Leise Musik aus der Ferne

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5. Sonntag

Am Sonntagmorgen erwacht Clarissa als Erste im Herrenhaus. Das starke Sonnenlicht, das durch den Vorhang schimmert, scheint ihr direkt ins Gesicht. Sie reibt sich die Augen wach, kriecht unter der schweren Federdecke hervor und steckt ihre Füße in die Hausschuhe. Dann stellt sie sich mit prüfendem Blick vor ihrem geöffneten Kleiderschrank auf. Welches Kleid soll sie heute anziehen?

Noch immer unentschlossen, geht sie zunächst ins Badezimmer hinunter und wäscht sich. Während sie sich abtrocknet, fällt sie ihre Entscheidung: das blaue mit dem weißen Kragen. Sie geht zurück in ihr Zimmer, setzt sich vor die Frisierkommode und blickt in den Spiegel, wobei ihr ein trauriger Gedanke in den Sinn kommt, der ihren Blick verfinstert: Ich werde immer hässlicher. Früher habe ich sehr oft gelächelt, heute tue ich das kaum noch. Wir haben ja hier nicht viel, über das man lachen könnte. Ich mache ein ernstes, murriges Gesicht, das mit Falten durchzogen, blass und mager geworden ist. Typisch! Ganz das Fräulein Lehrerin! Dieser Gedanke trotzt ihr dennoch ein Lächeln ab.

Sie kämmt ihre kastanienfarbenen, langgelockten Haare, die in der strahlenden Morgensonne glänzen.

Im Herrenhaus ist es noch still. Keiner außer ihr mag am Sonntag früh aufstehen. Das Lenchen behauptet immer, dass Clarissa mit ‚de Vogels opwoken dait‘.

In der Tat, die Vögel zwitschern vergnügt und spazieren, auf der Suche nach fetten Regenwürmern für ihr Frühstück, gemächlich auf dem Rasen herum. Sie hat den Vorhang zur Seite gezogen und das Fenster ganz geöffnet. Ein feuchter Lufthauch mit dem Geruch nach frischer Landluft weht ihr ins Gesicht. Für einen Augenblick empfindet Clarissa das Gefühl von Fröhlichkeit.

Alles erscheint wie neugeboren an diesem wunderbaren Morgen! Sogar das alte Gemäuer sieht aus wie neu und der Himmel gleicht einem Freskengemälde. Stiegen die weißen Wölkchen noch höher in den blauen Himmel empor, würden sie sich sicherlich blau verfärben. Unten ist der Rasen noch recht grün, wenn auch schon viele Blätter von den Bäumen darauf gefallen sind.

Im Hintergrund des Hofes steht der alte Brunnen. Man erzählt sich, dass in jenen Zeiten, als Tante Alexandra noch ein junges, hübsches Mädchen war und große Bälle im Hause des Generals Peter von Steinberg veranstaltet wurden, eine hohe Wasserfontäne aus dem Brunnen empor sprudelte. Chinesische Lampions leuchteten über dem Hof. Vornehme Gäste – adelige Gutsherren, Offiziere in schmucken Uniformen, Künstler und Dichter mit langen Haarmähnen, Damen mit festlichen Reifröcken – waren zu diesen festlichen Anlässen geladen. Man tanzte bis in die frühen Stunden des nächsten Tages hinein. Tante Alexandra hatte ihr einmal erzählt, dass sich dort, weiter hinten, neben der hohen Esche, zwei Männer ihretwegen duelliert hatten.

Welch ein herrlicher Morgen! Clarissa lehnt sich aus dem Fenster und blickt über die Hecke hinweg auf die Straße hinab. Keine Menschenseele ist in Sicht. Die Sonne entreißt den Backsteinen der Häuserwände und den Pflastersteinen wahre Glitzerfunken. Die Schwan-Apotheke gegenüber ist geschlossen. Sie hat heute wohl keinen Notdienst. Hier und dort sprießen Grashalme zwischen den Steinen. An ihnen hängen Tautropfen, von der Sonne mit ihren magischen Kräften in strahlende Diamanten verwandelt.

Clarissa geht ins Zimmer zurück, zieht ihr Nachthemd über den Kopf und kleidet sich an. Zuletzt steigt sie in das blaue Kleid. Wieder vor dem Spiegel korrigiert sie ihre Frisur, legt ein wenig Puder auf die Nase und einen Hauch Lippenstift auf ihre wohlgeformten Lippen, die sie danach fest aufeinanderpresst. Ein Blick auf die Armbanduhr sagt ihr, dass es erst sieben Uhr ist.

