Leise Musik aus der Ferne

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Was ich dagegen vorfand, waren entfremdete Gesichter. Alle klatschen über den armen Onkel Johann, der sich so sehr betrinkt. Oder über Onkel Ewald (na ja, wenigstens dieser war mir nie besonders lieb) mit seiner Drogenabhängigkeit. Rollo ist zum Militär gegangen und hängt jetzt daran fest wie an einer Kette. Die Heide hat sich mit irgend so einem Kerl verheiratet und ich habe sie nicht mehr gesehen. Gesche und Gesine sind zwei einfältige Geschöpfe, sie haben außer Kleidern und dem Tanzen keinerlei Interessen. Der Klumpfuß ist heute der vornehme Herr Josef Rembowski, geschäftsführender Direktor der Backwarenfabrik Rembowski und Sohn, der mich mit einem strafenden Blick ansieht, als ob ich die Schuld an seinem verwachsenen Fuß trüge. Alles ist so verändert. Es ist wirklich zum Heulen!

Das Leben spielt verrückt. Ich habe oft den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, bis in das Jahr, in dem ich sieben war. Damals war die Welt noch wirklich in Ordnung.

Onkel Suhl war für mich ein wahrhaftiger Zauberer. Wenn ich sein gelbliches Gesicht, seinen weißen Spitzbart und seine kleinen Äuglein sah, überkam mich eine köstliche Empfindung. Es war keine wirkliche Angst, aber wiederum war mir doch bange. Eine Art Respekt, oder besser gesagt eine Mischung aus Empfindungen, in der auch Bewunderung enthalten war. Onkel Suhl führte uns Zauberstücke vor, die uns unheimlich erschienen. Er griff an meine Nase und zog ein Ei aus ihr heraus. Alles lachte, auch Onkel Suhl mit seinem grunzenden Unterton, und ich war so sehr verlegen, dass ich mit offenem Mund stehen blieb.

Am meisten beeindruckte mich das geheimnisvolle Haus von Onkel Suhl in der Kaiserstraße. Es hat ein oberes Stockwerk und alle munkelten, dass der Alte nicht geheiratet hatte, weil er zu Hause eine Hexe versteckt hielt, die am Tage die Gestalt einer Krähe annahm und auf die Felder flog, um sich Nahrung zu suchen. Auch ich glaubte fest daran. Mich befiel eine furchtbare Angst vor diesem Hause, andererseits aber eine unwiderstehliche Neugier, dort hineinzugehen. Wie an dem Tage, wo wir alle bei Onkel Suhl waren und durch sein Teleskop den Mond beobachteten. Viele Leute in Oldenmoor kamen damals bei Nacht in Onkel Suhls Haus. Er erklärte ihnen alles, benannte die Entfernung des Mondes zur Erde, zeigte ihnen die erloschenen Vulkane und sagte mysteriöse Worte, die niemand verstand. Als ich damals durch das Rohr guckte, sah ich keinen Mond, keine Krater, nichts von dem, was Onkel Suhl vorbrachte. Ich sah lediglich eine weiß schimmernde, undefinierbare Kugel. Aber als Onkel Suhl mich fragte, ob ich dies oder jenes gesehen hatte, bejahte ich vor lauter Angst. Als wir dann später gingen, sagte er uns noch: „Ihr müsst am Tage des Heiligen Nimmerlein wiederkommen!“ Ich habe diese Worte nie vergessen, sie damals auch nicht so recht begriffen. Jedenfalls bin ich nie wieder in diesem Haus gewesen. Und dies ist jetzt schon länger als acht Jahre her.

Onkel Suhl ist auch heute noch der engste Freund der Familie. Er hat noch dasselbe Gesicht, er hat sich nicht verändert. Manchmal erscheint er unverhofft und bringt seine Flöte mit, um bei uns zu spielen. Er liebt die Daheim-Kalender sehr und jedes Jahr bringt er mehrere Ausgaben mit, die er unter uns verteilt. Er murmelt dabei immer wieder: „Leider konnte ich dieses Jahr die Darmstädter Kunstzeitschriften nicht bekommen, die sind ja führend für den guten Geschmack …“ Überhaupt gibt er ständig unverständliche Sätze von sich, dieser kauzige, liebenswerte Onkel Suhl!

