Buch lesen: «Achims Ring», Seite 3

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Über die Einrichtung der Räume und die Art ihrer gemeinsamen Tätigkeit würde Achim mit Hanni diskutieren, denn Zukunft gehört gemeinsam geplant. Er hörte wie die Tür aufgeschlossen wurde. Das war Hanni. Gleich würde sie sich, wie üblich, melden mit „Bin zurück, bin wieder da!“ Hanni kam in die Küche mit einer Rose in der Hand. „Die ist für dich mein Schatz.“

Das machte sie öfter und Achim war nicht nur gerührt, sondern auch echt erfreut. Er bedankte sich und sagte: „Ich hab dich lieb.“

Hanni verkündete, dass sie am Mittwoch dieser Woche nach Thürin-gen abreisen werde. Zurück käme sie am Montag nächster Woche.

Achim wunderte sich, warum sie nicht länger wegblieb, so wie sonst. Doch Hanni meinte, dass sie keine Lust habe auf eine längere Abwesenheit und lieber mit ihm Pläne schmieden würde.

„Ja, wenn das so ist, machen wir morgen Abend das Schnäpelessen.“ „OK“ meinte Hanni „dann sag ich noch meiner Mutter Bescheid, damit du sie ärgern kannst.“

„Ist doch auch für uns und in erster Linie für dich“ antwortete er.

„Freust du dich auch so, dass wir bald das ganze Haus für uns haben werden?“

„Ich bin schon ganz aufgeregt, und wenn du zurück bist planen wir alles genau.“ „Das Geschäft könnten wir auch ausbauen; nicht nur Fotografie und Kommunikationsberatung, auch etwas, wobei wir das Internet einbeziehen könnten. Lass dir das auch mal durch den Kopf gehen.“

„Besorgst du uns für morgen eine Baguette?“ „Ja mach ich.“

„Was treibst du so, wenn ich verreist bin?“ „Ich setze mich ab, will im Thurbruch ein paar Aufnahmen machen und werde mich zum Schlafen auf ‚meinen’ Hochsitz zurückziehen.“

Hanni sagte nachdenklich: „Könnten wir doch auch mal zusammen machen; würdest du mich mal mitnehmen?“

„Klar doch, ich würde mich sehr freuen wenn du mal mitkommst. Ich würde nie mit jemand anderem so eine Tour machen aber mit dir wäre das schön. Diese Jahr wird das aber nichts mehr; wenn du zurück bist wird es schon zu kalt sein und dann ist es nicht mehr lustig.“ „Das macht gar nichts, dann eben im nächsten Jahr. Wir haben doch noch so viel Zeit.“

„Morgen früh gehe ich in den Wald um Fliegenpilze zu sammeln, ich brauche für meine Tour in den Thurbruch was zum animieren.“

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„Übertreib es nicht mit der Kifferei“ mahnte Hanni besorgt. „Sicher doch, ich kenn mich ja aus.“ Achim kannte einige Fliegenpilzrezepte. Er zog von einem Pilzhut die Haut ab, die sich dann während sie trocknete zusammenrollte und wie eine Zigarette geraucht wurde, oder das Pilzfleisch wird getrocknet, zerrieben und in einer Pfeife geraucht. Es besteht auch die Möglichkeit das Pilzfleisch zu mahlen und dann zu schnupfen wie Koks. Egal wie, er genoss seit vielen Jahren dieses Halluzinogen nur auf nüchternen Magen, dann wurde ihm danach nicht so übel. Weitere Nachwirkungen hatte er bis jetzt nicht gespürt.

Auch der nächste Tag war ein sogenannter Bilderbuchtag; der Sommer konnte sich in diesem Jahr gar nicht von der Insel trennen.

