören sicherlich auch haltbar gemachte Fleischprodukte dazu. Außerdem haben wir Tiere auf den Weiden hier in der Nähe gesehen. Also iss!“

Es brannte wieder Licht in der Schale an der Decke. Der Karaquz, der das Frühstück gebracht hatte, war offenbar über die Dunkelheit in dem Raum erstaunt. Er sagte etwas in der knarrenden Stimme seiner Rasse und ging davon. Doch schon Minuten später erschien er wieder - oder war es ein anderer Karaquz? - und entzündete die Flamme in der Schale. Dazu benutzte er eine lange, gebogene Stange, an der er mit Draht ein Stück Glut befestigt hatte.

Kaum waren die drei Freunde mit dem Essen fertig, kamen Soldaten und führten sie zum Ratsherrn. Der erwartete sie gegen das Lesepult gelehnt, als habe er sich seit dem Vortag nicht bewegt.

„Ich hoffe, die Nahrung war euch zuträglich und das Zimmer angenehm“, begann er. „Während der Nacht habe ich mich mit meinen Kollegen in den anderen Städten darauf geeinigt, dass wir eure Dienste in Anspruch nehmen. Wir erteilen euch einen ehrenvollen Auftrag. Dieser ist nicht nur in unserem Interesse, sondern er führt euch bis an die südliche Küste. Um das Raumschiff zu erreichen, mit dem die ersten Menschen nach Bundara gekommen sind, müsst ihr über das Meer reisen. Als Dank für eure Dienste werden wir euch helfen, eine Schiffspassage zu finden und zu bezahlen.“

„Das ist ein großzügiges Angebot“, sagte Macay. „Doch bevor wir es annehmen, müssen wir wissen, um was es sich bei dem ehrenvollen Auftrag handelt.“

„Selbstverständlich. Kommt näher heran, ich habe hier eine Karte des Kontinents Kirenli, auf dem wir uns befinden.“

Neugierig ging Macay zu dem Lesepult, von dem er bisher einige Schritte Abstand gehalten hatte. Ein seltsames Kribbeln und eine gewisse Benommenheit befielen ihn. Doch er drängte diese Gefühle beiseite, ohne sie weiter zu beachten.

Der Begriff Karte war eine Übertreibung für das, was der Ratsherr ihnen zeigte. Auf einem Blatt waren die groben Umrisse eines Kontinents zu sehen. Weite Bereiche im Osten und Westen waren leer. Nur in der Mitte und im Süden waren einige Details eingezeichnet. Mehrere flache Kegel stellten Städte der Karaquz dar. Einer davon war vergoldet und zeigte vermutlich die Stadt, in der sie sich momentan aufhielten. Die anderen wiesen entweder einen silbernen oder kupfernen Farbton auf. Nördlich der goldenen Kegelstadt gab es keine weiteren Städte der Karaquz.

„Was ist das?“, fragte Zzorg und zeigte auf einen Fleck im Norden.

„Eine Stadt, die nicht zu unserem Einflussbereich gehört. Es gibt keine Handelsbeziehungen dorthin.“

„Die Stadt des Herrschers im Norden?“

„Ja.“ Der Ratsherr deutete nach Süden. „Dorthin führt euer Weg. Bis in die Nähe dieser Küstenstadt. Dabei kommt ihr an mehreren unserer Städte vorbei.“ Er zeigte die Kegel auf der Karte. Sie lagen westlich von der direkten Verbindung zwischen der goldenen Kegelstadt und der Küste.

„Was stellen die grauen Flecke dar?“, fragte Rall.

„Städte anderer Rassen. Besser, ihr meidet sie. Menschen sind nirgendwo willkommen.“

„Muss ich weiterhin eine Maske tragen?“, fragte Macay.

„Unbedingt. Allerdings habe ich schon den Auftrag erteilt, eine bessere Maske anzufertigen. Eine, die nicht sofort als Machwerk der Iyllas zu erkennen ist.“

„Wissen Sie, warum der Herrscher im Norden so versessen darauf ist, Menschen töten zu lassen?“

„Seine Motive können nicht rationaler Natur sein. Sie erschließen sich mir nicht. Aber nun zurück zu dem Auftrag, den wir euch erteilen möchten.“

„Mit dem Wort wir meinen Sie sich und die Ratsherren anderer Städte der Karaquz“, stellte Zzorg fest.