In der letzten Zeit habe ich sehr intensiv über ihn nachgedacht. Man erzählt sich so vieles über ihn. Jetzt, wo ich nicht mehr an Hexen und Magie glaube, versuche ich in das geheimnisvolle Leben dieses rätselhaften Menschen einzudringen. Weshalb wird er wohl nicht geheiratet haben? Es muss wahrscheinlich in seiner Jugend eine große, unerfüllte Liebe gegeben haben. Ich bin mir nicht ganz so sicher, ob es vielleicht Tante Alexandra gewesen sein mag. Wenn er manchmal des Abends bei uns ist und auf seiner Flöte spielt, scheint es mir, als ob er ihr heimliche Blicke zuwirft, die einem sehr zu denken geben. Ach, könnte ich nur eines Tages in Onkel Suhls Haus eindringen, um sein Geheimnis aufzudecken.

Ich kann eben doch nicht recht glauben, dass sich das Leben so sehr von den Romanen unterscheidet.

Ich höre soeben einige Geräusche da unten. Wahrscheinlich ist es Hein, der seine Verlobte besucht. Ich kann die beiden selbstverständlich von hier aus nicht beobachten, aber ich könnte wetten, dass er ihr wieder die billigen Lutschbonbons mitgebracht hat. Tante Therese behauptet, dass er ihr anfänglich die köstlichsten und teuersten Pralinen mitbrachte. Nach und nach wurden diese durch einfachere Bonbons ersetzt, und heute gibt es nur noch eine kleine Tüte voll klebriger Karamell-Plombentrecker. Eigenartig. Sie behauptet, dass er sie wegen Geldmangels noch nicht heiraten könne. Wenn er dagegen das gesamte Geld, das er in all diesen Jahren für Pralinen und Bonbons ausgegeben hat, in den Bau eines Hauses gesteckt hätte, könnten die beiden sicherlich heute dort einziehen. Es könnte allerdings auch sein, dass dieses gesamte Geld nicht für den Bau eines Hauses ausgereicht hätte, ich bin ja im Rechnen nicht so gut bewandert und mit den Baupreisen kenne ich mich auch nicht aus.

Eben bin ich ans Fenster gegangen und habe hinausgesehen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Es schien, als ob alles ausgestorben wäre.

Als ich dann die Esche hinten im Garten erblickte, musste ich mich an unsere Kinderspiele erinnern. Klumpfuß war mein Papa (man stelle sich dies nur einmal vor!). Rollo war mein Page, wie in den Romanen. Gesche und Gesine waren meine Gesellschaftsdamen. Ich war die „Prinzessin von der madigen Erbse“. Es war Heiko, der mir diesen Namen verpasste. Ich war damals sehr böse auf ihn. Ich hatte doch einen schönen, einen romantischen Namen erwartet. Das Spiel war sehr spannend. Heiko, der Deichkater, war ein Räuber, der kam und mich entführte. Als er dies erfuhr, kam Klumpfuß laut schimpfend angehumpelt, rief Rollo und sagte: „Hole schnell die Pistolen, wir verfolgen den Lump, der die Prinzessin entführt hat!“ Heiko schleppte mich an das andere Ende des Gartens in ein Gebüsch, das hinter dem Brunnen wuchs. Er hatte sich ein Tuch um das Gesicht gebunden, wie die Banditen im Kino, und hielt mich an den Handgelenken fest. Ich flehte ihn an: „Deichkater, drücke nicht so fest, du tust mir ja weh!“ Er aber drückte noch fester zu und brüllte wie ein Löwe. Dann kamen Klumpfuß und Rollo, mit Hölzern bewaffnet, die wie Pistolen aussahen. Der Deichkater ließ ein zynisches Gelächter los, wie in einem Theaterstück, das ich im Colosseum einmal gesehen hatte, und rief ihnen zu: „Ihr kriegt sie nur über meine Leiche!“ Der Klumpfuß schrie: „Feuer auf ihn!“ Beide erhoben ihre Waffen, zielten auf den Deichkater und riefen: „Peng! Peng!“ Aber Heiko lachte sie aus und blieb stehen. Den Spielregeln zufolge hatte er verwundet hinzufallen, aber er richtete sich nie danach. Wütend schoss Klumpfuß erneut: „Peng! Peng!“ Gesche und Gesine verfolgten den Kampf von Weitem. Klumpfuß hieß ihn: „Stirb doch, Heiko!“ Darauf stürzte sich der Deichkater auf den Josef, nahm ihm die Waffe weg und zwang ihn zu Boden. Der Klumpfuß stand auf, rot vor Wut, und humpelte dem Banditen hinterher. Dieser aber kletterte mit Leichtigkeit auf die Esche und bewarf uns alle von oben mit den Samenhülsen, die er zuvor von den Ästen abgetrennt hatte. Klumpfuß hatte eine grenzenlose Wut, konnte er doch wegen seiner Behinderung nicht auch auf den Baum klettern. Eines Tages war sein Groll derart gewaltig, dass er einen großen Stein in den Baum warf und Heiko damit am Kopf traf. Als er bemerkte, dass sein Spielgefährte am Kopf blutete, lief er erschrocken weg und verkroch sich in der Bäckerei seines Vaters.