Der krasse Gegensatz zu dem hiesigen Wetter war die Flutkatas-trophe, auch Jahrhundertflut genannt, obwohl das neue Jahrhundert erst zwei Jahre alt war, die in anderen Gegenden Deutschlands Unheil anrichtete. Achim sah die Bilder regelmäßig im Fernsehen. Er wurde sauer wenn er wahrnahm wie schamlos die Politiker die Katastrophe und die Not der Betroffenen für ihre politischen Ziele zu nutzen suchten. Er sah Schröder, Stoiber und Konsorten in ihren Maßanzügen und neuen Gummistiefeln, für die Kameras mit grim- migen entschlossenen Mienen, im seichten Wasser herumstapfen. Die Krawatten hatten sie abgenommen, um so den Eindruck zu ver-mitteln, als würden sie im nächsten Moment selber zupacken. Achim fragte sich ob die Wähler auf solch Schmierentheater hereinfallen würden. Wenn dann die Umfragewerte publiziert wurden konnte er feststellen, dass sie es taten.

„Nun, die Menschen erhalten die Politiker, die sie verdienen.“

Achim brach auf in Richtung Wald. Die Luft war geschwängert mit Pilzduft und entsprechend üppig war seine Ernte. Er präparierte seine Joints an Ort und Stelle und ließ sie an der Sonne trocknen.

Als er wieder zu Hause war kümmerte er sich um die Fischsuppe. Sie musste noch mit einigen Eigelben gebunden werden; außerdem erhält die Suppe dadurch einen feinen und eleganten Geschmack.

Entscheidend waren aber Safran und Pastis. Den Safran bezog Achim aus der Schweiz, aus Mund, einem kleinen Bergdorf im Kanton Wallis. Er war überzeugt, dass es sich bei diesem Safran um den besten der Welt handelte und dem aus Spanien haushoch über-legen wäre. Und nun der Pastis. Achim koche gerne Fischsuppe weil ich dann einen Vorwand hatte mit Hanni ein oder auch zwei Pastis zu trinken.

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Auf dem Hof, hinter ihrem Haus befindet sich eine alte Wasser-pumpe, ein Relikt aus der Vorkriegszeit. Achim hatte alles getan damit die Pumpe erhalten blieb. Sie lieferte nämlich aus dem Brunnen ein Wasser das zum Pastis unvergleichlich gut passte. Das Wasser war weich, eiskalt, auch im Hochsommer und es hatte einen einzigartigen wenn auch nicht genau zu beschreibenden Geschmack.

Er mixte zwei Pastis und rief Hanni. Mit einem bedeutsamen Augen-zwinkern reichte er ihr ein Glas. „Oh fein, du hast uns Pastis gemacht.“ Sie schlürften genüsslich. Hanni legte eine Hand auf ihre Magengegend und stöhnte „man, tut das gut“. Der Pastis schmeckte kräftig und ein bisschen scharf, so wie sie ihn in der Provence kennengelernt hatten.

„Das kommt nur von unserem Wasser“ waren sie sich einig.

„Sobald deine Mutter da ist lege ich noch einige Fischstückchen in die heiße Suppe und schmecke noch mit einem Schlückchen Pastis ab. Dann bringe ich noch Baguette und schon können wir loslegen.“

„Sie kommt um halb acht“ sagte Hanni. Auf einmal sagte sie: „In diesem Jahr hab ich keine richtige Lust zu verreisen, aber ich hab nun schon zugesagt.“ „Es tut dir sicher gut wenn du ein paar Tage Abstand gewinnst, dabei kommen dir sicher neue Gedanken und Ideen.“ „Fährst du mit dem Smart oder mit dem Zug?“ erkundigte sich Achim. Hanni meinte, dass sie am liebsten mit dem Auto verreisen würde wenn das für ihn OK wäre und er den Smart nicht benötigt.

„Schon gut, nimm nur den Smart, ich hab ja das Fahrrad und bin ja versorgt.“

Er prüfte die Baguette, die es gut vertragen konnte aufgebacken zu werden. Fünf Minuten bei hoher Umluft wären OK. Dann ein Stück davon zu einem weiteren Pastis.

