Buch lesen: «Planet der Magie», Seite 2

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Es dauerte lange, bis draußen Ruhe einkehrte. In der Hütte war es dunkel geworden, als die Tür sich öffnete. Herein kam ein Iylla, der eine Fackel in Händen hielt. Er entzündete mit ihr die Fackeln, die schräg an den Wänden der Hütte angebracht waren. Als er wieder gehen wollte, hielt Rall ihn zurück und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Doch der Iylla schüttelte unwirsch den Kopf und ging hinaus.

„Ein gutes Zeichen“, meinte Zzorg.

„Warum?“, fragte Macay. „Er war ziemlich unfreundlich.“

„Aber er hat keinen Hass gegen dich erkennen lassen. Du hättest die Iyllas sehen sollen, die während der ersten Tage hier hereinkamen. Wir hatten immer Angst, einer von ihnen könnte versuchen, dich zu töten, als du im Fieberschlaf lagst.“

Am folgenden Morgen ging Rall nach draußen, um das Frühstück zu holen. Als er zurückkehrte, berichtete er, die Dorfvorsteherin werde in Kürze zu ihnen kommen. Die Iyllas hatten sich geeinigt.

Als sie hereinkam, stand Macay vom Bett auf. Er fühlte sich völlig genesen.

Mit ausladenden Gesten, die wegen ihrer kurzen Arme eher komisch als beeindruckend wirkten, fiepte die Dorfvorsteherin eine lange Erklärung. Dann zeigte sie nacheinander auf die drei Bewohner der Hütte und sagte, wenn auch kaum verständlich: „Rall. Zzorg. Macay.“ Anschließend zeigte sie auf sich und ihre Begleiter: „Ifili. Rifo. Lofi.“

„Ifili“, sagte Macay und deutete auf die Dorfvorsteherin.

Die klatschte zur Bestätigung in die Hände und begann eine von vielen Gesten begleitete Unterhaltung mit Rall.

„Rifo. Lofi“, sagte Macay zu den jungen Iyllas und deutete auf sie. Doch die gaben nur kurze Laute der Bestätigung von sich und wandten sich ab.

Ifili und Rall sprachen lange miteinander. Beide Seiten gaben sich große Mühe, sich verständlich zu machen. Erst nach Stunden verließen die drei Iyllas die Hütte wieder. Macay konnte durch die geöffnete Tür den Schein eines großen Lagerfeuers erkennen. Vielleicht brannte es in der Dorfmitte, anstatt dass in jeder einzelnen Hütte ein Feuer entfacht wurde.

Rall unterbrach seine Gedanken. „Ich konnte einiges in Erfahrung bringen. Zu allererst, Macay: Kein Iylla aus diesem Dorf wird dir künftig mehr nach dem Leben trachten. Ich konnte sie davon überzeugen, dass wir aus einem sehr fernen Land kommen. Mit den Menschen, wie man sie hier kennt, haben wir nichts zu tun.“

„Kann ich mich jetzt frei bewegen?“

„Das wirst du nicht tun. Denn ich habe endlich verstanden, warum die Iyllas einen solchen Hass auf Menschen wie dich haben. Dieser Hass geht nämlich gar nicht von ihnen aus, sondern von dem Herrscher eines Landes im Norden. Dieser Herrscher bedroht jeden, der einen Menschen unterstützt. Falls der Herrscher erfährt, dass sich hier im Dorf ein Mensch aufhält, wird er eine Strafaktion gegen die Iyllas starten. Nur deshalb haben die Iyllas den alten Mann ermordet. Es soll vorgekommen sein, dass der Herrscher ein ganzes Dorf niederbrennen und die Bewohner töten ließ, nur weil ein Mensch zufällig in der Nähe war.“

„Wenn dieser Herrscher herausfindet, dass ich hier bin, bestraft er das Dorf? Kein Wunder, dass man mich töten wollte. Ist eine Belohnung auf die Ergreifung oder Ermordung von Menschen ausgesetzt?“

„Das scheint nicht der Fall zu sein. Die Methode dieses unbekannten Herrschers ist viel effektiver als eine Belohnung. Wer nicht bestraft werden möchte, muss jeden Menschen, dem er begegnet, sofort beseitigen.“

„Also werde ich diese Hütte nicht verlassen, auch wenn ich es jetzt darf. Sonst bringe ich die Iyllas in Gefahr.“

„So ist es.“

„Hoffen wir, dass es hier keine Verräter gibt“, warf Zzorg ein.