„Das sagte ich bereits.“

Zzorg zeigte auf die Karte. „Wie konnten Sie sich innerhalb weniger Stunden über solche Distanzen mit ihnen verständigen?“

„Wir verfügen über Methoden, die uns von Entfernungen unabhängig machen.“

„Die Karaquz beherrschen Magie!“, sagte Macay überrascht.

„Nicht so wie ihr. Wir können weder Feuerbälle auf unsere Gegner schleudern, noch mit Hilfe der Magie Kranke heilen. Allerdings verfügen manche von uns über angeborene Talente. Was mich auf die Frage bringt: Könnt ihr eure magischen Fähigkeiten auf Bundara überhaupt einsetzen?“

„Ich habe bei den Iyllas versucht, Macay zu heilen“, sagte Rall. „Die Kräfte, über die ich auf unserer Heimatwelt verfügt habe, scheinen hier nur in geringem Umfang vorhanden zu sein.“

Zzorg hielt seine verstümmelte rechte Hand hoch. „Bei der Feuermagie spielen die Hände eine wichtige Rolle. Aufgrund meiner Verletzung bin ich eingeschränkt.“

„Übt täglich“, riet der Ratsherr. „Ihr werdet sicherlich Gelegenheit finden, euch zu erproben auf eurem Weg nach Süden. Nun, die Reiseroute habe ich euch gezeigt ...“

„Eine Bitte noch“, sagte Macay schnell. „Nennen Sie uns die Namen und die Besonderheiten der Städte anderer Rassen entlang unseres Wegs.“

„Neugierde scheint eine vorherrschende Eigenschaft der Menschen zu sein. Man könnte über jede dieser Städte viele Stunden lang reden. Ich nenne euch nur Stichworte.“

Der Ratsherr deutete auf den der goldenen Kegelstadt nächstliegenden grauen Fleck. „Eereba: eine Siedlung von geringer Größe, die von der Holzwirtschaft lebt. Bei Eereba beginnen große Waldgebiete. Origelar: bekannt für Handwerk und Kunstgegenstände. Zaroba liegt am Rande des westlichen Gebirges. Dort wird das Erz aus dem Gebirge geschmolzen und verarbeitet. Eine riesige Stadt, schmutzig und laut. Die meisten Gerätschaften und Waffen werden dort hergestellt. Duckum verarbeitet Nahrungsmittel aus den umgebenden Anbaugebieten und macht sie haltbar.“

Der alte Karaquz beschrieb noch etliche weitere Städte auf dem Kontinent. Schließlich beendete er seine Aufzählung mit: „Merimain ist das Ziel eurer Reise. Ein großer Hafen an der Südküste. Dort werden wir euch als Dank für eure Hilfe eine Passage auf einem Handelsschiff besorgen.“

Macay sah verstohlen zu seinen beiden Freunden. Meidet Merimain hatte auf dem Zettel gestanden. Er wagte es nicht, sich genauer nach der Hafenstadt zu erkundigen, weil er es auch bei den anderen Städten nicht getan hatte. Es wäre dem Ratsherrn aufgefallen.

„Wohin bringt uns das Schiff?“, fragte er stattdessen.

„Zu dem südlich gelegenen Kontinent Quara, auf dem das Raumschiff der Menschen sich befindet. Genauer gesagt soll es auf einer Insel gelandet sein, die vor der Ostküste Quaras liegt.“

„Wie lange dauert die Seereise?“

„Das hängt vom Schiffstyp ab. Vier bis sechs Wochen. Aber darüber könnt ihr euch Gedanken machen, wenn ihr Merimain erreicht habt.“

„Sie haben Recht. Bitte erklären Sie uns, was die Karaquz von uns erwarten.“

„Wir reden nicht gerne darüber. Die Sicherheit unserer Konvois ist Teil unseres guten Rufes und damit eine der Grundlagen unseres Wohlstandes. Leider werden immer wieder schwer bewachte Konvois überfallen und beraubt. Insbesondere in dieser Gegend.“