Der Deichkater kletterte, ohne zu weinen, vom Baum herunter und sagte mit dramatischem Tonfall: „Ich bin tödlich verwundet: Ich sterbe für mein Vaterland! Lebt wohl!“ (Auch dies stammte aus dem Theaterstück im Colosseum. Es war am Ende, bevor der Vorhang fiel.) Gesche und Gesine begannen laut zu heulen. Ich war furchtbar erschrocken und hatte Tränen in den Augen, während Rollo den Papa herbeiholte. Als Heiko sah, wie erschrocken wir waren, ließ er sich auf den Boden fallen und wälzte sich hin und her. Aber als der Papa erschien, stand er rasch auf, klopfte sich den Staub von seiner Kleidung und gab sein lautes, freches Lachen von sich. Man verarztete die Kopfwunde mit Jod, aber der Deichkater zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als die Operation beendet war, war er sehr stolz auf die Bandagen um seinen Kopf, sah er doch jetzt wie ein wahrhaftiger Verwundeter aus. Er sagte später zu Rollo: „Gehe hin und sage dem Klumpfuß, dass ich nicht böse auf ihn bin.“

Um beim Deichkater zu bleiben: Ich weiß nicht recht, was ich heute von ihm halten soll. Manchmal erscheint es mir, dass er irgendetwas verheimlicht, irgendetwas sehr Mysteriöses; dagegen kommt es mir andere Male vor, dass er einfach ein ungezogenes Geschöpf ist, das die Älteren stets auf Trab hält und ihnen Verdruss bereitet. Tante Alexandra ist die Einzige, die mit ihm Geduld hat, weil Heiko der Sohn ihrer Tochter Elisabeth ist, die kurz nach seiner Geburt als Zwanzigjährige verstarb. Ich kann Heiko einfach nicht verstehen. Er ist unfolgsam, arbeitet nicht gern und wollte auch nicht studieren.

Würde er sich ordentlich benehmen, könnten wir sogar Freunde werden. Aber so ist es leider unmöglich. Ich kann den großen Schrecken nicht vergessen, den er mir einjagte, als er mich damals in den dunklen Keller sperrte.

Der Klumpfuß geht an mir vorbei, als ob wir nie Spielgefährten gewesen wären. Er grüßt immer sehr vornehm und zieht dabei den Hut. Oft hatte ich schon Lust, ihm zuzurufen: „Was ist, Klumpfuß, weißt du denn nicht mehr, wer ich bin? Hast du die Zeiten vergessen, als wir alle unter der hohen Esche saßen und Zwieback mit Honig gegessen haben? Du hattest immer Hosen an, die an einer gewissen Stelle geflickt waren, erinnerst du dich nicht? Heute tust du so vornehm! Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“

 

Aber auch ich sage nichts und erwidere ebenso ernst seinen Gruß. Wenn Klumpfuß einen Ball besucht, steht er meistens im Hintergrund, an eine Wand gelehnt, und blickt traurig auf die Tanzenden. Der Arme kann ja nicht mitmachen. Vielleicht ist er deswegen so kontaktarm.

