Leise Musik aus der Ferne

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„Heute habe ich wieder mit der Bank verhandelt“, klagt Hans-Peter. „Ich kriege schon graue Haare wegen dieser verwünschten Wechsel …“

Frau Annette seufzt. Hans-Peters Gesicht verfinstert sich. Und Clarissa ahnt, dass das, was jetzt kommen wird, ja kommen muss, das, was die Frauen so fürchten: Geschäftliches!

In den Wirren der Inflation verlor der Papa das gesamte Gut mit all seinen Gebäuden, Wäldern, Ländereien und dem Vieh. Es verblieb ihnen fast gar nichts. Jetzt besitzt man nur noch dieses riesige Stadthaus, aus dem aber die Freude ausgezogen ist. In früheren Zeiten lachten alle und unterhielten sich angeregt bei den Mahlzeiten. Jetzt herrschen nur noch Mutlosigkeit und Traurigkeit und es wird lediglich vom Sparen gesprochen: weniger Fleisch, keine Butter, nicht so viel Strom zu verbrauchen, nicht so viele Kohlen zu verheizen … Gelegentlich scheint es, als ob man die Sorgen vergessen hat und es belebt sich die Unterhaltung. Wenn aber jemand das leidige Wort „Geld“ ausspricht – dann passiert es: Alle verharren mit betrübten Gesichtern.

Geld, Geld! Gibt es denn auf dieser Welt nichts Wichtigeres als Geld? Beklommen stellt sich Clarissa selbst diese Frage.

Der Papa erwähnte soeben die Bankwechsel. Niemand hat jetzt noch Appetit.

Clarissa versucht die Situation zu retten, das Gespräch in andere Bahnen zu leiten: „Heute gab ich meinen Schülern die Aufgabe, eine Landschaft mit einem Haus …“

Niemand hört ihr zu. Anscheinend hat der Papa lediglich das Wort „Haus“ wahrgenommen, weil er sofort die Tochter unterbricht, indem er bemerkt: „Wenn ich schließlich und endlich wenigstens dieses Haus retten kann, dann wäre ich schon sehr zufrieden …“

Er schiebt den Suppenteller von sich. Tante Therese zählt zwanzig Lebertropfen auf einen Suppenlöffel.

„Lene, servieren Sie jetzt bitte den Hauptgang“, sagt Frau Annette.

An der Wand hängt in einem versilberten Rahmen eine Kopie des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo da Vinci. Brot und Wein. Clarissa wirft ihren Blick auf das Bild und vertieft sich in ihre Gedanken … Plötzlich hat sie den Eindruck, als ob Jesus sie vom Bild herab etwas spöttisch anblicke und ihr sagen wolle: „Wir zwei sind uns wohl nicht so ganz einig, nicht wahr, Clarissa?“

2. Erinnerungen

Clarissa betritt den geräumigen Salon, die gute Stube, die den bedeutenden Besuchern des Hauses vorbehalten ist. An der Wand hängt oberhalb des breiten Kamins das riesige Portrait des Urgroßvaters: In voller Größe steht der Held des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871 da, gekleidet in seine Galauniform mit goldenen Achselklappen, die Brust mit Orden behängt, die Hände in weiße Handschuhe gehüllt. Eine davon umfasst den Griff des mächtigen Kavallerie-Säbels. Das strenge Gesicht des Generals ist von buschigen, schneeweißen Koteletten umrahmt.

In der Stube herrscht Dunkelheit. Seit ihren Kinderjahren hat Clarissa dieses Bild immer wieder betrachtet. Der Papa erzählt viele Geschichten über den General, der ein sehr gerechter und sparsamer Mensch, Wohltäter der Armen, guter Herr seiner Knechte und Tagelöhner war. Er dichtete Sonette, spielte die Geige, hielt jeglichen Verdruss von seinem Hause und den Seinen fern; er war Seiner Majestät, dem Kaiser, wohlbekannt, kämpfte wie ein Löwe unter General von Moltke bei der Belagerung von Metz und fiel ehrenhaft für das Vaterland auf dem Schlachtfeld von Sedan.