Was tun, um die Zeit bis zum Frühstück zu überbrücken? Sie greift nach ihrem geliebten Buch und setzt sich in den Sessel. „Gedichte auf dem Wasser“.

Sie öffnet es an einer zufällig aufgeschlagenen Stelle und liest: „Die Liebe, die sich noch nicht erklärte, ist wie eine Melodie, deren Tonfolge noch unbestimmt ist. Sie lässt das Herz mitunter freudig, manchmal unruhig schlagen und hat dennoch den flüchtigen und geheimnisvollen Zauber einer Weise, die von Weitem, aus der Ferne erklingt …“

Clarissa legt das Buch beiseite, lehnt sich im Sessel zurück, schließt die Augen und beginnt nachzudenken. Musik aus weiter Ferne … das ist wirklich hübsch gesagt. Solch eine Liebe muss schön sei, wie die Liebe in den Romanen. Wie mag wohl dieser Dichter Reimer Madrigal aussehen?

Sie versucht ihn sich vorzustellen … In ihren Gedanken nimmt er Gestalt an: schlank, groß, blass, nobles Gesicht. Dunkelbraune, heiß blickende, tief liegende Augen. Reimer Madrigal fand schon ganz gewiss die große Liebe seines Lebens. Wer weiß? Vielleicht sogar eine unerwiderte, unglückliche Liebe. Er spricht mit sanfter Stimme. „Eine Stimme wie eine Fontäne“, so beschreibt er in seinen Gedichten die Stimme der Geliebten. Clarissa würde sich gern mit ihrem Dichter unterhalten. Am liebsten in ihrem schönen Garten … Reimer würde sich ihr anvertrauen, ihr von seinem Leid erzählen. Sicherlich würden sie sehr gute Kameraden werden. Er würde doch auch einige Verse für seine Freundin dichten. Worauf reimt sich eigentlich Clarissa? Ach, es ist so schwierig, für diesen „undeutschen“ Namen etwas Passendes zu finden; er ist zweifellos ungeeignet für Poesie. Na, was für ein Glück, dass die Gedichte von Reimer Madrigal nicht aus gereimten Versen bestehen … Gereimt oder nicht, er würde ihr, Clarissa, sicherlich ein wunderschönes Gedicht widmen. Jawohl, auch sie würde ihm ihren Schmerz anvertrauen. Etwa so: „Ich bin von Natur ein fröhliches Mädchen, aber es gibt so vieles hier, was mich traurig stimmt. Dieses riesige, alte Haus, in dem die Gespenster unserer Ahnen und unsere familiäre Vergangenheit herumspuken. Papas Geschäfte, die alle schiefgehen. Die traurigen Augen der Mama. Der altersbedingte Verfall unseres Lenchens. Die Flegeleien meines Vetters Heiko. Die Trinksucht meines Patenonkels Johann. Die gequälten Grimassen von Onkel Ewald, der nicht die Willenskraft aufbringt, seine Drogensucht zu bezwingen. Diese Zustände machen mich sehr, sehr traurig, lieber Reimer (es wäre doch schön, ihn so nennen zu dürfen, einfach ‚Reimer‘, nicht etwa ‚Herr Madrigal‘ …). Manchmal habe ich den großen Wunsch, all dies einfach zu verlassen und über alle Berge, weit, weit weg zu flüchten. Aber wohin fliehen? Und selbst wenn mir hierauf eine Antwort einfiele, fehlte mir dazu der Mut. Ich liebe meine Familie, ich mag dieses Haus, in dem ich geboren wurde. Aber ich werde immer trauriger, weil ich hilflos mit ansehen muss, wie hier alles unaufhaltsam zerfällt …“

Reimer Madrigal würde ihre Hände in die seinen nehmen und ihr ein Gedicht ins Ohr flüstern, eine traurige Geschichte der jungen Clarissa, die in einem kalten Schloss von einem fürchterlichen Ungetüm gefangen gehalten war, bis sie eines Tages von einem romantischen Kavalier befreit wurde. Sie verliebte sich in ihren Retter, der sie mitnahm in ein fernes Land, wo sie beide miteinander glücklich lebten bis an ihr Ende.