Der Ratsherr zeigte zwischen die Städte Origelar und Duckum. „Die übliche Strecke führt westlich an beiden Städten vorbei, wobei Duckum eine Ausnahme ist, über die ich hier nicht sprechen will. Die Beschaffenheit des Geländes macht eine direkte Fahrt zwischen unseren Kegelstädten beschwerlich. Wir benutzen daher die normalen Verkehrswege. Gegen ein gewisses Entgelt, versteht sich, denn diese Straßen hat man speziell für unsere schweren Wagen ausgebaut. Das Gebiet nahe Origelar ist hügelig und stark bewaldet.“

„Es bietet also Räubern ein ideales Versteck.“

„So ist es.“

Zzorg sah sich die Karte an, sagte dann aber: „Sie haben vorhin die Formulierung gebraucht, die Konvois würden beraubt. Bedeutet das, dass sie nicht völlig ausgeraubt werden?“

„Sehr gut aufgepasst! Die Konvois sind bis zu zwei Meilen lang. Die Räuber konzentrieren sich immer nur auf einen oder zwei Wagen, die sie auch nur teilweise ausrauben. Bis Verstärkung aus dem übrigen Konvoi herankommt, sind die Räuber mit ihrer Beute wieder verschwunden.“

„Sie nehmen sich nur so viel, wie sie schnell abtransportieren können.“

„Richtig.“

„Haben es die Räuber auf bestimmte Dinge abgesehen?“

„Leider ja. Sie scheinen ein gutes Gespür dafür zu haben, auf welchen Wagen wertvolle Ladung transportiert wird.“

Macay sah den Ratsherrn aufmerksam an. „Ein gutes Gespür nennen Sie das?“, fragte er. „Ich halte das für einen eindeutigen Hinweis auf Verräter aus den eigenen Reihen.“

Der Ratsherr richtete sich auf. Er wich einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Bewegung mit seinem gesunden linken Arm, als wollte er einen Angriff abwehren. „Nur Karaquz kennen die Ladung der Wagen. Kein Karaquz kann sein Volk verraten.“

„Kein Karaquz würde sein Volk verraten, glauben Sie?“

„Nein. Kein Karaquz kann sein Volk verraten.“

„Wie dem auch sei“, ging Rall dazwischen. „Gibt es sonstige Hinweise, aus denen ein Räuber auf den Wert einer Ladung schließen könnte? Zum Beispiel eine besonders starke Bewachung bestimmter Wagen?“

„Wir vermeiden solche Auffälligkeiten, weil uns dieser Gedanke natürlich auch schon gekommen ist.“

„Unsere Aufgabe besteht also darin, diese Strecke zu bereisen und nach den Räubern zu suchen.“

„Ihr sollt den nächsten Konvoi begleiten. Wir haben einige sehr wertvolle Gegenstände, die wir nach Süden bringen. Es kann sein, dass dies die Räuber anlockt.“

„Wann fährt der Konvoi ab?“

„Morgen.“

„Eines möchte ich aber vorher noch wissen“, sagte Zzorg. „Wie gehen die Räuber bei den Überfällen gewöhnlich vor?“

Nun streckte der Ratsherr den gesunden Arm in einer pathetischen Geste von sich. „Wir wissen es nicht!“, sagte er. „Der Konvoi gerät plötzlich ins Stocken. Man kontrolliert die Wagen, findet einen teilweise geplündert und daneben liegen unsere Soldaten tot am Boden.“

„Wenn die Soldaten tot sind, haben sie gekämpft. Wenn sie gekämpft haben, gab es auch Opfer unter den Räubern. Wie sehen sie aus?“

„Wir wissen es nicht“, wiederholte der Ratsherr. Er behielt die merkwürdige Haltung bei, die offenbar seine Hilflosigkeit ausdrückte. „Nie haben wir einen getöteten oder auch nur verwundeten Räuber bei einem ausgeraubten Wagen gefunden. Es ist gerade so, als würden sie gar nicht existieren.“