„Da es keine Belohnung gibt, lohnt sich Verrat vermutlich nicht.“

„Aber diese neue Erkenntnis ändert nichts an unserem Plan. Wir müssen das gelandete Raumschiff und seine Besatzung suchen. Hast du darüber etwas in Erfahrung bringen können, Rall?“

„Ich habe nicht danach gefragt, denn das wäre sinnlos gewesen. Außerdem bleibt uns sowieso nur ein Weg, um von hier wegzukommen, nämlich nach Süden.“

„Wieso das?“

„Weil wir das Land dieses menschenfeindlichen Herrschers meiden sollten. Im Osten und Westen liegen unwirtliche Gebirgszüge. Also können wir uns nur nach Süden wenden. Die Iyllas werden uns mit allem unterstützen, was sie haben.“

„Das glaube ich gerne“, meinte Macay. „Hoffentlich geben sie uns auch Waffen mit. Pfeil und Bogen besitzen sie. Vielleicht auch Dolche oder Stichwaffen. Frage sie unbedingt danach, wenn du das nächste Mal mit der Dorfvorsteherin sprichst.“

Sie überlegten, welche anderen Vorräte und Ausrüstungsgegenstände sie sich erbitten sollten, wenn sie ihre Gastgeber verließen. Da diese nur zu froh sein dürften, ihre Besucher loszuwerden, würden sie bestimmt alles mitgeben, was sie konnten.

Jäger und Opfer

Die Hütten der Iyllas mit ihren grasbedeckten Dächern waren schon aus ein paar Hundert Schritten Entfernung nicht mehr von grünen Hügeln zu unterscheiden. Ihre Tarnung war fast perfekt. Nur der Weg, der zwischen ihnen hindurchführte, verriet den Zweck dieser Erhebungen in der Landschaft.

„Jetzt verstehe ich, warum wir das Dorf bei unserem Flug mit dem Beiboot nicht entdeckt haben“, sagte Macay. „So robust die Iyllas körperlich sind, so ängstlich scheinen sie darauf bedacht zu sein, sich zu verbergen.“

„Eine seltsame Rasse“, stimmte Zzorg zu. „Als sie uns die Waffen mitgaben, schienen sie froh zu sein. Sie wollten diese Werkzeuge des Tötens so schnell wie möglich aus ihrem Dorf weghaben.“

„Und doch haben sie den alten Mann ohne Bedenken ermordet. Dabei war er nach der Explosion unter einem Baumstamm eingeklemmt. Er war bewusstlos und folglich ohne jede Chance, sich zu wehren.“ Macay war nicht von der Friedfertigkeit der Iyllas überzeugt. „Auch mich hätten sie getötet.“

„Das ist sicherlich eine Folge ihrer übergroßen Furchtsamkeit“, argumentierte Rall. „Der Herrscher im Norden muss ihnen eine enorme Angst einflößen.“

„Wir sollten nicht zu leichtgläubig sein. Alles, was wir über diesen angeblich so bösartigen Herrscher wissen, haben wir von den Iyllas gehört.“

„Ich vertraue ihnen“, sagte Zzorg mit Überzeugung in der Stimme.

„Nun gut, streiten wir uns nicht. Was liegt jetzt vor uns?“ Macay sah den Weg entlang, der sich nach Süden hinzog.

„Zunächst müssen wir dieses Gebiet durchqueren“, sagte Rall. „Außer vereinzelten Iylla-Dörfern gibt es hier keine weiteren Siedlungen. Wir meiden die Dörfer aus den bekannten Gründen. Deshalb werden wir diesen Weg an der nächsten Biegung verlassen und querfeldein gehen. Am vierten Tag erreichen wir die Grenze des von Iyllas bewohnten Gebietes. Dahinter soll eine Rasse namens Karaquz leben.“

„Was sind das für Leute?“

„Die Beschreibung, die mir Ifili von ihnen gegeben hat, konnte ich nicht richtig verstehen. Die Karaquz sollen größer sein als Menschen und in Städten leben. Die Iyllas reden nur ungerne über diese Wesen. Wann immer ich nachgefragt habe, versuchte die Dorfvorsteherin, das Thema zu wechseln.“

Sie marschierten durch eine schöne Landschaft aus kleinen Wäldern und Wiesen. Es gab weder Felder noch andere Anzeichen einer Nutzung oder Besiedlung.

Macay war nicht mehr ohne weiteres als Mensch zu erkennen. Ifili hatte eine Maske für ihn angefertigt. Sie bestand aus einer Schnauze aus biegsamen Ästchen und Stoff und war an der Kapuze seines Umhangs befestigt. Sicherheitshalber trug er diese Kapuze ständig über den Kopf gezogen. Zumindest aus einer gewissen Entfernung sah er damit aus, als habe er eine Art Mäusegesicht mit kleinen, spitzen Ohren.