Heute wollte er zu seiner Schwiegermutter nett und liebenswürdig sein; das hatte er sich vorgenommen. Und da war sie auch schon.

„N'Abend“ nuschelte sie. „Bon soir“ konnte er sich aber nicht verkneifen. „Auch einen Pastis und ein Stück Baguette?“ erkundigte Achim sich. „Wat, wat dat denn, wie heißt dat Zeugs?“ ranzte sie mit ihrem undefinierbaren Dialekt, mit dem sie sich hie und da aus-zudrücken pflegte. Achim erklärte, dass es sich beim Pastis um einen Apéritif einen Anisschnaps handle der in Frankreich und in der französischen Schweiz gerne getrunken wird.

„Baguette hast du ja schon gegessen als wir in der Schweiz wohnten“

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ergänzte Hanni seine Erklärung. „Brot vor dem Essen, wo jibt’s denn so wat“ maulte sie. „Überall wo man Eßkultur hoch hält“ konterte Hanni, hörbar genervt.

Ihre Mutter nahm gnädig ein Stück Baguette und nippte misstrauisch am Pastis. In einer großen Schüssel trug Achim die Fischsuppe auf. Er hatte noch eine Rouille, eine provenzalische Knoblauchsauce gemacht, die in Frankreich zur Fischsuppe gegessen wird. Es hatte ihm Vergnügen bereitet, küchentechnisch gesehen, eine mariage zwischen Usedomer Fischsuppe und der provenzalischen Knoblauch-sauce zu stiften. Als die Mutter die Suppenschüssel sah knurrte sie „Ach nur Suppe“. Hanni füllte die Teller, ihre Mutter schlürfte und man staune, dachte Achim, sie sieht zufrieden aus.

„Ich habe läuten gehört, dass eure Mieter die Wohnung gekündigt haben.“ Hanni und Achim sahen sich entgeistert an. „Von wem hast du denn das gehört?“ wollte Hanni wissen.

„Man muss sich halt unter Menschen begeben und sich nicht immer nur abkapseln, so wie ihr das macht, dann erfährt man auch eine Menge; und schließlich sind wir hier auf dem Lande.“

„Auf jeden Fall, hmm... die Suppe ist gut, hab ich eine tolle Idee.“ Bei Achim schrillten Alarmglocken; wenn sie lobt und schmeichelt, dann will sie etwas. „Was denn für eine Idee“ erkundigte sich Hanni.“ Nu, da die Wohnung frei wird könnte ich doch darin wohnen. Ich würde euch die gleiche Miete bezahlen.“ Sie sah Hanni und Achim erwartungsvoll an. Eiskalte Wut packte Achim, gleich-zeitig versuchte er Zeit zu schinden. Hanni sah ihn an. Er nahm den Brotkorb und hielt ihn der Schwiegermutter hin. „Möchtest du?“ „Gern“ säuselte sie. Dann sagte er: „Das ist eine umwerfende Idee“ und dachte dabei, dass er sich ihre Pläne auf gar keinen Fall vermas-seln lasse. „Es wird aber Frühling, bis du bei uns einziehen kannst“ sagte er noch. „Warum willst du eigentlich umziehen?“ interessierte sich Hanni. „Also so fragen kannst auch nur du. Ich will euch unterstützen, denn bei der heutigen wirtschaftlichen und politischen Lage, die übrigens Rot-Grün zu verantworten hat, wird es nicht einfach sein neue Mieter zu finden. Und dann hatte ich noch gedacht, dass es euch freuen würde wenn ihr keine Fremden mehr im Haus habt und ich in eurer Nähe sein kann.