Clarissa kennt diese Geschichten auswendig. Aber als sie noch klein war, ging sie nie allein in diese Stube, vor allem nicht, wenn es dunkel war. Dieses verschlossene Gesicht und die riesige, von Gold bedeckte Gestalt flößten ihr ungeheure Furcht ein. Und wenn plötzlich der General aus dem Rahmen spränge, mit dem blanken Säbel in der rechten Hand durch das Haus liefe, Stühle umwerfend, Porzellan zertrümmernd, Menschen tötend? Clarissa betrachtet das Ölgemälde des Urgroßvaters. Obwohl sie jetzt eine erwachsene junge Dame ist, kann sie das Quäntchen Angst nicht unterdrücken, das sie noch empfindet: Ihr ist bange vor diesem brummigen Riesen mit der mächtigen Gestalt …

Die Stube hat einen ganz besonderen Duft. Als Clarissa noch klein war, dachte sie, dass der merkwürdige Geruch von diesem Gemälde ausginge. Auch heute besteht bei ihr noch dieser Eindruck, wenn auch in abgeschwächter Form. So sehr sie sich auch darum bemüht, gelingt es ihr nicht ganz, diese Empfindung loszuwerden.

Sie öffnet ein Fenster: Die Nachmittagssonne strömt herein und erleuchtet das Portrait des Generals. Die brüchigen Stellen am bemalten Gewebe werden sichtbar, die güldenen Achselklappen, Litzen, Knöpfe und Orden glänzen jetzt besonders. Der gesamte Salon offenbart dem starken Licht mit einem Mal seine Geheimnisse: die alten Möbel aus dicker Eiche, der gepolsterte Diwan, die hübsche Obstschale aus bemaltem Ton in der Mitte des mit rotem Samt bedeckten, ovalen Tisches. An der Wand das Bild der Großmutter Henriette; der ovale Spiegel in dem dicken, mit schwungvollen Ornamenten übersäten Rahmen.

Der Papa wiederholt immer: „In diesem Salon war einmal der Kaiser zu Gast, als er noch König von Preußen war.“ Kater Moritz jedoch ignoriert dies gänzlich und zollt der Erinnerung an den hohen Besuch keineswegs den gebührenden Respekt. Clarissa blickt erstaunt auf den Boden, auf den kleinen, dunklen See, in dem die Sonne kleine Feuersterne malt. Dieser Schurke! „Kathrein“, ruft sie, „komm schnell und sieh dir an, was der ungezogene Moritz in der Stube hinterlassen hat!“

Clarissa öffnet den grünen Deckel ihres Tagebuches und schreibt: Ich möchte Dir, liebes Tagebuch, alles anvertrauen, alles, was ich fühle, alles, was ich denke. Obwohl man ja eigentlich nie alles niederschreibt, was man wirklich denkt. Warum ist es so, dass wir nur im tiefsten unserer Gedanken absolut ehrlich sind?

Ich muss mich mit Dir unterhalten, ich habe sonst niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann. Meine Lehrer-Kollegen an der Schule mögen mich nicht sehr (ich weiß nicht wieso!). Die Einzige, mit der ich mich unterhalte und die mich gelegentlich aufsucht, ist Heike.

Mit dem Tagebuch ist es so, als ob ich mich mit mir selbst unterhalte. So gewinne ich eben den Eindruck, dass ich nicht so allein bin.

Was kann ich sonst noch erzählen? Heute ist ein wunderschöner Herbsttag, richtiger Altweibersommer. Im Garten vorm Haus blühen die Astern. Schande! Eine Lehrerin, die „vorm“ sagt! Es heißt doch richtig auf Hochdeutsch „vor dem Hause“. Das hört sich ganz besonders pedantisch an … Warum schreiben die Leute nie so, wie sie wirklich sprechen? Na, macht ja sowieso nichts, niemand wird je mein Tagebuch lesen. Und wenn ich sterben sollte? Wenn ich sterbe, dann wird die Mama nach der Beerdigung, ganz in Schwarz gekleidet, hier hereinkommen, um meine Sachen zu ordnen. Stell dir vor, sie findet dieses Tagebuch, öffnet es, liest darin und erfährt so alle meine Geheimnisse!

Nein, nur das nicht! Ich muss dieses Tagebuch vernichten, bevor ich sterbe. Das Schlimme ist, dass man nie genau weiß, wann einem die Stunde schlägt.

Wie ich schon sagte, blühen in unserem Garten vor dem Hause die Astern neben dem Fliederbaum. In der Frühe zwitschern die Vögel und machen einen Heidenradau. Wenn ich richtig malen könnte, würde ich gern unseren Garten malen.