Am Abend fanden sie einen geschützten Rastplatz. Es war die Quelle eines Baches, der zwischen Büschen am Fuß eines Hügels entsprang. Oben auf dem Hügel wuchsen niedrige Bäume mit dichtem, grünem Blattwerk. Sie versprachen Schutz, falls die drei Wanderer sich von der Quelle zurückziehen mussten. Auf ein Feuer verzichteten sie, das Wetter war sommerlich warm.

Wie sie es von den vielen abenteuerlichen Reisen auf ihrer Heimatwelt gewohnt waren, teilten sie sich abwechselnd zur Wache ein.

Es war Zzorg, der während der Nacht seine beiden schlafenden Gefährten weckte. „Etwas nähert sich. Ein seltsames Geräusch geht davon aus. Wir verlassen unser Lager besser.“

„Warum?“, fragte Macay verschlafen.

„Vielleicht nutzen andere Wesen diese Quelle auch gerne als Lagerplatz. Wir haben es in der Abenddämmerung versäumt, gründlich nach Spuren zu suchen.“

Während sie sich noch flüsternd unterhielten, begann Rall, die Vorräte zurück in die Stofftaschen zu packen. Macay half ihm. Sie rollten ihre Schlafdecken zusammen, verwischten die Spuren ihrer Rast so gut es ging und schlichen den Hügel hinauf unter die Bäume.

Das Geräusch kam näher. Es war ein rhythmisches Knacken, als würden Muschelschalen gegeneinander schlagen. Was auch immer die Ursache sein mochte, es war besser, ihr auf dieser fremden Welt zunächst aus dem Weg zu gehen. Die Waffen der Iyllas - Dolche und ein Kurzbogen mit fünf Pfeilen - nützten den Dreien möglicherweise nichts gegen die Unbekannten.

Der kleine Mond Bundaras stand in dieser Nacht nicht am Himmel. Nur das Licht der Sterne half ihnen, sich zu orientieren. Sie suchten sich einen Platz zwischen Bäumen und Büschen, von dem aus sie hinunter auf die Quelle sehen konnten. Sollte es sich bei den näherkommenden Wesen um Intelligenzen handeln, so würden sie vermutlich ein Feuer machen. Dann war es möglich, sie zu beobachten.

Das Knacken hörte auf. Nach mehreren Minuten atemlosen Wartens sah Macay unten tatsächlich einen Feuerschein. Schattenhafte Kreaturen entzündeten ein Lagerfeuer und bemühten sich, es mit trockenem Holz schnell größer werden zu lassen.

Die Wesen waren von länglicher Gestalt und hager. Ihre ovalen Köpfe waren groß und schienen wie in die Länge gezogen. Das Geräusch, das sie schon aus der Ferne angekündigt hatte, entstand, wenn sie sich bewegten. Je größer der Schritt, den eines der Wesen machte, desto lauter das Knacken. Doch gelegentlich bewegte sich auch eines von ihnen, ohne den verräterischen Ton zu verursachen. Vielleicht war es anstrengend für sie, lautlos zu gehen, so dass sie das Knacken normalerweise hinnahmen.

Das Feuer wuchs an und beleuchtete eine immer größere Fläche. Nun sah Macay, dass die Wesen sackartige Kleidungsstücke trugen, aus denen ihre dürren Arme herausragten. Sie waren mit Speeren bewaffnet und verfügten außerdem über lange Dolche. Die steckten in einer Art Schärpe, die sie schräg über ihren Oberkörper hängen hatten.

Acht Individuen zählte Macay. Es bewegte sich allerdings auch noch jemand außerhalb des Feuerscheins.

„Das müssen Karaquz sein“, flüsterte Rall. „Insektenwesen, die in der großen Stadt südlich von hier leben. Die Iyllas haben aber nichts davon gesagt, dass die Karaquz auch in ihrem Siedlungsgebiet unterwegs sind.“

„Sollen wir uns zu erkennen geben?“, fragte Macay ebenso leise.

„Keinesfalls. Wir beobachten weiter.“

Es schien, als warteten die Karaquz auf etwas, während sie um das Feuer saßen. Sie unterhielten sich nicht miteinander und machten auch keine Anstalten, Vorräte auszupacken und etwas zu essen. Stattdessen legten sie immer mehr Holz in das Feuer, bis es einen Durchmesser von über einem Meter hatte. Die Flammen loderten hoch in den Himmel.