Achim warf Hanni einen kurzen Blick zu: „Lass mich nur machen.“

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Achim kommentierte die unsinnige Anspielung auf Rot-Grün nicht und sagte stattdessen: „Auf die Idee wären wir gar nicht gekommen, aber ich muss sagen, dass mir deine Idee je länger desto besser gefällt, und dass wir uns freuen; Hanni ganz besonders, das ist doch klar.“

Hanni und ihre Mutter sahen ihn überrascht an. Achim wusste noch nicht wie aber er würde den Zuzug seiner Schwiegermutter verhin-dern. Sein Instinkt hatte ihm gesagt, dass er jetzt gute Miene zu diesem Spiel machen müsse und nichts Unüberlegtes sagen sollte. „Das ist wirklich großartig, dass ihr das auch so seht“ meinte sie und schüttete ihren Pastis in einem Zug runter. Die darauf folgende Reaktion hatte Achim kommen sehen. Seine Schwiegermutter bekam ein brüsiges Gesicht und verschwand auf der Toilette.

Hanni fragte Achim ob das ernst von ihm gemeint war.

Achim hatte beschlossen die ganze Geschichte konsequent durchzu-ziehen. Darum sagte er: „Weißt du, so dumm ist das alles gar nicht; vielleicht sollten wir an unserer ursprünglichen Idee nicht so fest-halten und auch diese Alternative überlegen; wir sollten immer flexibel sein. Schließlich nehmen wir eine Menge Geld ein und Platz für ein Büro hätten wir auch so.“ Hanni nickte. „Ich bin froh, dass du so reagierst, noch weitere Konflikte mit ihr wünsche ich mir wirklich nicht. Aber du sagst mir gelegentlich was du wirklich vor hast gell?“ „Nun reise du erst mal nach Thüringen. Und wenn du zurück bist sehen wir weiter.“ Hannis Mutter kam von der Toilette zurück und stöhnte: „Mein Gott, das ist ja ein mörderisches Gesöff. Das geht einem ja durch und durch.“

„Ich habe noch einen wunderbar reifen Camembert aus der Norman-die, wie wär’s?“ Hannis Mutter lehnte dankend ab, Hanni selber signalisierte Zustimmung. „Aber bitte begleitet von einem schönen Calvados.“

Hannis Mutter hatte erreicht was sie erreichen wollte. Sie verabschie-dete sich und fragte Hanni wann sie von ihrer Reise zurück wäre.

„Wahrscheinlich am nächsten Dienstag“ log sie „Ich werde mich bei dir melden“.

„Warum hast du eine falsche Auskunft gegeben?“ fragte Achim ein wenig verwundert. „Damit wir noch ungestörte Zeit für uns haben.“

Sie genossen den Camenbert mit Baguette und dem Calvados und beschlossen so den Tag.

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Hanni war schon am frühen Morgen abgereist. Achim war froh, er hatte schlecht geschlafen und keine Neigung verspürt viel zu reden. Es hatte ihn richtig wütend gemacht was seine Schwiegermutter gestern abgezogen hatte.

„Wie konnte sie es wagen, sich dermaßen über uns hinwegzusetzen, unsere Pläne zu durchkreuzen und unser Leben zu beeinflussen?“

Solche und ähnliche Fragen geisterten ihm dauernd durch den Kopf. „Ich werde sie mit einer ihrer Inkontinenzwindeln erwürgen; aber wahrscheinlich braucht sie nicht mal eine.“ Hanni und er würden im nächsten Jahr sechzig Jahre alt die Mutter achtzig. „Auch das noch!“ Seit er seine Schwiegermutter kennenlernte hat sie sich verändert. Sie war sichtbar älter geworden, logisch. Sie war voller Abneigung, man könnte auch sagen voller Hass auf alles Fremde, auf Amerikaner, auf Farbige, Nigger genannt, Russen waren Russkis und Polen Pollacken. Sie forderte lauthals, dass Swinemünde wieder deutsch werden müsse und vergaß dabei, dass die dort geborenen Polen die jetzigen Swinemünder waren. Als Achim sie fragte was sie denn denke was aus den jetzigen Swinemündern werden solle, zuckte sie mit den Achseln und bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. Sie lamentierte wie verbrecherisch sich Russkis, Amis und Eng-länder im Krieg verhalten hätten und verdrängte dass Deutschland den Krieg angefangen hatte von den Gräueltaten der Wehrmacht und SS ganz zu schweigen. In einem war sie aber unverändert: Sie war dick, krachgesund, robust und rüstig. Achtzig Jahre gab man ihr nicht, höchstens siebzig. Mit einer baldigen biologischen Lösung war wahrscheinlich nicht zu rechnen.