Clarissa senkt ihren Kopf und lächelt amüsiert über ihren Gedankenausflug. Sie kann es einfach nicht lassen, sich in ihrer Fantasie zu verlieren, Geschichten und Romane zu erfinden. Manchmal, in der Schule, träumt sie mit offenen Augen inmitten ihrer Schüler, während einer Lektion. Wenn sie wieder in die Wirklichkeit zurückfindet, umgibt sie der Heidenlärm ihrer Kinder. Der Rektor hat sie bereits deswegen ermahnt …

Clarissa klappt das Buch zu. Der Duft von Morgenkaffee aus der Küche steigt ihr in die Nase und bringt sie in die Gegenwart zurück: Sie hat Hunger. Geräusche dringen aus der Küche, Sicherlich bereitet Kathrein heißes Wasser, um die Frühstückseier zu kochen.

Clarissa öffnet die Tür und geht hinunter in das Esszimmer. Die Verbindungstür zum Salon ist geschlossen. Dort, im Dunkeln, befindet sich das Bild des Generals. Clarissa geht geschwind daran vorbei, ohne hinzusehen.

Sie ruft in die Küche: „Kathrein, bringst du mir bitte den Kaffee?“

Kurz nach neun Uhr erscheinen Gesche und Gesine, beide in knalligen, gelben Kleidern, um sie zur Kirche abzuholen.

Gesche stottert: „Cl… C… Cla…“

Gesine kommt ihrer Schwester zu Hilfe: „Clarissa.“

Gesche führt fort: „Wwwwwie ffff… findest du un… unsere Kk… Kk…“

„Kleider?“, beendet Gesine die Frage.

Clarissa findet sie grauenhaft, die grelle Farbe tut den Augen weh. Sie kommt aber um die Notlüge nicht herum: „Sie sind wirklich sehr nett. Wer hat sie denn gemacht?“

Gesche versucht zu antworten, aber, wie üblich, ist es Gesine, die eine verständliche Antwort gibt: „Unsere Tante Rosa, sie ist ja Schneiderin.“

Sie machen sich auf den Weg. Die Zwillinge gehen kleine Schritte. Clarissa hakt sich bei beiden unter und schon laufen die drei Mädels ihren Schatten vorweg. Drei junge Gesichter: eines in zweifacher Ausführung, rundlich, mit vollen, rötlichen Wangen, knolligen Nasen, lustigen Äuglein. Das dritte, oval, apart und hübsch, mit himmelblauen Augen. Die Sonne beleuchtet die drei Gesichter mit der gleichen Intensität, ohne eines davon zu bevorzugen. Trotzdem, jene jungen Männer Oldenmoors, die ihnen begegnen und sie grüßen, lassen ihre Augen länger auf Clarissas Gesicht ruhen, bevor sie vorbeigehen: Hannes Suhr vom Modehaus, Friedrich Winkler, Redakteur bei der Lokalzeitung, Detlef Bartels, Referendar beim Notariat.

Gesine beginnt eine Unterhaltung: „Clarissa, rate mal, wen ich heute früh schon gesehen habe?“

„Keine Ahnung, sag schon!“

„Den Deichkater.“

„Was, Heiko?“

„Ja, den Heiko.“

„Wo denn?“

„Auf dem Marktplatz; er saß auf einer Bank.“

„St… stell dir vor, eeer hh… hat u… u…“, versucht sich Gesche, vergeblich. Gesine ergänzt: „Er hat uns nicht einmal gegrüßt!“

 

Was geht mich das eigentlich an?, fragt sich Clarissa. Diese dummen Gänse schnattern wirklich nur über belangloses Zeug. Was habe ich mit dem Heiko zu tun? Bin ich denn seine Mutter? Nee! Ich trage doch keine Schuld daran, dass er solch ein Rüpel ist. Ich kann ihn nicht erziehen und zwingen – gerade den Deichkater! –, dass er diese Gänse grüßt. Was für ein Schwachsinn!

Manche Leute gucken aus den offenen Fenstern und genießen den herrlichen, sonnigen Morgen.

„Guten Morgen!“

„Moin, moin!“

Überall „Guten Morgen!“

Für jeden ein freundliches Lächeln. Alle Gesichter sind bekannt. Man muss also höflich grüßen, sonst geht das Gerede hinter dem Rücken los: „Die ist aber hochmütig!“ Und dies und das …

„Guten Morgen!“

„Moin, Moin, guten Morgen!“

Sie kommen auf den Marktplatz, in dessen Mitte die Kirche thront.

Gesine meint: „Last uns schnell hineingehen, dann kriegen wir einen guten Platz.“

Sie beeilen sich und betreten die Kirche. Typischer Kirchengeruch umfängt sie. Clarissa hat hierfür nie eine andere Bezeichnung finden können. Sie setzen sich auf eine Bank in der vorletzten Reihe.