Der Konvoi

Menschen und Karaquz wirkten klein neben den Zugtieren. Diese Kolosse waren drei Meter lang und zwei Meter hoch. Ihre massigen, fetten Körper warfen Speckfalten. Trotz der stämmigen Beine sahen sie nicht so aus, als könnten sie tagelang oder wochenlang die Wagen ziehen, vor die man sie spannte. Denn auch die Wagen waren ungewöhnlich groß. Doppelt so lang wie gewöhnliche Fuhrwerke, die Macay von seiner Heimatwelt kannte, und auch um einiges breiter. Drei Radpaare mit flexibler Aufhängung ermöglichten es ihnen, auch über Hindernisse zu rollen, ohne dass Gefahr bestand, zu kippen.

„Cayas heißen diese Zugtiere bei den Bewohnern südlicher Städte“, erklärte der Ratsherr. „Unseren Namen für sie könnt ihr nicht aussprechen. Sie sind ausdauernd und genügsam. Solange das Männchen dabei ist, lassen sie sich leicht lenken.“

„Das Männchen?“, fragte Macay.

„Es läuft in der Mitte der vier Weibchen“, sagte der Ratsherr. „Du musst dich bücken, dann kannst du es zwischen ihren Beinen hindurchsehen. Es ist klein.“

Jeweils vier Zugtiere waren paarweise vor die Wagen gespannt. Macay, Rall und Zzorg bückten sich gleichzeitig und staunten das Tier an, das eingezwängt zwischen den vier mächtigen Weibchen stand. Es war deutlich kleiner als sie, schmal und ohne die Speckwülste.

„Es sieht aus wie ein kleines Pferd, nur dass es nicht so behaart ist“, sagte Rall.

„Eher wie ein großer Hund“, schlug Macay vor. „Sieh dir seine Zähne an.“

„Die Männchen der Cayas sind Fleischfresser, während die Weibchen Gras fressen“, fuhr der Ratsherr fort. „Deshalb lässt man die Weibchen unterwegs grasen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Das Futter für die Männchen wird in jedem Wagen mitgeführt. Wenn sie satt sind, bleiben sie friedlich, solange sie mehrere Weibchen um sich haben. Allerdings dürfen sie nicht die Nähe eines anderen Männchens spüren.“

„Warum nimmt man sie überhaupt mit?“

„Die Weibchen gehorchen sonst nicht. Der Fahrer eines Wagens lenkt nur das Männchen mit Hilfe von Zügeln. Die Weibchen passen ihre Bewegungen den seinen an.“

Sie standen in einer riesigen Halle im südlichen Teil der goldenen Kegelstadt. Hier belud man die Wagen und spannte die Cayas an. Die Wagen standen gut einhundert Meter auseinander, daher passten immer nur drei in die Halle hinein. Zahllose Arbeiter der Karaquz wimmelten umher. Zwischen ihnen ragten Soldaten mit ihren Speeren empor.

„Warum werden nicht mehr Wagen gleichzeitig beladen?“, fragte Macay.

„Der Abstand zwischen den Wagen muss unter allen Umständen gewahrt werden. Wird dieser Mindestabstand unterschritten, spüren die männlichen Cayas ihre Rivalen und werden wild. Das wiederum macht die Weibchen wild. Sie reißen sich los oder werfen den Wagen um.“

„Man hat also bei einem langen Konvoi immer nur einige wenige Wagen im Blick“, sagte Rall. „Das erleichtert natürlich Räubern den Zugriff.“

„Es lässt sich nicht vermeiden. Zwar gibt es Rassen kleiner, friedlicher Zugtiere. Aber sie sind nicht ausdauernd genug, um große Lasten über lange Strecken zu ziehen.“

Ein Karaquz in einem schweren, dunkelbraunen Lederharnisch kam auf die Gruppe zu.

„Das ist der Offizier, der für die Bewachung des Konvois zuständig ist“, sagte der Ratsherr. Er sprach ein paar knarrende Sätze in seiner Sprache zu dem Offizier. Der musterte Rall und Zzorg nur kurz - jedenfalls, soweit man das Flimmern seiner Augenflächen interpretieren konnte -, aber Macay umso länger.