Eine klare Absage an die Idee seiner Schwiegermutter hätte einen endgültigen Bruch zwischen Hanni und ihrer Mutter nach sich gezogen. Das konnte und wollte er Hanni nicht zumuten, trotz allem was diese Frau ihnen schon alles angetan hatte.

Mordgedanken kamen ihm. „Wie wär es sie zu vergiften?“ Er kam zu dem Schluss, dass dies keine optimale Lösung wäre, denn mit den Möglichkeiten über die heutige Kriminalisten verfügen, könnte man ihn ganz schnell als Täter überführen. Und damit wäre auch sein Leben vorbei.

Aber die Idee seine Schwiegermutter aus dem Weg zu schaffen hatte sich in ihm festgesetzt. Seine Gedanken kreisten ständig um diese Option; eine Lösung musste her.

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Achims Ausflug in den Thurbruch hatte spaßig werden sollen. Jetzt geisterten Mordgedanken in seinem Kopf umher. Er trank einen weiteren Kaffee und ging dann zur Garage um sein Fahrrad zu holen. Sie hatten sich Fahrräder mit drei Rädern gekauft, bei denen vorne ein Korb montiert war. Das war praktisch; er hatte so seine Kamera und Objektive immer griffbereit und man konnte Einkäufe verstauen. Diese Dreiradversion hatte aber noch einen Vorteil: Man musste nicht absteigen wenn man fotografieren wollte. Achim trödelte vor sich hin während er die Vorbereitungen für seinen Ausflug traf. Er packte einige Flaschen Mineralwasser in den Rucksack, seine Joints und Streichhölzer, sein Schweizer Offiziersmesser, eine Rolle Toilet-tenpapier und ein Paket getrocknete Feigen. Der Militärschlafsack stammte auch aus Schweizer Armeebeständen und durfte nicht fehlen; genauso nötig war ein Regennerz für alle Fälle. Auf die Hasselblad montierte er ein CF 80mm-Objektiv und ein Filmmagazin mit vierundzwanzig Aufnahmen. Er hatte einen Schwarzweißfilm eingelegt; nach Jahren der Farbfotografie wollte er mit Schwarzweiß experimentieren. Sein Ausflugsziel schien ihm geeignet für dieses Experiment. Achim war startbereit.

Eine Zeit lang fuhr er auf der stark frequentierten Hauptstraße um dann in eine Nebenstraße abzubiegen. Ziel war der Kachliner See. Er wollte dort den Tag verbringen, bevor er sich zum Übernachten in den Wald aufmachte. Am See angekommen legte er sich in die Sonne und döste vor sich hin obwohl er eigentlich Fotos machen wollte. Da er in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen hatte fiel er jetzt in Tiefschlaf und erwachte erst als ihn ein kühler Luftzug streifte. Achim blinzelte und sah, dass die Sonne bereits tief stand. Seine Uhr zeigte schon fast sechs an. Nach einem kräftigen Schluck Mineralwasser entschloss er sich noch ein wenig zu warten und dann die Abendstimmung am See zu fotografieren. Aber das Licht war nicht gut und so ließ er seine Absicht sein und schwang sich auf das Fahrrad. Sein Ziel war ein vergessener Hochsitz im Wald, den er mal zufällig entdeckt hatte. Er stammte wahrscheinlich aus DDR-Zeiten und hatte Parteibonzen gedient, den verpönten bürgerlichen Freuden, wie der Jagd zu frönen. Der Waldweg war stark zugewachsen, darum schob er sein Dreirad den Rest des Weges bis zum Hochsitz.