Nach weiteren Minuten tat sich etwas abseits des Lichtscheins. Schattenhafte, hastige Bewegungen waren zu erkennen. Dann ein greller, kreischender Schrei.

„Ein Iylla!“, zischte Zzorg.

„Ich glaube, er ruft um Hilfe“, sagte Rall. Unruhig nahm er den Kurzbogen in die Hand und legte einen Pfeil bereit.

„Lass das!“, sagte Macay. „Es sind zu viele Karaquz dort unten. Mit denen werden wir nicht fertig.“

Sie beobachteten weiter. Noch einmal drang ein gellender Schrei zu ihnen, der in ein leises Fiepen überging.

Zwei Karaquz kamen aus der Dunkelheit. Sie zerrten einen offenbar noch jungen Iylla ins Licht des Lagerfeuers.

„Sie haben ihn gefangen genommen“, flüsterte Macay. „Führen sie Krieg gegen die Iyllas?“

Das Geschehen unten auf dem Lagerplatz an der Quelle beantwortete seine Frage auf furchtbare Weise. Einer der Karaquz zog seinen Dolch aus der Schärpe und führte mit einer schnellen Bewegung einen Schnitt unterhalb des Kopfes seines Gefangenen durch. Der junge Iylla zappelte kurz, dann war er tot. Blut floss pulsierend aus der Halswunde.

Doch der Mörder war damit nicht zufrieden. Er stach sein Messer noch an mehreren Stellen zwischen die festen Bänder an Bauch und Rücken, wobei er den Körper auf dem Boden hin und her wälzte. Die Blutlache wurde schnell größer. Der Dolch war nicht scharf genug, um die Panzerbänder des Iyllas zu zerschneiden. Macay sah, wie das Messer mehrmals an ihnen abglitt. Die Natur hatten die kleinen Wesen fast perfekt geschützt. Aber eben nur fast.

Macay musste Rall festhalten, um zu verhindern, dass der Katzer den Mörder mit einem Pfeil bedachte.

Zwei der Karaquz packten den toten Iylla und warfen ihn auf das Lagerfeuer. Während die Flammen zischend über dem bluttriefenden Körper zusammenschlugen, saßen die zehn Wesen im Kreis und beobachteten ihr Opfer in den Flammen. Dabei redeten sie miteinander. Ihre Stimmen waren unerwartet tief und knarrend. Die Szene sah aus, als würde eine Gruppe von Jägern fröhlich beisammensitzen und sich über die Erlebnisse des Tages unterhalten.

Macay, Rall und Zzorg blieben bewegungslos in ihrem Versteck oberhalb des Lagerplatzes. Allerdings schloss Macay irgendwann die Augen, um nicht mehr den toten Iylla sehen zu müssen, der im Feuer verbrannte. Schon der Geruch des anbrennenden Fleisches genügte, um ihn vor Ekel würgen zu lassen.

Nach einer Stunde schreckte ihn ein lautes Knallen auf, das aus Richtung des Lagerplatzes kam. Es wiederholte sich mehrere Male. Nun sah Macay wieder hin. Das Lagerfeuer war heruntergebrannt, aber sicherlich immer noch sehr heiß. Zunächst konnte er nicht erkennen, was vor sich ging. Ein Karaquz stocherte mit seinem Speer zwischen der Glut und dem geschwärzten Körper des Iyllas herum.

Rall beugte sich zu Macay und flüsterte ihm ins Ohr: „Das Knallen kam von den gepanzerten Bändern am Körper des Iyllas. Sie sind von der Hitze geplatzt. Der Karaquz prüft mit dem Speer, ob ihr Opfer bereits gar ist. Ich nehme an, sie werden ihn gleich essen.“

Vor Entsetzen schüttelt sich Macay, denn Rall hatte Recht. Mit Hilfe ihrer Speere zogen die Karaquz den Iylla aus dem Feuer heraus. Dann machten sie sich mit ihren Dolchen an ihm zu schaffen. Sie schnitten Stücke aus dem Fleisch, streuten etwas darüber und begannen zu essen.

„Menschenfresser!“, keuchte Macay.