Das mochte an der Maske liegen, die Macay trug. Sie ähnelte zwar derjenigen, die er von den Iyllas bekommen hatte. Aber sie wirkte echter und war über elastische Bänder an seinem Hinterkopf befestigt. Er musste nicht die Kapuze aufhaben, um sie zu tragen. Außerdem hatte ihm der Ratsherr ein paar Handschuhe gegeben. Sie waren auf den Handrücken mit Fell besetzt. So war der Gesamteindruck stimmiger, den ein Fremder von Macay gewinnen musste. Aus der Nähe würde jedoch nach wie vor jeder bemerken, dass er es mit einem Maskierten zu tun hatte.

„Dieser Offizier befehligt zweihundertfünfzig berittene Soldaten“, erklärte der Ratsherr. „Die Aufteilung ist wie folgt: Dreißig Soldaten bilden eine Vorhut und erkunden, ob der Weg frei ist. Sie verfügen über besonders schnelle Reittiere. Zwanzig Soldaten bilden eine schwer gepanzerte Nachhut. Auf jedem Wagen sitzen außer dem Fahrer auch fünf Soldaten. Wir schicken zwanzig Wagen mit diesem Konvoi los. Die übrigen Soldaten patrouillieren entlang des Konvois.“

„Was ist für uns vorgesehen?“, fragte Macay.

„Wir stellen euch Reittiere zur Verfügung. Falls ihr es aber für sinnvoller erachtet, könnt ihr auch auf den Wagen mitfahren. Ihr seht, dass hinter der überdachten Sitzbank des Fahrers, auf der auch die Soldaten sitzen, weitere Plätze für Passagiere vorhanden sind. Manchmal nutzen Reisende unsere Konvois, um unsichere Gebiete zu durchqueren.“

„Wir werden reiten. Welches ist der Wagen mit der wertvollsten Ladung?“

„Es wird zwei solcher Wagen geben, die im letzten Drittel des Konvois fahren. Der Offizier wird sie euch zeigen, sobald der Konvoi abfahrbereit ist.“

„Was haben sie geladen?“

„Handelswaren, die aus unterschiedlichen Gründen im Süden besonders gute Preise erzielen. Welche Preisspannen das sind, spielt für uns keine Rolle. Die Waren gehören nicht uns, sondern den Händlern, die uns mit dem Transport beauftragt haben.“

„Wer trägt den Verlust, falls diese Waren bei einem Überfall verlorengehen?“, wollte Zzorg wissen.

„Wir. Wenn wir einen Transportauftrag übernehmen, so ist dies ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der Händler bezahlt uns für den Transport seiner Waren; wir verpflichten uns, bei ihrem Verlust einen festgesetzten Betrag als Entschädigung an ihn zu zahlen.“

„Wie verständigen wir uns mit dem Offizier?“, fragte Macay.

Der Offizier antwortete selbst: „Ich. Sprache. Sprechen.“ Die einzelnen Worte brachte er mit deutlichem Abstand heraus und mit einer Betonung, die sie schwerverständlich machte.

„Seine Kenntnisse genügen, um sich mit euch über die wichtigsten Dinge zu unterhalten“, sagte der Ratsherr. „Alle anderen Karaquz werden euch nicht verstehen.“

„Das könnte bei einem Überfall ein Problem werden.“

„Es lässt sich nicht ändern. Eure Sprache ist für uns schwer zu erlernen. Umgekehrt könnt ihr unsere gar nicht lernen, weil eure Sprechorgane nicht dafür ausgelegt sind.“

„Welche Befugnisse haben wir?“, wollte Rall wissen,

„Ein wichtiger Punkt. Ihr habt Befehlsgewalt über die einfachen Soldaten. Allerdings untersteht ihr dem Befehl dieses Offiziers. Das solltet ihr ernst nehmen und beachten. Schon deshalb, weil keiner von euch die genaue Reiseroute und die möglichen Gefahren kennt. Von den Räubern einmal abgesehen.“

„Welche Gefahren meinen Sie?“

„Nicht überall sind die Einheimischen wohlgesonnen gegenüber Fremden. Selbst, wenn sie euch nicht als Menschen und Menschenabkömmlinge erkennen, könnten sie euch angreifen. Außerdem gibt es in den Wäldern und Schluchten wilde Tiere.“

„Wir wissen uns zu wehren“, behauptete Zzorg.