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Der sah zwar nicht sehr vertrauend erweckend aus aber Achim hatte ihn schon öfter getestet und benutzt und er hatte sich als stabil erwiesen.

Achim schleppte seine Bagage auf den Hochsitz, zog eine Jacke an und rollte den Schlafsack aus; er ließ die Geräusche des Waldes auf sich einwirken. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich ausschließlich aufs Hören ohne die wahrgenommenen Geräusche zu definieren. Hier im Wald wurde es früh dunkel.

Achim konzentrierte seine Gedanken auf sein bisheriges Leben und zündete einen ersten Joint an. Er inhalierte tief. In ungefähr einer dreiviertel Stunde würde die Wirkung eintreten. Er rauchte einen zweiten Joint, denn er wollte einen intensiven Trip erleben.

Ihm wurde schwindlig und er stürzte in schwarze Tiefe und wurde in einer unglaublichen Farbkaskade emporgeschleudert.

Ihm erschienen Bilder wie in einem Film, der zu schnell abgespult wird, weichgezeichnet, wie durch eine Scheibe über die Wasser fließt. Die Bilder wurden wieder schärfer.

Fast überdeutlich begannen sich die für ihn wichtigen Ereignisse seines Lebens abzuspulen.

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Ich stand neben einem Bett, ein Toter lag darin. Das Gesicht war quarkweiß und scharf geschnitten, mit gebogener Nase. Ich hatte mir vorgestellt, dass Indianer so aussehen müssten, jedenfalls nach den Indianergeschichten, die ich gelesen hatte.

Aber es war mein Großvater, der da vor mir lag. Gestorben an Herzkranznapfverkalkung, stellte der Arzt fest und schrieb diese Diagnose auf dem Totenschein.

Es war im Januar 1953. Großvater hatte sich mit Astrologie beschäftigt. Er besaß eine umfangreiche Sammlung astrologischer Bücher, die ihm in den Sarg gelegt wurden. Warum hatte ich nicht verstanden; ich hätte die Bücher später auch gerne lesen wollen.

März 1953, Josef Stalin war gestorben, überall Bilder von Stalin mit Trauerflor; staatlich verordnete Tiefsttrauer.

Sommer, Ferien. Ich saß an der Promenade auf einer Bank. Aus Richtung Swinemünde ein lauter Knall und schwärzlicher Rauch. Ich rannte los, denn ich wollte unbedingt wissen, was da passiert war. Als ich an die Kreuzung Seestraße/Dünenstraße kam, bog schon das erste Feuerwehrauto so rasant um die Kurve, dass es fast umgekippt wäre. Ich inspizierte den Explosionsort, eigentlich ein kleiner Rummelplatz, die urlaubenden Werktätigen mit ihren Kindern sollten sich hier erholen und amüsieren. Jetzt lagen überall verstreut Tote, Schwerverletzte und Körperteile. Schreiend rannten Menschen umher. Vor mir lag eine Frau, sie war nackt und wahrscheinlich tot. Ich überlegte, warum die Tote nackt war und warum sie total unversehrt war, es waren keinerlei Verletzungen zu sehen. Zum ersten Mal sah ich eine nackte Frau. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich war zu meiner Verwunderung weder erschrocken noch schockiert über das Geschehene. In aller Ruhe betrachtete ich die Leichen und machte mich dann auf den Nachhauseweg, um meinen Eltern zu berichten.

Die kamen mir auf halbem Weg entgegen; auch sie hatten die Explosion gehört und machten sich Sorgen, weil ich mich oft auf dem Rummelplatz aufhielt.

Die Ursache für das Unglück war eine explodierte Gasflasche, mit der Luftballons aufgeblasen wurden. Putzkolonnen, mit Eimern und

Schrubbern bewaffnet, reinigten die Straßen von Blut, nachdem die Verletzten und Toten abtransportiert waren.

Das Unglück wurde von den Behörden totgeschwiegen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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