„Weder die Karaquz noch die Iyllas sind Menschen“, flüsterte Rall. „Sieh nicht hin, wenn dir dabei übel wird.“

„Die Iyllas haben uns zur Stadt der Karaquz geschickt - aber das sind offenkundig ihre schlimmsten Feinden“, sagte Zzorg. „Vielleicht sollten wir die Stadt umgehen.“

„Wir wissen nicht, was es sonst noch im Süden gibt“, wandte Macay ein. „Irgendwo müssen wir Hilfe und weitere Informationen herbekommen. Sonst finden wir uns nie auf dieser Welt zurecht. Eine Stadt, von welcher Rasse auch immer bewohnt, bietet da mehr Möglichkeiten als ein Dorf.“

„Warten wir es ab. Schleich ein paar Schritte nach hinten, Macay, und lege dich hin. Zzorg und ich beobachten weiter.“

Als Macay erwachte, schien die Sonne durch das Laub auf sein Gesicht. Sie stand schon ziemlich hoch am Himmel. Er streckte sich und richtete sich auf. Zzorg saß neben ihm und reichte ihm wortlos einen Becher mit Wasser und ein wenig von der Nahrung der Iyllas. Der zähe Brei war portionsweise in große, grüne Blätter eingewickelt. Er schmeckte immer noch so frisch wie im Dorf.

„Danke“, sagte Macay. „Wo ist Rall?“

„Unten beim Lager der Karaquz.“

Da erst fiel Macay wieder ein, was er in der Nacht gesehen hatte. Ihm wurde übel, er legte das Essen beiseite und trank gierig den Becher leer. „Was macht er dort?“, fragte er dann.

„Sich die Spuren ansehen. Die Karaquz sind kurz nach Sonnenaufgang Richtung Südwesten verschwunden.“

„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“

„Wir wollen mit dem Weitergehen warten, bis genügend Abstand zwischen uns und der Jagdgruppe ist.“

„Gehen wir weiter nach Süden?“

„Wir beide sind dafür, zumindest bis in die Nähe der Karaquz-Stadt zu gehen. Vielleicht finden wir dort Hinweise, die uns weiterhelfen. Rall und ich können vermutlich die Stadt betreten, ohne gefährdet zu sein. Man erkennt uns nicht als Menschen. Du musst natürlich an einem sicheren Ort außerhalb warten. Aber das entscheiden wir, wenn wir dort sind.“

Rall kam den Hügel hoch und setzte sich zu ihnen. „Die Karaquz haben fast alle Hinweise auf ihre Anwesenheit beseitigt, bevor sie weitergezogen sind“, sagte er.

„Was meinst du mit fast alle?“, fragte Macay.

„Die Reste des großen Lagerfeuers lassen sich kaum verbergen. Die Asche ist noch heiß. Aber sie haben zumindest die erkaltete Asche vom Rand des Feuers in den Bach geschaufelt, wo sie langsam vom Wasser davon getragen wird. Man kann also die wahre Größe des Feuers kaum noch erahnen. Die Überreste des Iyllas haben sie vergraben, und zwar ziemlich tief. Dabei habe ich sie heute Morgen beobachtet. Die Pfütze aus getrocknetem Blut an der Stelle, an der sie den Iylla ermordet haben, wurde dick mit Sand überstreut.“

„Sie haben alle Spuren beseitigt, die auf ihre Tat hinweisen könnten?“

„So ist es. Du hast vermutlich denselben Verdacht wie ich: Sie haben etwas Verbotenes getan, als sie den Iylla getötet und gegessen haben. Da wir uns im Siedlungsgebiet der Iyllas aufhalten, kann es sein, dass sie Angst vor deren Rache haben.“

„Oder sie haben gegen Gesetze ihres eigenen Volkes verstoßen.“

„Wir werden es herausfinden. Bist du bereit, weiterzugehen?“

Sie nahmen ihr Gepäck und machten sich auf den Weg. Da sie nun vorsichtiger waren, kamen sie langsamer voran als bisher. An unübersichtlichen Stellen blieben Macay und Zzorg zurück, während Rall die Umgebung auskundschaftete.

Ob ihre Vorsicht berechtigt war, wussten sie nicht. In den folgenden zwei Tagen begegneten ihnen weder Iyllas noch Karaquz.

Am Morgen des dritten Tages stießen sie auf eine Straße. Sie war nicht gepflastert, sondern bestand nur aus festgetretenem Erdreich. Tiefe Längsrillen zeigten, dass sie häufig von Fuhrwerken genutzt wurde. Die Straße kam aus dem Nordwesten, wo im Dunst ferne Berge zu erahnen waren, und machte hier einen Bogen nach Süden.

„Das dürfte der Weg zur Stadt der Karaquz sein“, sagte Macay. „Was nun?“

„Fragen wir doch diese Leute“, sagte Rall und zeigte nach Südwesten. Dort arbeiteten menschenähnliche Gestalten auf den Feldern.