„Zweifellos“, sagte der Ratsherr und wandte sich ab.

Die Reittiere wurden herangeführt. Sie glichen Eseln, hatten aber stumpfe Schnauzen und kaum wahrnehmbar kleine Ohren. Ihr Fell war ockergelb und kurz. Statt Sätteln trugen sie dicke Polster auf den Rücken, die mit einem Geflecht aus Schnüren befestigt waren. Diese Schnüre dienten auch als Steigbügel und Zaumzeug. Hinter dem Sitzpolster hatte man Stoffbeutel für die Vorräte befestigt.

Die Tiere schienen kräftig genug, um Macay oder Rall zu tragen, doch bei Zzorg war sich Macay nicht sicher. Auf einen Wink des Offiziers brachte man ein besonders großes und kräftiges Exemplar und drückte die Zügel Zzorg in die Hand. Der Ratsherr hatte also dieses Problem im Voraus bedacht.

„Anucayas“, sagte der Offizier und zeigte auf die Reittiere.

„Anucayas? Sind diese Tiere mit den Cayas verwandt?“, fragte Macay verblüfft. „Sie sehen ganz anders aus.“

Der Ratsherr, dessen Aufmerksamkeit seit einigen Minuten der Beladung eines der Wagen gegolten hatte, wandte sich zu ihm um. „Cayas gibt es in drei Geschlechtern. Männchen, Weibchen und Kranke.“

„Kranke?“ Macay dachte, nicht richtig verstanden zu haben.

„Anucayas entstehen, wenn ein trächtiges Caya-Weibchen an einer bestimmten Krankheit leidet. Es wirft ein krankes Kalb. Dieses Kalb hat kein Geschlecht und überlebt nur selten. Aber die Züchter haben Wege gefunden, solche Kälber gesunden zu lassen. Sie sind größer als die Männchen, kleiner und dünner als die Weibchen und verbinden die Vorteile von beiden. Es sind ausdauernde, grasfressende Lasttiere, die schnell und friedlich sind. Man kann sie zu Reittieren dressieren. Als Zugtiere eignen sie sich aufgrund ihres Körperbaus nicht.“

Wieder wandte sich der Ratsherr dem Wagen zu, der vor ihnen stand. Arbeiter beluden ihn über eine Rampe mit länglichen Holzkisten. Sehr schwer schienen die Kisten allerdings nicht zu sein.

„Ist dies einer der Wagen mit besonders wertvoller Ladung?“, fragte Macay.

„Sie interpretieren meine Aufmerksamkeit richtig. In einer Stunde beginnt die Fahrt.“

Macay ging zu dem Wagen. Er wollte sich die Kisten genauer ansehen. Doch zwei Soldaten drängten ihn unsanft zurück.

„Was soll das?“, beschwerte er sich.

Der Offizier kam zu ihm. „Abstand“, sagte er. „Beladen. Gefährlich.“ Er griff Macay am Arm und zog ihn zurück zu seinen Gefährten.

Der Ratsherr bestätigte, was der Offizier gesagt hatte: „Der Umgang mit diesen schweren Transportkisten birgt Gefahren, denen wir euch nicht aussetzen wollen. Ich bitte um Verständnis. Außerdem drängt die Zeit. Ihr müsst lernen, wie man auf Anucayas reitet.“

Das Argument mit der Unfallgefahr schien Macay vorgeschoben. Nun, auf der Reise würde sich eine Gelegenheit finden, eine der Kisten zu öffnen und den wertvollen Inhalt zu inspizieren.

Dass es notwendig war, den Umgang mit den Reittieren zu erlernen, war dagegen einsehbar. Macay und seine Freunde nahmen die ihnen zugeteilten Tiere an den Zügeln und folgten dem Offizier hinaus ins Freie, wo er ihnen eine Reitstunde gab.