Heute war ich in der Stube. Ich habe wieder das Gleiche gefühlt wie früher, als ich noch klein war. Als ich das riesige Bild meines Urgroßvaters ansah, hatte ich den Eindruck, dass er plötzlich aus dem Rahmen springen und hinter mir herrennen würde. So ein Blödsinn! Ein Bild ist ja nur ein Bild. Wenn die anderen von meinen Ängsten wüssten, würden sie mich ganz schön auslachen! Aber das ist eben, was ich fühle. Ich darf nicht lügen, wenigstens darf ich mich nicht selbst belügen.

Gestern Abend war ich unten, mit den Verlobten. Tante Therese und ihr Hein sagen sich immer dasselbe. Als ich sechs Jahre alt war, versprach Hein ihr die Ehe, kam fast jeden Abend zu uns, um sich mit ihr zu unterhalten, und ich saß oft auf seinem Schoß. Er brachte mir immer Bontjes mit – und ab und zu ein Malbuch. Damals sollte nach einem Jahr die Hochzeit stattfinden. Heute, viele Jahre später, sind Tante Therese und Hein immer noch Verlobte, sitzen stets am gleichen Ort in der Stube und aus der Hochzeit ist bis jetzt nichts geworden. Hein Piepenbrink ist ein sehr witziger Mensch. Er kann das „r“ nicht richtig aussprechen, meistens verschluckt er die Worte mir „r“, damit man es nicht so „meakt“. Sein Gesicht ähnelt einem Kürbis (ich weiß nicht wieso, ich habe mir immer ein Kürbisgesicht so vorgestellt). Hein Piepenbrink – sogar sein Name ist ulkig. Er passt so ganz und gar zu ihm. Als er damals zu uns kam, wurde mir sein Name beigebracht, ich musste ihn immer wieder aufsagen und sollte ihn mit vornehmer Stimme aussprechen. Am Abend, als er dann kam, kriegte ich dabei einen solchen Lachanfall, dass ich trotz aller Bemühungen um Beherrschung nichts weiter als „Hein Piep-pieppiep-piep“ herausbrachte. Er wurde vor Verlegenheit ganz rot und Tante Therese zog mich an einem Ohr aus der Stube. Draußen kriegte ich noch einen Klaps auf den Hintern.

Wie sich doch die Welt verändert! Heute spricht mich Hein Piepenbrink mit „Fräulein Clarissa“ an, er gibt sich mir gegenüber sehr höflich. Während sie sich unterhalten, sehe ich die Hefte meiner Schüler nach oder lese einen Roman. Gelegentlich tue ich so, als ob ich ganz in meine Arbeit vertieft sei, und lausche ihrer Konversation. Tante Therese und Hein Piepenbrink streiten sich ständig um Nichtigkeiten. Stets sind sie am Diskutieren, meistens über etwas Blödsinniges. Sie sagt: „Der letzte Film hat mir sehr gefallen.“ Er antwortet: „Mir überhaupt nicht.“ Und sie: „Aber mir hat er gefallen.“ Er: „Ich fand ihn ausgesprochen langweilig.“ Sie: „Das ist mir egal, du Ekel!“ Er: „Therese, ich habe dir schon oft gesagt, du sollst mich nicht ‚Ekel‘ nennen.“ Sie: „Das ist mir trotzdem egal.“ Hein: „Du bist albern.“ Sie: „Und du bist widerlich!“

 

Und all dies flüstern sie sich ganz leise zu. Dann schaltet Tante Therese mit einem Mal auf stur und die Unterhaltung verstummt für eine Weile. Hein Piepenbrink spielt unterdessen mit seiner Uhrenkette, um sich die Zeit zu vertreiben (Uahenkette, wie er sagt), so lange, bis Tante Therese seufzt. Danach gibt sich Hein einen Ruck und sagt mit einer sehr süßen Stimme: „Therese, Liebling, wollen wir uns nicht wieder vertragen?“ Sie zuckt nur mit den Schultern. Da er ihre sture Haltung nicht länger ertragen kann, beschließt er, auch böse zu sein und geht nach Hause.

Die Mama betet täglich dafür, dass diese Heirat endlich stattfinden möge. Alle Welt spricht davon, dass sie auf den Sankt-Nimmerleinstag festgelegt worden sei. Hein Piepenbrink ist Kontor-Angestellter bei den Lederwerken Gebr. Christiansen. Er behauptet, erst dann heiraten zu können, wenn man ihm dort die versprochene Gehaltserhöhung gibt.