Rall ging langsam zu diesen Wesen hin, während Zzorg und Macay ein Dutzend Schritte hinter ihm blieben.

Die Stadt der Karaquz

Die Karaquz, die auf den Feldern arbeiteten, waren deutlich kleiner als die Jäger im Wald. Drei von ihnen mühten sich mit einem beladenen Wagen ab, der offenbar feststeckte. Sie kümmerten sich nicht um die seltsam aussehenden Wesen, die sich ihnen näherten.

Sorgfältig prüfte Macay den Sitz seiner Maske. Dann nahm er sich die Zeit, die Früchte zu untersuchen, die hier angebaut wurden. Es waren bräunliche Borken, in sich geschichtet und an der Oberfläche staubig abblätternd. Sie wirkten wie aus der Rinde eines großen Baumes herausgebrochen. Doch es waren tatsächlich Feldfrüchte, denn sie wuchsen in langen Reihen, so weit der Blick reichte. Der Geruch, der von ihnen ausging, brachte die Erinnerung an feuchten Wald und sumpfigen Boden mit sich.

Macay hätte gerne gewusst, wie man diese Früchte weiterverarbeitete. Roh genießbar schienen sie nicht zu sein. Er nahm eine davon und so tat, als wolle er sie essen. Die drei Karaquz bei dem Wagen kamen mit knackenden Gelenken zu ihm gerannt. Einer von ihnen schlug ihm die Feldfrucht aus der Hand. Aufgeregt redeten die Insektenwesen mit knarrenden Stimmen auf ihn ein.

Davon abgesehen war das Verhalten der Karaquz von auffallender Normalität. Sie akzeptierten Macays Maske ohne Anzeichen von Verwunderung. Auch Rall und Zzorg erkannten sie ohne Zögern als intelligente Lebewesen an.

Umgekehrt war die Neugierde größer und offener. Macay konnte es sich nicht verkneifen, sein Gegenüber immer wieder zu mustern. Er hatte noch nie Lebewesen gesehen, die den Karaquz ähnelten.

Die dürren Körper waren vom Hals bis zu den Füßen in eine Kutte aus grobem Stoff gehüllt. Im Gegensatz zu den Jägern trugen die Arbeiter keine Schärpen über den Oberkörpern. Auffallend waren die dürren Hände mit drei Klauen, die aus den Ärmeln der Kutten ragten. Sie machten nicht den Eindruck, als könne man mit ihnen feine Arbeiten verrichten.

Am seltsamsten aber sahen die Köpfe der Lebewesen aus. Sie waren länglich und rund. Im Vergleich zu den Körpern waren sie recht dick. Statt mit Haut, wie sie an den Händen zu sehen war, wiesen sie eine metallisch schimmernde, glatte Oberfläche auf. Die großen, ovalen Augen zeigten sich nur als zwei Flächen mit einer anderen Oberflächenstruktur als das übrige Gesicht. Sie reflektierten das Licht unterschiedlich, je nachdem, wohin die Wesen sahen. Macay konnte sich das nur so erklären, dass diese Augen aus einer riesigen Anzahl winziger beweglicher Schuppen bestanden. Je nachdem, wohin der Karaquz sah, änderten diese Schuppen ihre Ausrichtung.

Unter den Augen durchbrachen einige senkrechte Schlitze die glatte Oberfläche des Schädels - Atemöffnungen, nahm Macay an. Und darunter befand sich ein breiter, lippenloser Mund. Die Karaquz öffneten ihn beim Sprechen einen Spalt weit, ohne ihn zu bewegen. Die Töne wurden im Inneren des Kopfes oder des Körpers erzeugt und kamen aus dem Mund heraus.

Den Karaquz waren die neugierigen Blicke der drei Wanderer egal. Ihr vierrädriger Wagen steckte im feuchten Boden fest. Er war aus Holz gebaut, fast drei Meter lang und eineinhalb breit. Statt einer Deichsel zum Anspannen von Zugtieren befanden sich vorne einige breite Lederschlaufen. An denen versuchten die Karaquz, den Wagen auf die Straße zu ziehen.

Da es fünf Schlaufen waren, nahm Macay an, dass zwei Arbeiter fehlten und die Karaquz deshalb nicht mit dem schweren Wagen zurechtkamen. Er sah sich nach Zzorg um. Der Echser verfügte über gewaltige Kräfte. Doch während eines Kampfes hatte er vor einiger Zeit drei Finger der rechten Hand verloren. Das behinderte nicht nur seine magischen Fähigkeiten, bei deren Ausübung er bestimmte Gesten ausführen musste, sondern er konnte auch nicht mehr richtig zupacken.