Eines Tages, beim Kirchen-Basar, stand er neben mir und war derart verunsichert, dass er kaum sprechen konnte; er verhaspelte sich andauernd, entschuldigte sich und sagte, es sei ihm unerträglich heiß. Während er mit mir sprach, beobachtete ich, dass er sehr bemüht war, seine Missbildung zu verstecken. Natürlich tat ich so, als ob ich es überhaupt nicht bemerkte.

Stehe ich gelegentlich am Fenster, wenn er unten vorbeigeht, beobachte ich, dass er errötet, versucht zu gehen, ohne zu humpeln und nicht genau weiß, was er mit seinen Händen anstellen soll.

Wahrscheinlich ist es meine eigene Schuld. Ich sollte nicht so viel beobachten und außerdem damit aufhören, immer darüber nachzudenken. Ach, könnte ich doch nur einfach leben und glücklich sein! Wenn man so viel beobachtet, entdeckt man all das, was auf dieser Welt so hässlich ist!

Als ich anfing zu schreiben, war es zwei Uhr. Jetzt ist es fast schon fünf. Die Zeit verging so schnell und ich bin nun etwas freundlicher gestimmt. Clarissa und ich sind zwei gute Freundinnen, wir verstehen uns bestens. Obwohl es wiederum traurig ist, feststellen zu müssen, dass ein solches Verständnis nur mit sich selbst möglich ist. Mit den anderen, wie sehr man auch mit ihnen befreundet sein mag, gibt es immer wieder Differenzen und Meinungsverschiedenheiten, die dazwischenkommen. Es sollte ja eigentlich nicht so sein, aber so ist es eben.

Heute Abend gehen wir ins Kino. Morgen früh beginnt wieder der Ernst des Lebens: Es geht schon früh auf, in die Schule. Ich vermisse meine Schüler bereits. Der Einzige, den ich nicht mag, ist der Rektor mit seinem verkniffenen Gesicht. Aber was kann ich schon dagegen tun?

Ich hab es ja schon mal geschrieben, aber sollte irgendwann dieses Tagebuch jemandem in die Hände fallen, sterbe ich auf der Stelle vor lauter Scham! Ich habe schon oft daran gedacht, dass es besser wäre, alles zu zerreißen. Wenn ich in der Schule bin, erschrecke ich auf einmal, mitten im Unterricht: Ich stelle mir vor, jetzt geht gerade jemand in mein Zimmer, findet das Tagebuch und fängt an zu lesen. Um Gottes willen, was würde er bloß denken?

Aber niemand liest es. Dieses Buch wird mit einem Schlüssel sicher verschlossen. Was ist dies nur für eine traurige Welt, in der man alles mit Schlüsseln versperren muss …

Seht mal her, ich habe meine schriftstellerische Ader entdeckt. Schreiben tut einem sehr wohl, die Zeit vergeht rasch und angenehm und man fühlt sich danach so erleichtert. Der Papa erzählt immer, dass mein Urgroßvater, der General auf dem Bild, sehr gern schrieb. Habe ich es gar von ihm geerbt? Aber nein, er war ja auch sehr tapfer, während ich ein Angsthase bin, der sich sogar vor Spinnen fürchtet.

7. Eintönigkeit

Die Tage vergehen. Clarissa geht zur Schule, kommt zurück, geht immer dieselben Straßen entlang, sieht stets die bekannten Häuser und Gesichter, hört die gleichen Begrüßungen und Phrasen. Zu Hause angekommen, nimmt sie am Tisch Platz, blickt in das grimmige Gesicht des Papas, das gallig-gelbe Angesicht der Tante Therese, das Märtyrerantlitz der Mama; sie hört das ständige Lamentieren über Geldmangel und Schulden. Zieht sie sich dann auf ihr Zimmer zurück, verbringt sie ihre Zeit mit Lesen, Schreiben, Aus-dem-Fenster-gucken, Schlafen, Träumen. Und wenn sie am nächsten Tag aufsteht, beginnt der ganze Ablauf wieder von vorn.