Als ich gestern Abend zu Bett ging, war die klare Nacht herrlich, ganz hell vom Vollmond erleuchtet. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich diese Schönheit nicht in Worten beschreiben. Das schaffen die Menschen eben nicht. In den Büchern und Schriften ist immer alles anders. Ich erinnere mich eines Aufsatzes, den ich damals aufhatte, als ich am Lehrerseminar in Flensburg studierte. Er handelte von einem Ausflug. Ich beschrieb eine Reise auf die Insel Ærø, die ich zusammen mit den Mitbewohnern des Studentenpensionats unternahm. Ich begann mit der Schilderung der Schiffsfahrt durch die Flensburger Förde und über die durch den Sturm aufgewühlten Ostseewellen. Ich beschrieb den dunklen, mit grauen Wolken verhangenen Himmel, den kleinen Hafen, den malerischen Ort Ærøskøbing. Beim späteren Lesen des Aufsatzes konnte ich den wirklichen Ablauf dieser Reise eigentlich nicht mehr erkennen. Es war ja alles ganz anders gewesen. Wenn man schreibt, ist die Wahrheit nicht mehr so ganz wahrhaftig. Es werden unwahre Worte eingefügt, beschönigende Fantasien, und am Ende ist alles Lug und Trug. Ich erinnere mich besonders an einen Satz aus meiner Erzählung: „Peter schüttelte einen Apfelbaum, und wir alle rannten, um die fallenden Äpfel aufzufangen.“ Da haben wir’s. Das mit dem Auffangen war glatt gelogen. Keiner schaffte es, die fallenden Äpfel in der Luft zu greifen. Wir konnten sie schließlich nur noch vom Boden aufsammeln. Aber es hörte sich eben besser an und ich schrieb es nieder, um eine gute Note zu bekommen; es war aber nicht die reine Wahrheit! Und es ist eben leider immer so. Für heute habe ich schon zu viel geschrieben.

Wir haben den 1. Oktober. Ich weiß nicht genau warum, aber heute kamen mir Erinnerungen aus meiner Kindheit in den Sinn. Wir waren eine Bande von sieben Kindern: der Vetter Heiko, der Josef, Sohn des polnischen Bäckers, die Zwillinge Gesche und Gesine, der Rollo und die Heide. Josef hatte von Geburt an einen missgebildeten Fuß und Rollo gab ihm den Spitznamen „Klumpfuß“. Josef lief jedes Mal vor Wut rot an und fluchte mit furchtbaren Schimpfwörtern, wenn man ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrief. Aber irgendwie hat er sich nach und nach mit diesem Spitznamen abfinden müssen. Gesche und Gesine sahen sich wie zwei Wassertropfen ähnlich. Ich konnte sie nie auseinanderhalten; beide waren sehr wehleidig und weinten beim geringsten Anlass laut los. Sie waren stets gleich gekleidet, und das einzige Merkmal, an dem ich sie unterscheiden konnte, war, dass Gesine Lakritze mochte, Gesche dagegen überhaupt nicht. Rollo war ein durchtriebener Gauner, der insgeheim das Apfelgelee aus Mamas Speisekammer klaute. Sein eigentlicher Name war Roland. Meistens spielten wir alle auf dem Hof unseres Hauses. Rollo und Heide machten sich einen Spaß daraus, in den Wasserbrunnen zu spucken. Wir lehnten uns über den Brunnenrand und unsere Gesichter spiegelten sich auf der weit unten gelegenen Wasseroberfläche. Wenn die Spucke auf dem Wasser aufschlug, verzerrten sich unsere Gesichter.

Da Klumpfuß nicht recht laufen konnte, hatten wir uns mehrere Spiele ausgedacht, bei denen er leichter mitmachen konnte. Wenn wir ihn aber ärgern wollten, dann spielten wir Kriegen oder Hinkefuß. Ich weiß, dass alles, was ich hier niederschreibe, schrecklich albern klingen muss, aber ich habe eine solche Sehnsucht nach meiner Kindheit und der damaligen, so schönen Zeit. Wenn ich das hier schreibe, dann wird diese Sehnsucht etwas gemildert.

Josef war äußerst misstrauisch. Wenn wir anderen uns etwas leise zuflüsterten, drehte er sich rasch um und wurde wütend: „Ihr redet schon wieder über meinen Fuß, ihr Schamlosen!“ Eines Tages fuhr Heide auf und sie rief ihm ins Gesicht: „Dein Vater ist ein Polacke!“ Josef schaute sie mit vor Zorn funkelnden Augen an und schrie voller Wut zurück: „Du schmutziger Bastard!“ Er spuckte sie an und entfernte sich humpelnd in Richtung der Bäckerei seines Vaters. Heide weinte bitterlich. Sie war ein lediges Kind und hatte ihren Vater nie gesehen.