Mit einem humorvollen Lächeln auf den Lippen bittet Clarissa während der Andacht den lieben Gott stumm um genügend Geduld, um Gesche und Gesine ausstehen zu können. Die beiden sind doch wirklich so einfältig, dass es ihr oft schwerfällt, sie auszuhalten.

Das Mittagessen geht zu Ende und die Mama bittet das Lenchen, die Nachspeise zu servieren.

Clarissa sieht ihren Vater an. In dem kunstvoll verzierten Eichensessel am Kopfende des Tisches, in dem früher der alte Oliver von Steinberg den Familienvorsitz führte, kauert Hans-Peter. Von Zeit zu Zeit seufzt er und blickt deprimiert vor sich hin.

Kathrein bringt die Teller mit dem Nachtisch: Arme Ritter.

Hans-Peter schaut lustlos auf die in Fett gebackenen Brotscheiben, die mit Zucker und Zimt überstreut sind. „Haben wir nichts Besseres zum Nachtisch?“

„Nein, leider nicht“, antwortet Frau Annette beklommen.

„Warum lässt du denn nichts Ordentliches vom Café Petersen holen?“

Der stumme, ausdrucksvolle Blick von Frau Annette ist eine ausführliche Antwort.

Hans-Peter begreift. „Ach so, lassen die auch nichts mehr anschreiben?“

Die Mama nickt.

Hans-Peter springt wütend vom Sessel auf, wirft seine Serviette auf den Teller und läuft aufgeregt und mit kreideweißem Gesicht im Esszimmer auf und ab: „Verfluchtes Gesindel! Mir den Kredit zu verweigern! Mir! Gerade mir! Ungeheuerlich!“

Tante Therese isst ihren Armen Ritter mit gesenktem Kopf. Frau Annette schaut ihrem Mann nach, während es Clarissa nicht wagt, die Augen von ihrem Teller zu heben.

Wie ein wildes Tier im Käfig wandert Hans-Peter aufgeregt zwischen Tisch und Fenster hin und her, die Fäuste tief in den Hosentaschen geballt. Hin, her, hin, her … „Undankbare Mistkerle! Der alte Oliver hat euch ernährt, als ihr hungertet, hat euch erwärmt, als ihr gefroren habt! Und jetzt erdreistet ihr euch, seinem Sohn den Kredit für ein Stück Kuchen zu verweigern!“

Frau Annette schüttelt traurig den Kopf. Tante Therese fragt, ob sie noch ein Stück der Nachspeise haben darf.

„Der Petersen!“, fährt Hans-Peter heftig fort. „Gerade dieser Petersen, der zerlumpt und arbeitslos in der Gegend herumlief! Der Papa ließ ihn kommen, gab ihm Haus, gab ihm zu essen und obendrein noch Geld, damit er sich eine Existenz aufbauen konnte. Und heute hat dieses Subjekt die Stirn, mir den Kredit für ein paar Stücke Kuchen zu verweigern. Undankbarer Schweinehund!“

„Aber Hans-Peter, das ist ungerecht von dir!“, fährt Frau Annette dazwischen. „Der Arme hat ja gar nicht so unrecht, wir schulden ihm bereits seit fünf Monaten die gelieferten Waren. Er kann auch nicht nur von leeren Versprechungen leben …“

Hans-Peter bleibt abrupt stehen, wendet sich seiner Frau zu, richtet seinen Zeigefinger auf sie und brüllt sie wütend an: „Das fehlt noch! Du, meine Ehefrau, gibst diesem miesen Kerl auch noch recht? Diesem Petersen?“ Er verlässt das Zimmer mit lautem Schritt, die Tür knallt hinter ihm ins Schloss. Er geht ins Schlafzimmer, um seinen heiligen Mittagsschlaf zu halten. Die Wut, die in seiner Brust kocht, hindert ihn zehn Minuten lang am Einschlafen. Erregt liegt er mit offenen Augen im Bett und blickt stur zur Decke. Allmählich schwinden Petersen, Nachspeise und Ärger. Der Schlaf schleicht sich lautlos ins Zimmer und schließt sanft die Augen des Hans-Peter von Steinberg.