Zzorg verstand den Blick. Er griff mit seiner gesunden linken Hand in eine der Schlaufen und zog mit der ganzen Kraft seines Echsenkörpers daran. So schaffte er es alleine, den Wagen herauszuziehen.

Die Karaquz hüpften vor Freude um ihn herum. Sie schnarrten und knarrten mit ihren Stimmwerkzeugen, dass es jedem noch so fremdartigen Wesen klar sein musste, wie dankbar sie waren. Dann griffen sie in die Schlaufen und begannen, den Wagen davon zu ziehen. Sie schienen keine weitere Hilfe zu erwarten. Zzorg stellte sich ihnen in den Weg.

„Nicht so schnell“, sagte er, obwohl er wusste, dass sie ihn so wenig verstehen konnten wie er sie. „Wir hätten als Gegenleistung gerne ein paar Informationen. Wie weit ist es bis zu eurer Stadt?“ Er zeigte die Straße entlang, die in Sichtweite nach Süden abbog, und dann auf die Sonne, wobei sein Arm einen Bogen beschrieb, um zu zeigen, wie die Sonne über das Firmament zog.

Die Karaquz blieben stehen und unterhielten sich untereinander. Einer von ihnen klopfte dann mit der Klaue auf den Wagen, um anschließend ebenfalls in den Himmel zu zeigen. Sein Arm beschrieb einen kleinen Bogen.

„Sie werden noch etwa vier Stunden brauchen, bis sie den Wagen zu ihrem Ziel gebracht haben“, folgerte Zzorg. „Wir würden wohl nur die Hälfte der Zeit benötigen. Jetzt müssen wir noch herausbekommen, ob sie wirklich zu einer Stadt unterwegs sind und nicht nur zu einem Bauernhof.“

Macay suchte nach einer ebenen, staubigen Stelle auf der Straße. Als er eine fand, winkte er die Karaquz zu sich. Sie kamen und sahen interessiert zu, wie er sich hinkniete und mit dem Finger die Umrisse von mehreren Häusern in den Staub malte. Dann deutete er abwechselnd die Straße entlang und auf die Abbildung.

Einer der Karaquz streckte seinen Fuß vor. Es war ein dürres Gebilde mit kurzen Klauen. Mit dem Fuß wischte er Macays Zeichnung weg und zeichnete zwei Dreiecke in den Sand. Eines wies mit der Spitze nach oben, eines mit der Spitze nach unten, an der Basis waren sie miteinander verbunden.

Ratlos sah Macay seine beiden Freunde an, doch die konnten sich auch nicht erklären, was der Karaquz mit diesem Bild meinte.

„Vielleicht haben sie dreieckige Häuser oder bauen Pyramiden“, sagte Rall. „Aber warum steht eine mit der Spitze nach unten?“

Macay ging zu dem Acker neben der Straße und kam mit einer Handvoll feuchter Erde zurück. Daraus formte er neben der Zeichnung der Karaquz eine kleine Pyramide. Er deutete auf die Zeichnung und auf die Pyramide.

Mit dem Fuß drückte der Karaquz die Kanten der Pyramide glatt, so dass ein Kegel entstand. Dann begann er im Dreck zu scharren, als wolle er ein Loch in die Straße graben. Anschließend nahm er den Dreckkegel vorsichtig und tat, als wolle er ihn mit der Spitze nach unten in dieses imaginäre Loch stecken.

„Verstanden!“, rief Macay. „Es ist ein Doppelkegel. Die eine Hälfte ist über der Erde, die andere unter der Erde. Aber ist das eine Stadt oder nur das Haus eines einzelnen Karaquz?“

Auch das fand er schnell heraus. Er malte neben die Zeichnung des Doppelkegels ein etwa halb so großes Strichmännchen, mit einem großen Kopf, um einen Karaquz anzudeuten.

Der Karaquz wischte das Strichmännchen weg und zeichnete etwas so Winziges in den Staub, dass es nicht zu erkennen war. Aber seine Absicht war eindeutig: Der Doppelkegel war riesig im Vergleich zu einem Karaquz. Eine Stadt, also!

Nun gab Zzorg den drei Wesen den Weg frei. Ohne zu zögern, griffen sie in die Schlaufen und schleppten den Wagen davon.