Heiko war der Tunichtgut unserer Clique. Er behandelte uns nie wie seinesgleichen. Mit mir sprach er kaum, und wenn er überhaupt etwas sagte, war es stets in einem anmaßenden Ton, als sei er der Herrscher, der Vorgesetzte. Eines Tages verschwand er von zu Hause. Tante Alexandra, seine Großmama, kam weinend zum Papa, um zu berichten, dass ihr Enkel vermisst werde. Die Polizei wurde alarmiert, viele Leute in Oldenmoor begaben sich auf die Suche, auch im Courier wurde darüber berichtet. Nach zwei Tagen fand man den Ausreißer frisch und munter an der Elbe; er hatte sich in einem Wäldchen am Außendeich eine rustikale Unterkunft gebastelt und saß an einem Lagerfeuer. Tante Alexandra weinte vor Glück. Da Heiko keinen Vater mehr hatte, dachte der Papa, dass er ihm ins Gewissen reden müsse. Heiko wurde frech und antwortete ihm, dass er uns alle satt habe, lieber hinter dem Deich bleiben und dort allein leben wolle.

Nach diesem Abenteuer wurde er nur noch „Deichkater“ genannt. Heiko gab sich nie viel mit uns ab, er war ein verschlossener, stolzer Bursche, ja sogar manchmal boshaft. Eines Tages schloss er mich im dunklen Keller ein und rief dann von draußen: „Da drin bleibst du jetzt, bis dich die Ratten und die Spinnen aufgefressen haben. Ich hasse dich, weil du ein Weib bist!“ Noch heute erinnere ich mich an die Angst, die ich ausgestanden habe.

Man erzählte sich, dass es in unserem Keller spukte. Ich fühlte die Gespenster, die Schlangen, die Ratten und die Spinnen, die über mich herfielen, über meine Arme und den Hals krochen und zwischen meine Beine schlüpften. Ich schrie laut und heulte vor Angst, und als das Lenchen mich endlich befreit hatte, zitterte ich am ganzen Körper und musste mit hohem Fieber ins Bett. Der Papa zog dem Deichkater den Hosenboden stramm und versohlte ihn mit dem Weidenstock. Am nächsten Tag verschwand Heiko wieder von zu Hause.

Ich konnte Heiko nie richtig leiden und ihm nicht direkt in die Augen sehen. Jetzt geht er so seines Weges, ist einundzwanzig Jahre alt und hat immer noch seine arrogante Haltung. Onkel Johann sagt, dass Heiko das schwarze Schaf der Familie ist. Der Deichkater hat sein Abitur bestanden. Danach wollten sie ihn nach Hamburg an die Universität schicken, damit er Medizin studiert. Der Deichkater weigerte sich und meinte, es gäbe bereits genügend irrende Doktoren auf dieser Welt. Er hat obskure und verrückte Gedanken in seinem Kopf. Er trägt keinen Hut, wechselt häufig seine Arbeitsstelle und lebt allein, ziellos, so einfach drauflos wie eine verlorene Seele.

Lieber Gott, warum gibt es solche Menschen auf dieser Welt?

Und warum verschwende ich eigentlich so viele Worte über den Heiko? Gestern ging er an mir vorbei und tat so, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte.

Der Josef ist auch ganz anders geworden. Er leitet das Schreibkontor in der Bäckerei seines Vaters. Er ist sehr unnahbar und misstrauisch; wenn er kann, weicht er mir immer aus. Er befürchtet wohl, dass ich ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrufe. Das Schlimme ist, dass er tatsächlich für mich noch derselbe Klumpfuß ist. Ich muss mich immer sehr zusammennehmen, wenn ich ihn anspreche, um ihn nicht bei seinem Spitznamen zu nennen. Dieser krumme Fuß ist der hauptsächliche seelische Kummer, den der arme Josef mit sich herumschleppt.

Ich habe noch nie ein so albernes Tagebuch gelesen wie dieses!

3. Geisterstunde

Langsam bricht der Abend herein. Das Licht im Esszimmer des Herrenhauses wurde noch nicht angezündet und es ist düster.