Ist dann endlich der Samstagabend gekommen, läuft ebenfalls das übliche Ritual ab: Die Familie ist beisammen. Onkel Johann breitet sich auf dem Sofa aus, die Hände über dem umfangreichen Leib gefaltet, seufzt, wiederholt ständig sein „Ach, mein lieber Gott!“ und geht dann weg, um in der Kneipe seinen Weltschmerz in mehreren Litern Bier zu ertränken. Ewald wandert ruhelos hin und her, spricht über Politik, hüstelt, zwirbelt seinen Schnurrbart zurecht. Steckt er sich eine Zigarre an, zieht er ein paar Mal daran und geht dann mit den Worten ins Freie: „Ich gehe lieber hinaus und rauche draußen, damit ich euch nicht so sehr mit dem Zigarrenrauch belästige.“ Es ist auffällig, wie ruhig und unbeteiligt er ist, wenn er wieder hereinkommt. Er sitzt in seiner Ecke, rührt sich kaum und sagt nichts, bis der Tee getrunken wird. Die Mama und Tante Alexandra unterhalten sich natürlich über neue Strickmuster. Im Salon nebenan streiten sich Tante Therese und Hein sehr leise, wie üblich um nichts, nur um die Gewohnheit aufrechtzuerhalten. Manchmal hört man eine Lokomotive pfeifen, ein Auto hupen, Hunde bellen, Katzen miauen, die Trompete aus der Garnisonskaserne, die melancholisch den Zapfenstreich in die Nacht hinausschmettert. Schlägt dann die Uhr dumpf zehn Mal, schrecken alle auf, als ob Gespenster in der Ecke erschienen wären, wünschen „Gute Nacht“ und gehen schlafen.

An den Sonntagen holen Gesche und Gesine Clarissa zur Kirche ab. Stets erscheinen dieselben Leute in denselben Sonntagskleidern. Die Kirche hat denselben Geruch, der Pastor immer den gleichen nasalen Ton, seine Predigt ist jedes Mal monoton und sterbenslangweilig.

Zum Mittagessen gibt es stets einen Sonntagsbraten; allerdings ist dieser mit der Zeit ziemlich eingeschrumpft: In dem Maße, in dem das Stück Fleisch kleiner wurde, wuchs die Anzahl der Kartoffeln. Pünktlich um drei Uhr erscheint dann Hein Piepenbrink mit seiner billig erstandenen Tüte Karamellen.

Das gesamte Leben in Oldenmoor ist ebenfalls einer lähmenden Routine verfallen. Sonntags, so gegen elf, spielt die Blaskapelle des Infanterie-Regiments No. 27 auf dem Podium, das auf dem Platz vor dem Colosseum aufgestellt wird. Unter der Leitung ihres Dirigenten, eines dicken, immer schwitzenden und schlecht gelaunt aussehenden Hauptmanns, vergewaltigen die Bläser Märsche, Polkas, Walzer und Heimatweisen. Während die Vormittagsluft voller Töne schwingt, spaziert man ständig hin und her, grüßt höflich diesen und jenen, beobachtet, wer jetzt von wem begleitet wird. Man weiß, wer mit wem verlobt ist und bald heiraten wird: Konditor Franz Petersen mit Lisa Redeker, sie ist die Apothekertochter, seine Cousine zweiten Grades. Alfred Lorenzen, der Schuster aus Eutin, der erst kürzlich den Laden des alten Meisters Adler übernommen hat, mit dessen Tochter Ulrike, die acht Jahre älter ist als er.

Sonntagnachmittags treffen sich die jungen Leute im Colosseum zum „Fünf-Uhr-Tee“, zum Tanzen. Früher nannte man es „Five O’Clock Tea“, aber in der letzten Zeit gibt es eine immer stärker werdende Neigung, ausländische Namen und Bezeichnungen durch deutsche Wörter zu ersetzen. An den Abenden trifft man sich dann oft im „Bildpalast“, dem Kino, in dem Herr Ehlers diejenigen Filme zeigt, die sich nach jahrelangem Hin- und Herreisen endlich nach Oldenmoor verirrt haben. Auf der Leinwand öffnen die Helden ihre Münder und ihre Stimmen erklingen, wenn überhaupt, blechern, fremd und unnatürlich. Dann geht plötzlich das Licht an und Clarissa blickt überrascht und ungläubig auf die leere, weiße Leinwand …