Über zwei Meilen lang war der Konvoi, der sich von der goldenen Kegelstadt in Richtung Süden bewegte. Die Wagen hielten den großen Abstand zueinander, der wegen der Eigenart der Cayas erforderlich war. Deshalb konnte Macay die ersten Wagen nicht mehr sehen, als derjenige anruckte, den er und seine Freunde auf ihren Reittieren begleiteten. Hinter ihnen würden noch zwei weitere Wagen fahren, bevor die Nachhut folgte.

Die Räder der schweren Fahrzeuge erzeugten ein rumpelndes Geräusch, das weithin zu hören sein musste. Allerdings lag das auch am Untergrund. Die Straße nach Süden war mit groben Steinen gepflastert. Nachdem sie zwei Stunden unterwegs waren, änderte sich der Straßenbelag. Die Oberfläche bestand nun aus grauen Platten. Sie sahen aus wie Schiefer, schienen jedoch außerordentlich hart zu sein. Obwohl hier vermutlich oft Konvois entlang rollten, sah Macay keine Rillen im Belag. Die Geschwindigkeit des Konvois schätzte er auf vier bis fünf Meilen in der Stunde.

Der Offizier ritt an den Wagen entlang, immer von der Vorhut bis zur Nachhut und wieder zurück. Ab und zu hielt er bei Macay und seinen Freunden, um sich mit ihnen zu unterhalten. Unter anderem versicherte er ihnen, dass die Zugtiere ihr Tempo viele Stunden lang durchhielten. Deshalb war ein Schnitt von vierzig Meilen pro Tag kein Problem.

Die Landschaft glich zunächst derjenigen in der Umgebung der Kegelstadt: Felder und kleine Waldgebiete wechselten sich ab. Manchmal sah man Arbeiter der Karaquz auf den Feldern, doch die blickten nicht auf, wenn der Konvoi an ihnen vorüberzog.

Abends schirrten die Fahrer die Zugtiere ab und brachten sie zu Grasflächen am Straßenrand, wo sie weiden konnten. Die männlichen Tiere bekamen ihr Futter in Näpfen hingestellt, ohne dass man sie ausschirrte. Beim Fressen behielten sie ihre Weibchen ständig im Auge.

Nachdem die Tiere versorgt waren, aßen auch Karaquz und Menschen. Der Offizier gesellte sich zu Macay und seinen Freunden. „Ihr. Schlafen. Im. Wagen“, sagte er. „Soldaten. Wache. Vor. Wagen.“

So hielten sie es von nun an immer.

Gegen Abend des dritten Tages änderte sich das Bild. Die Waldstücke wurden größer, die Felder seltener. Bei Sonnenuntergang, als der Konvoi entlang der Straße anhielt, um Rast zu machen, konnte Macay voraus ein großes, zusammenhängendes Waldgebiet erkennen. Es dehnte sich auf sanft ansteigenden Hügeln nach Süden und Südwesten aus.

„Was ist dort?“, fragte Macay den Offizier und zeigte auf einen fernen Lichtfleck am Rande des Waldes.

„Eereba. Stadt.“

„Kommen die Einwohner hierher zum Konvoi, um Handel zu treiben?“

„Konvoi. Kein. Handel. Kegelstadt. Handel.“

„Wie fahren wir morgen weiter?“, fragte Rall.

Der Offizier deutete in ihre bisherige Fahrtrichtung und machte eine bogenförmige Bewegung mit dem Arm. „Wald. Berge. Kegelstadt.“

„Eine weitere Kegelstadt hinter diesem Waldgebiet. Werden wir sie morgen erreichen?“

„Drei. Tage.“ Der Offizier wendete sein Anucaya und ritt davon.

Die Nächte verliefen ereignislos. Morgens spannten die Fahrer die weiblichen Zugtiere wieder an und der Konvoi setzte sich in Bewegung.

Während der ersten Stunden im Wald sah Macay einen Trupp Holzfäller, der in der Nähe der Straße Bäume fällte. Es waren große, plumpe Gestalten, die mit mächtigen Äxten hantierten, als würden die kaum etwas wiegen.

3,99 €