Die Fenster lassen das Zwielicht fahl durchscheinen; es verleiht den Gegenständen im Raum den Anschein eines Friedhofes im Mondschein. Alles ist still. Die schweren Möbel werfen dunkle Schatten auf den Boden. Die verstorbenen Ahnen auf den großen Gemälden mit den vergoldeten Rahmen sehen noch viel verblichener aus. Der riesige Kristalllüster, der von der Decke herunterhängt, strahlt einen eiskalten Glanz aus, als ob er aus weißen Gerippen bestünde.

Die bequemen, mit rotem Samt bezogenen Sessel stehen um den gewaltigen Eichentisch herum, auf dem die ebenfalls rote Samtdecke mit der goldenen Borte liegt. In der Mitte der langgezogenen Anrichte thront eine marmorweiße Büste von Kaiser Wilhelm I. An der gegenüberliegenden Wand hängt der überdimensionale ovale Spiegel – ähnlich einem leblosen See, auf dem sich eine vor langer Zeit versunkene Landschaft widerspiegelt.

Minuten verstreichen. Das Licht schwindet zusehends. Stille kehrt ein. Sie wird nur durch das monotone Ticken der Standuhr unterbrochen, die unaufhörlich am Zeitvergehen strickt. Plötzlich ertönt ein dumpfes Schlagen, noch eins, ein weiteres, drei, fünf. Es ist so, als ob diese Laute aus weiter Ferne kämen, aus längst vergangenen Zeiten, und durch sie die Geister der Vergangenheit geweckt würden.

Könnten nur die Holzdecke und die dicken Balken die Stimmen der Vergangenheit hervorbringen, die einst zu ihnen emporstiegen … Vermochte der Spiegel allein die erloschenen Bilder aus jener Zeit widerzuspiegeln …

* * *

Ein Märzabend im Jahre 1910.

Der alte Oliver von Steinberg betritt das Esszimmer, hüstelt trocken, streicht über seinen mächtigen weißen Schnurrbart, der dicht über dem Mund durch das Rauchen vergilbt ist. Er kommt gerade vom Rasieren und verbreitet den leisen Duft seines Gesichtswassers. An seiner schwarzen Fliege schimmert matt eine kleine runde Perle. Er geht ein wenig gebückt, aber man merkt es ihm an, dass er sich eisern um eine gerade Haltung bemüht.

Die Söhne – Hans-Peter, Johann, Ewald und Christian – stehen rasch auf und begrüßen ihn voller Respekt.

Der mit brennenden Kerzen bestückte Lüster erhellt festlich den Raum. Auf der Anrichte leuchten neben der kaiserlichen Büste weitere Kerzen in einem silbernen Kandelaber. Der Spiegel vervielfältigt den Schein der Lichter.

Der Tisch ist für den späten Abendtee gedeckt. Der Hausherr liebt Blumen auf dem Tisch: In dessen Mitte steht eine hohe Kristallvase voller Osterglocken.

Oliver setzt sich und gibt seiner Schwester ein Handzeichen: „Nun, liebe Schwester, lass bitte den Tee auftragen.“

Tante Alexandra läutet mit der kleinen Silberglocke. Als das Lenchen mit dem Teeservice den Raum betritt, schlägt die große Uhr. Lenchen schenkt den Tee in die schönen Porzellantassen mit dem Goldrand ein. Am Kopf des Tisches blickt der Alte auf Christian und lächelt. Er ist sein Jüngster, dichtet Sonette; er hat die gleichen Augen wie seine geliebte, selige Frau.

„Na, mein Sohn, was machen denn deine Balladen?“ Für Oliver sind Balladen und Sonette das Gleiche.

Christian erwidert mit weicher Stimme: „Lieber Papa, ich dichte Sonette, keine Balladen.“

Der Alte gibt sein kurzatmiges Lachen von sich und streicht sich mit einer ihm eigenen Bewegung über den Schnurrbart. „Wer sagt es denn: ein wahrhaftiger Poet in unserer Familie.“

Die anderen lächeln.

Christian senkt verlegen die Augen. Tante Alexandra blickt liebevoll auf die jungen Neffen.

„Meine Selige dichtete ebenfalls Sonette, als sie noch ein junges Mädchen war …“ Der alte Oliver wendet seinen Blick auf das Bildnis an der Wand, auf seine geliebte Henriette, schon vierzigjährig heimgegangen. Der Maler besaß eine besonders glückliche Hand, hatte er doch den Ausdruck dieser blauen Augen, die wunderschön geformten Lippen und die gerade, noble Nase vorzüglich festgehalten.