Während mancher Nacht kommt es auch zu Streit und Schlägereien; mitunter wird auch mal geschossen. Es gibt da neuerdings eine stets zunehmende Gruppe von aggressiven Männern in braunen Uniformen mit Hakenkreuz-Binden an den Ärmeln, die streitlustig von Kneipe zu Kneipe ziehen, provozierend laut ihre kämpferischen Lieder singen und jeden brutal zusammenprügeln, dessen Gesicht sie nicht mögen. Treffen diese Schergen auf jene Gruppen von Arbeitern, die sich Kommunisten oder Sozialisten nennen, dann gibt es kein Halten mehr. Die Ortspolizei tut oft so, als ob sie das Ganze gar nicht bemerke oder hierfür überhaupt nicht zuständig sei. Wird sie gerufen, trifft sie so spät wie möglich ein und verhaftet dann meistens die Arbeiter. Es scheint, als ob sie vor den Braunhemden zu viel Respekt oder gar Angst hat.

Am nächsten Tag werden diese Ereignisse am Marktplatz, in den Geschäften und Gastwirtschaften ausgiebig diskutiert. Einige ergreifen Partei für die Braunen, die sich „SA“ nennen und den Nationalsozialisten – den Nazis – angehören. Weniger laut sind diejenigen, die den Roten, den Kommunisten und Sozialdemokraten, recht geben. Daraus entstehen oft weitere Streitereien, die in Schlägereien ausarten. Die Politik drängt sich in den Vordergrund und setzt sich mehr und mehr in Szene, die Argumente werden lauter, die Diskussionen heftiger, die Tätlichkeiten häufiger.

Aber das Leben geht weiter.

Und Clarissa beobachtet sehr genau das Leben in ihrer Stadt. Sie sieht, fühlt, untersucht eingehend die Geschehnisse und analysiert sie. Sie stellt sich vor, wie das Leben sein könnte. Für sie haben alle Menschen, die ihr begegnen und die sie zu sehen bekommt, zweierlei Seiten: die tatsächliche und diejenige, die sie ihnen verleiht, sozusagen als Ergebnis ihrer Überlegungen. Clarissa bemüht sich stets, jedem Menschen einen eigenen Farbton zu verleihen, einen, der immer brillanter und schöner ist als der, den die gewöhnlichen Augen der anderen Beobachter erfassen können.

Da geht zum Beispiel der Barbier Voss auf der Straße vorbei. Er sieht aus wie ein armer Teufel. Trotz seines Berufes geht er fast immer unrasiert umher, mit seinem traurigen Augenausdruck, der einem geprügelten Hund ähnelt. Mager, gebückt und kraftlos schleift er seine Beine durch die Gegend. Man sagt ihm nach, er sei ungebildet, könne kaum lesen und schreiben, sei bösartig, ein Intrigant und dass er sich am Wochenende immer mit Köm sinnlos betrinke. Da geht er nun, die Barbiertasche unter den Arm geklemmt, mit seinem eigenartigen Gang, der an ein müdes Kamel erinnert. Herr Voss! Eine unsympathische, unsaubere, ja fast widerliche Erscheinung. Aber Clarissa sieht ihn ganz anders und weigert sich, diese Realität anzuerkennen. Selbstverständlich ist eine unglückliche Liebe daran schuld, dass er derart verkommen ist. Als er jung war, war auch er gut aussehend, gepflegt, kräftig und er bewahrte Haltung. Er war sehr in seine Frau verliebt. Eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause kam, fand er das Nest leer vor: Die Frau war mit einem anderen Mann durchgebrannt, wahrscheinlich mit einem Reisenden … Danach begann Herr Voss zu trinken, vernachlässigte sich selbst und ist dadurch heruntergekommen. Es muss einfach so gewesen sein …

Für Clarissa gibt es keine hässlichen Kreaturen, weil sie sich in ihrer Fantasie immer eine passende Geschichte zurechtlegen kann, um solche Tatsachen zu beschönigen.