„Eine Stadt in Form eines riesigen Kegels, die sich unter der Erde in umgekehrter Form fortsetzt“, sagte Rall. „Es sind die Abkömmlinge von Insekten. Wahrscheinlich handelt es sich um einen gewaltigen Ameisenbau.“

„Bleibt nur noch die Frage, ob man dort ebenso gelassen auf unser Erscheinen reagiert, wie es diese Arbeiter getan haben“, sagte Zzorg.

„Wir werden sehen. Gehen wir, dann sind wir gegen Mittag dort.“

Sie überholten den Wagen und winkten im Vorbeigehen den Arbeitern zu. Doch die reagierten nicht. Sie zogen mit kurzen, kräftigen Schritten ihre Ernte die Straße entlang, als wären sie alleine.

Nach einer Stunde sahen sie in der Ferne den Kegel. Entgegen ihrer Erwartung war er nicht spitz und hoch, sondern eher flach.

Rall blieb stehen und musterte die Stadt und deren Umgebung. „Ich schätze den Durchmesser auf zwei Meilen und die Höhe auf eine halbe Meile“, sagte er. „Gewaltig! Vor allem, wenn man bedenkt, dass es unter der Erde noch einmal so viel sein soll. Aus was mag diese Stadt erbaut worden sein?“

„Ameisen nehmen, was sie in der Natur finden“, antwortete Macay. „Termiten dagegen produzieren ihr Baumaterial selbst. Aber für so ein riesiges Bauwerk dürfte beides nicht ausreichend sein. Siehst du die hellen Streifen, die von der Spitze herunterlaufen?“

„Ja. Ich habe es zunächst für Flüssigkeit gehalten. Aber es sind goldfarbene Bänder. Vielleicht sogar echtes Gold, das den Reichtum der Stadtbewohner zum Ausdruck bringen soll.“

„Wir wissen nicht, ob Gold auf Bundara wertvoll ist oder nur der Verzierung dient.“

Die Stadt lag in einer Ebene in der Nähe eines Flusses, der aus dem Westen kam. In der weiteren Umgebung der Kegelstadt gab es weder Wälder noch Hügel. Die Felder, die bisher links und rechts der Straße angelegt gewesen waren, gingen in eine flache Wiese über, auf der Tiere weideten. Aus allen Richtungen näherten sich Straßen dieser Stadt. Sie mündeten in einen großen, runden Platz, auf dem - soweit es beim Näherkommen auszumachen war - unzählige Karren und größere Wagen standen. Es wimmelte dort vor Karaquz. Wahrscheinlich brachten sie die Ladung der Wagen in die Kegelstadt.

„Wir gehen näher an die Stadt heran, bis wir genau erkennen können, was dort geschieht“, schlug Rall vor. „Bevor wir sie betreten, sollten wir sie einige Stunden beobachten.“

„Es gibt ein Problem dabei“, sagte Macay. „Wir können uns nirgendwo verstecken. Die Ebene von hier bis zu der Stadt ist leer, jeder kann uns sehen. Wenn wir stehenbleiben, fallen wir auf. Alle Wesen, die in Sichtweite sind, bewegen sich; keiner hält inne, keiner rastet.“

„Du hast Recht“, gab Rall zu. „Wobei die Straße, auf der wir unterwegs sind, die am wenigsten genutzte ist. Was mag der Grund dafür sein?“

„Wir kommen aus dem Gebiet der Iyllas“, sagte Zzorg. „Die anderen Straßen sind vermutlich Verbindungen zu größeren Siedlungen oder Städten.“

„Eine gute Erklärung. Gehen wir also weiter, um nicht aufzufallen.“

Sie schlenderten auf die Kegelstadt zu und versuchten, möglichst viel von dem, was dort vor sich ging, in sich aufzunehmen.

Bald sahen sie die riesigen Eingangstore, durch die man Waren in die Stadt trug. Eigentlich hätten mehrere große Wagen nebeneinander problemlos durch jedes dieser Tore gepasst. Trotzdem wickelten unzählige Karaquz den Transport ab. Sie nahmen bündelweise Waren von den Wagen und trugen sie in die Stadt.

„Keine Fenster“, stellte Macay fest. „Schaut euch die Außenfläche an. Sie ist unregelmäßig mit den Goldstreifen verziert. Aber nirgends sieht man Sonnenlicht, das von einem Fenster reflektiert wird. Es muss völlig dunkel sein dort drinnen.“

„Da die Karaquz ihre Stadt auch unter die Erde gebaut haben, dürfte ihnen das egal sein“, meinte Zzorg. „Sie werden sich auf andere Weise orientieren.“

„Die Karaquz vielleicht. Aber was tun wir, wenn wir in eine stockdunkle Stadt kommen?“

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