 

Oliver blickt zurück auf die Söhne und fühlt sich von einer tiefen Traurigkeit ergriffen. Wenn nur seine Henriette die erwachsenen Söhne hätte erleben können … Ach, was soll’s, auch ich werde bald sterben, und wenn es einen Himmel gibt, dann werde ich sie dort wiedertreffen und zu ihr sagen: „Mein Liebling, unsere Söhne sind herangewachsen und wohlgeraten. Hans-Peter wird bald heiraten, Johann hat seine kaufmännische Lehre fast beendet. Ewald wird Wald- und Forstwirtschaft studieren, und stell dir vor, der Christian dichtet Sonette …“

Tante Alexandra ist erstaunt über das Schweigen des Bruders: „Fehlt dir etwas, lieber Bruder? Ist es etwa deine Leber?“

„Ach was, Leber!“ Hand an den Schnurrbart, Hüsteln. „Nichts, ich habe nur nachgedacht …“

Das Gespräch flackert wieder auf: die Schweinepreise, die Lokalpolitik, das zunehmende Wachstum der Gewerkschaften, die schon zwei Millionen Mitglieder zählen sollen. Draußen jagt ein Frühlingssturm die schwarzen Wolkenfetzen über das Firmament, die Fenster klirren ab und zu, wenn die heftigen Windböen dagegenprallen.

Während seine Hand über den Schnurrbart streicht und ab und zu von seinem Hüsteln unterbrochen wird, erzählt der alte Oliver von Steinberg wieder einmal die Geschichte des Kaiserbesuches in Oldenmoor.

„In diesem Raum speiste Kaiser Wilhelm I., Gott sei seiner Seele gnädig. Ich erinnere mich daran noch ganz genau, so als ob es gestern gewesen wäre. Ich war damals ein sehr kleiner Junge und habe die Bedeutung nicht begriffen … Der Papa zog seine Generalsuniform an, um den Kaiser zu empfangen. Als Seine Majestät dort durch diese Tür schritt, hatte ich ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Die Begrüßungsworte, die ich aufsagen sollte und so oft geübt hatte, blieben mir einfach im Halse stecken. Ich kniete vor dem Kaiser nieder und küsste seine Hand. Er sah mich nur an und lächelte mir nickend zu.“

Alle schmunzeln schweigend.

* * *

Ein Sommernachmittag im Jahre 1911.

Tadeusz Rembowski, der Pole, der eine kleine Bäckerei im angrenzenden Haus betreibt, klopft an die Haustür der Familie von Steinberg und bittet um Einlass, um den „hohen Herrn“ zu sprechen.

Man führt ihn ins Esszimmer. Da steht er, unbeholfen und unruhig, blickt mit angsterfüllten Augen auf sein Spiegelbild. Er hat einen verzweifelten Ausdruck in seinen braunen Augen. Schweißperlen glänzen auf Nase und Stirn. Das gerötete Gesicht ist eine Maske voller Beklommenheit. Er wartet voller Ungeduld und mit krampfhaft verschlungenen Händen.

Schritte nähern sich. Der Bäcker dreht sich um: Der Hausherr betritt den Raum.

„Wie geht es Ihnen, Herr Rembowski?“

„Danke, Herr Oberst, danke …“

Sie geben sich die Hände.

„Nehmen Sie doch Platz.“

Tadeusz setzt sich. Unbeholfen wagt er sich kaum auf den Sessel. Er sitzt gerade, knapp auf der Vorderkante des Polsters. Oliver von Steinberg lehnt sich gemütlich in den gegenüberstehenden Sessel zurück und fragt mit gönnerhaften Stimme: „Und wie geht es Ihrer Frau Gemahlin?“

Anfänglich scheint Tadeusz Rembowski die Frage nicht verstanden zu haben. Danach, plötzlich, als ob er von einem Traum erwacht, gibt er ein „gut“ von sich, das in seinem Weinen erstickt.

Oliver von Steinberg blickt ihn verwundert an: „Aber, um Gottes willen, was haben Sie denn, Herr Rembowski?“

Der Bäcker zieht ein zerknülltes Taschentuch hervor und wischt sich die Tränen aus den Augen.

„Ist jemand gestorben?“

Tadeusz schüttelt den Kopf. Oliver steht auf und legt seine Hand auf die Schulter des Nachbarn. „Verdammt noch mal, Mann, erzählen Sie schon, was Sie derart bedrückt!“

Hüsteln, Hand an den Schnurrbart.