In der Schule, vor ihren Schülern, ist sie oft in ihre Gedanken vertieft. Sie erfindet eine eigene Geschichte für jedes dieser Gesichter. Dieser wohnt im Arbeiterviertel, er ist der Sohn eines Infanteriefeldwebels. Jene wohnt in der besten Gegend Oldenmoors, in einem wunderschönen, reetgedeckten Haus, und ist der Liebling ihrer Eltern. Der andere ist der einzige Sohn einer Witwe und ist sehr lieb zu seiner Mutter.

Clarissa denkt auch viel über ihre Familie nach. Der greisen Tante Alexandra fallen manchmal die etwas konfusen Geschichten ihrer Jugend wieder ein. Einmal zeigte sie Clarissa Fotos ihres verstorbenen Gatten, eines äußerst gut aussehenden Leutnants der Kavallerie. Er hatte freche Koteletten und strahlte freundlich, aber bestimmend von dem Bild. Mit ihrer brüchigen Stimme erzählte sie: „Mein Papa, dein Urgroßvater, der liebe Gott habe ihn selig, gab eines Tages einen großen Ball, zu Ehren Kaiser Wilhelms. Ich war damals siebzehn Jahre alt und sehr begehrt …“ An dieser Stelle hielt sie inne, lächelte mit ihrem zahnlosen Mund und ihre sonst schon trüben Augen erhellten sich. „Auf diesem Ball lernte ich Leutnant von Aulendorf kennen.“ Tante Alexandra betonte besonders den Namen, als ob sie ihn unterstreichen wolle. „Wir tanzten sehr lange miteinander und unterhielten uns danach draußen im Garten. Er sagte mir, dass ich die schönste junge Dame sei, die er je gesehen habe.“ Erneutes Lächeln und Räuspern. Die Geschichte ging weiter: Liebesbriefe, heimliche Verabredungen, alles sehr diskret; endlich das Anhalten um ihre Hand, die Verlobung, die Hochzeit. Sie lebten einige Jahre sehr glücklich miteinander, bis er bei einem Manöver auf unerklärlicher Weise ums Leben kam. An einem nebligen Herbsttag im Jahre 1893 fand man die Leiche des Leutnants von Aulendorf am Ufer einer Wettern. Er war durch einen Schuss in den Rücken tödlich verletzt worden. Sein Pferd graste in der Nähe.

 

Jedes Mal, wenn Clarissa das Ende dieser Geschichte hört, läuft es ihr kalt den Rücken herunter. Sie kann es nicht fassen, dass es Menschen gibt, die es fertigbringen, ihren Nächsten einfach zu töten. Und die Heldengeschichten von Schlachten und Kriegen, die man sich in ihrem Hause erzählt, sind voll von Erschossenen und Erstochenen. Manchmal kommen vornehme Herren mit grauen Haaren zu Besuch, mit grimmigen oder lächelnden Gesichtern. Sie sind im Ort gut bekannt, angesehene Bürger. Sie kommen, trinken Schnaps und Bier, rauchen, unterhalten sich, lachen, erzählen so manches und gehen wieder. Und wenn sie gegangen sind und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, bemerkt Tante Alexandra trocken: „Das ist ein ganz schöner Verbrecher. Der war mit Carl Peters in Tanganjika und man hat mir erzählt, dass er dort zehn unschuldige Neger einfach an die Wand stellen ließ und sie eigenhändig mit seinem Säbel erstochen hat.“

In der darauf folgenden Stille stellt sich jeder gedanklich das grausame Bild vor.

Danach bemerkt Hans-Peter von Steinberg mit einem vorwurfsvollen Blick auf Tante Alexandra: „Ja, Tantchen, aber er ist sehr tapfer! Bei dem Herero-Aufstand war er auf einmal von fünf Kriegern umzingelt und kämpfte sie alle nieder. Für mich besteht kein Zweifel, dass er ein ganzer Kerl ist!“

Es folgen weitere grausame Kriegsgeschichten. Und in jeglicher Erzählung wird Blut vergossen, schreien die Verwundeten, liegen die Toten haufenweise auf dem Schlachtfeld herum. Der Angriff der Kavallerie, das Pfeifen der Granaten, die das Lied des Todes singen. Seeschlachten, bei denen Kriegsschiffe wie verwundete, vorsintflutliche Riesentiere versinken und Hunderte von Unglücklichen mit sich in die Meerestiefen reißen. Und Namen, Generäle, Admirale und Kapitäne, Soldaten, Matrosen … Begeisterungs- und Bewunderungsausrufe für die Helden:

„Das war ein tapferer Kommandeur!“

„Welch heldenhafter Offizier!“

„Da hatte aber der Feind nichts mehr zu lachen!“

„Ein echter, deutscher Soldat!“

In diesem Zusammenhang darf auch der Name der von Steinbergs nicht fehlen. Man erinnert sich an den General, der auf dem Bildnis verewigt wurde. Johann öffnet halb die Augen und gibt sein „Ach, mein lieber Gott!“ von sich. Sogar Ewald erwacht aus seiner Lethargie und nimmt an der Unterhaltung teil. Auch Tante Alexandra fallen die „alten Zeiten“ wieder ein und sie erzählt. Hans-Peter, im Patriarchensessel des Vaters und des Großvaters zurückgelehnt, ist in sich gekehrt und träumt von der ruhmvollen Vergangenheit seiner Familie.

Bei solchen Gelegenheiten kommt bei Clarissa das bekannte Gefühl auf, dass augenblicklich der General mit gezogenem Säbel aus seinem Bilderrahmen herausspringen würde. Nach den vorangegangenen, blutrünstigen Erzählungen ist ihr diese Ahnung keineswegs angenehm.

Noch mehr Erinnerungen kommen zur Sprache. Voller Begeisterung entfährt es Tante Alexandra zum hundertsten Male und mit sehr erhabener Miene: „Clarissa, du musst wissen, dass unsere Familie vom dänischen Königshause abstammt.“

Clarissa nickt. Die Unterhaltung erlahmt und geht in Schweigen über. Johann wird schläfrig. Plötzlich unruhig geworden, verlässt Ewald den Raum. Tante Alexandra vergisst die toten Helden und unterhält sich wieder mit Frau Annette über Strickereien.

Clarissa ist innerlich furchtbar aufgewühlt. Sie findet dies alles abscheulich, widerlich, erschreckend, böse. Solch brutale Bilder: ein wild galoppierendes Pferd mit schäumendem Maul, mit einem Reiter auf seinem Rücken, der einen Feind verfolgt, um ihm mit seinem Säbel den Schädel zu spalten … Warum protzen überall die Männer immer mit Tapferkeit und Streit; warum mordeten unsere Vorfahren und warum werden wir und unsere Nachkommen in gleicher Weise zum Töten angestiftet?

Gelegentlich sieht man auch in Oldenmoor Menschen, die Schlagstöcke und Gott weiß noch welche Waffen mit sich tragen. Dann hört man ab und zu Schüsse in der Nacht. Bei diesen Krawallen soll es auch schon Tote gegeben haben. Können denn die Menschen nichts anderes als töten? Wo bleibt da die Nächstenliebe, die unser Pastor jeden Sonntag in seiner Predigt beschwört?

Ihr Herz schlägt rascher, obwohl es ihr in ihrer Beklommenheit vorkommt, als ob es eingeschnürt sei. Manchmal befürchtet sie sogar, dass es zu schlagen aufhört …

Sie geht auf ihr Zimmer, schließt die Tür und verkriecht sich in ihrer Welt. Hier ist alles anders, hier ist sie erleichtert. Ihre Umgebung ist freundlich und rein, sogar die Luft riecht anders: nach Tinte, nach frischer Landluft, weil sie meistens das Fenster geöffnet lässt. Darunter liegt der Garten, auf der Wiese blühen die Blumen. Denn obwohl die Beete nicht mehr gepflegt und voller Unkraut sind, bestehen die Blumen darauf zu blühen und zu duften.

Wenn Clarissa in hellen Mondnächten ins Bett geht, löscht sie das Licht und lässt den Vorhang auf. Dann liegt sie in ihrem Bett und beobachtet, wie das Mondlicht an ihrem Fenster vorbeistreicht. Sie sieht die Sterne am Himmel glitzern, lässt das Tagesgeschehen noch einmal Revue passieren, versucht in die Zukunft zu sehen.

Unglücklich? Vielleicht ein wenig. Jedenfalls ist dies überhaupt nicht das Leben, das sie sich erträumt hatte.

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