„Was hat man denn Ihnen angetan?“

Das Gesicht im Taschentuch verborgen, schluchzt der Bäcker: „Die Bank, die verwünschte Bank …“

„Potz Teufel! Erzählen Sie mir doch die ganze Geschichte geradeheraus, Herr Rembowski.“ Er gibt seiner Stimme einen beleidigten Unterton, den er gar nicht so meint. „Weinen Sie nicht, ein Mann darf doch nie weinen!“

Tadeusz Rembowski hebt das Gesicht. Die Tränen kullern ihm über die Wangen und tropfen auf den Kragen seines grauen Hemdes. Und dann erzählt er in seinem Kauderwelsch, dass die Bank ihm angedroht habe, einen von ihm unterschriebenen und überfälligen Wechsel zu protestieren, weil er nicht bezahlen könne. Es werde ein Unglück geschehen, seine Kreditwürdigkeit gehe verloren, niemand mehr werde in der Bäckerei Rembowski einkaufen wollen. Seine Frau werde vor Kummer an Herzversagen sterben, eine Katastrophe!

Sein Gesicht versinkt abermals im Taschentuch und er setzt sein Weinen noch lauter fort.

Der alte Oliver hüstelt und streicht sich über den Schnurrbart. Er geht im Esszimmer schweigend auf und ab, bleibt dann vor dem Stuhl Rembowskis stehen und fragt: „Wie viel müssen Sie zurückzahlen, Herr Rembowski?“

„Zwölfhundert Mark, Herr Oberst“, stammelt der Bäcker ganz leise.

Der Alte kratzt sich am Kinn, denkt noch einen Augenblick nach und sagt dann: „Könnten Sie Ihr Leben mit dreitausend Mark wieder in Ordnung bringen?“

Der Pole springt erregt auf. „Dreitausend Mark? Aber … das würde ja bedeuten … ja, das wäre ja die Rettung, ein Versprechen des Wohlhabens, eine … eine …“

Ihm versagte die Stimme. Die Hände des Bäckers sind wie zum Gebet gefaltet, danach fuchtelt er wild in der Luft herum und versucht noch etwas zu sagen, Deutsch mit Polnisch vermischt, er kann es nicht fassen! Dreitausend Mark! Die Rührung überwältigt ihn.

Der alte Oliver lächelt und legt seine Hand auf die Schulter des Nachbarn: „Also, Sie gehen jetzt ganz ruhig nach Hause, lieber Freund. Morgen früh schicke ich Ihnen die dreitausend Mark hinüber. Sie zahlen sie mir zurück, sobald Sie können. Wenn Sie es nicht können, dann eben auch nicht. Darüber werden wir nicht streiten. Danken wir dem guten Gott, dass ich in der erfreulichen Lage bin, meinem Nachbarn helfen zu können …“

Tadeusz Rembowski ist noch immer sprachlos. Oliver wiederholt sein Versprechen und führt den noch verdatterten Bäcker behutsam in Richtung Haustür.

Der Pole ist derart von seinem Glück erfüllt, dass er keine Worte findet, um seinen Dank auszusprechen. Und als er auf die Straße tritt und dann eiligen Schrittes in sein Haus gelangt, schließt Oliver langsam die Haustür, kehrt in das Esszimmer zurück und bleibt vor dem Bild seiner Henriette stehen. Er erinnert sich an die stürmische Novembernacht, in der sie verstarb.

* * *

Nun spiegeln sich im großen Spiegel des Esszimmers drei schwarz gekleidete Herren wider, die mit ernsten Gesichtern in den Sesseln sitzen. Der alte Oliver schreitet vor ihnen nachdenklich auf und ab, hüstelt gelegentlich und streicht sich wie gewöhnlich über seinen Schnurrbart.

Alle Kerzen des Lüsters brennen. Draußen weht ein eisiger Dezemberwind und wirbelt die Schneeflocken durcheinander. Nur das Brummen des Motors eines sich auf der eisigen Straße quälenden Fahrzeuges bricht gelegentlich die Stille.

Der älteste der drei ergreift das Wort: „Überlegen Sie wohl, Herr Oberst. Sie sind ein hochgeschätzter Mann und einer der beliebtesten Bürger unserer Gemeinde. Wenn Sie dieses Amt nicht annehmen, wer wird es dann tun? Unsere Partei verlangt von Ihnen dieses Opfer. Stimmen Sie doch bitte Ihrer Kandidatur zu. Die Opposition wird es gar nicht einmal wagen, gegen Sie anzutreten. Niemand wird gegen einen Herrn von Steinberg stimmen, nicht wahr, meine Herren? Jeder mag und respektiert Sie.“