Das Schweigen im Esszimmer wird erst nach einigen Minuten durch Frau Annette gebrochen. Kopfschüttelnd versucht sie den Ehemann vor der Tochter zu rechtfertigen: „Dein Vater ist so ungehalten, seit er das Gut verloren hat.“ Sie reinigt sich die Zähne mit einem Zahnstocher. Dann fährt sie fort: „Er war eben immer nur an das gute Leben gewöhnt. – Es ist zum Verrücktwerden! Wie soll das nur weitergehen?“

Tante Therese steht auf. „Ich gehe, um mich fertig zu machen, der Hein wird ja bald kommen.“ Erwartungsvoll wie eine junge Braut geht sie hinaus, um sich das Gesicht zu pudern und Rouge aufzutragen.

Clarissa und Annette sehen sich einen Augenblick stumm an.

„Mama …“ Clarissas Stimme ist dünn und gebrochen.

„Ja, mein Kind?“

„Was hat der Papa eigentlich gegen mich?“

„Gegen dich? Wie kommst du nur auf einen solchen Gedanken?“

Trotz ihrer Anstrengung, nicht zu weinen, kann Clarissa das Herunterkullern einer Träne auf ihrer Wange nicht verhindern. „Ich bemerke das schon seit längerer Zeit. Der Papa sieht mich kaum an, spricht nicht zu mir. Und wenn er überhaupt spricht, dann böse …“ Weitere Tränen folgen der ersten und gleiten am Gesicht hinab.

„Du musst nicht weinen, Dummerchen. So unwirsch verhält sich der Papa leider zu uns allen.“

Obwohl sie sich darum bemüht, kann Frau Annette einfach nicht zärtlich sein und ihre Tochter trösten. Ihre unnahbare, derbe Art lässt solche Zeichen der Zuneigung anderen Menschen gegenüber nicht zu.

Clarissa hat ihren Kopf zwischen den Armen aufgestützt und ihre Tränen benetzen den Armen Ritter auf ihrem Teller. „Ich weiß, der Papa wollte lieber einen Sohn haben.“

„Lass das, Kind, was soll denn dieses Gerede?“

„Doch, ich weiß es! Er sagt, die Familie würde aussterben, der Heiko sei ein Taugenichts und ich hätte lieber als Junge geboren werden sollen.“

„Was hast du nur für dumme Gedanken in deinem Kopf!“

„Aber ich … Ich trage doch nicht die Schuld, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein!“

Frau Annette lächelt verlegen. Anstatt Clarissa zu umarmen und ihr mütterlichen Trost zu spenden, ist ihre Art, Liebe zu zeigen, eine ganz andere, eine unauffällige. Sie streichelt ihre Tochter nicht, sie näht ihr schöne Kleider. Sie schließt sie nicht in ihre Arme, sie bringt ihr in den kalten Winternächten ein Glas heißer Milch ans Bett und kuschelt sie in die Federdecke ein, wacht um ihre Gesundheit, gibt ihr Ratschläge. Aber Küsse, Umarmungen … wozu?

„Kathrein, bitte räume den Tisch ab!“, ruft sie plötzlich.

Kathrein kommt.

Frau Annette steht auf und geht in die Küche, während Clarissa am Tisch sitzen bleibt. Kathrein trällert ein Lied, bringt die Teller in die Küche hinaus, kommt zurück und hebt die Tischdecke ab. „Geht das gnädige Fräulein heute ins Kino?“

Clarissa verneint.

„Tanzen? Ins Colosseum?“

„Auch nicht.“

Kathrein singt weiter, während Clarissa ans Fenster geht und sich die Tränen aus den Augen wischt.

So ein schöner Sonntag! Sonne über der sonntäglichen Ruhe, stillstehende Schatten, keine Bewegung. Nur dort oben im blauen Himmel dreht ein Raubvogel seine Flugrunden, ohne mit den Flügeln zu schlagen …

Jetzt ist vollkommene Ruhe. Oldenmoor gleicht einer verlassenen Stadt.

Der Papa und die Mama halten ihren Mittagsschlaf. Tante Therese liest im Salon eine Zeitschrift und wartet auf ihren Verlobten. Das Hauspersonal hat Ausgang.

Clarissa geht auf ihr Zimmer und lehnt sich aus dem Fenster. Sie blickt auf die Hagebuttenhecke, in der sich die Vögel laut kreischend und streitend an den reifen, roten Früchten sattfressen. Lieber Gott, denkt sie, gibt es denn nichts Wertvolles in diesem Leben?

In rascher Bildfolge sausen die bekannten Personen und Szenen, die sie umgeben, durch Clarissas Gedanken: Gesche und Gesine in knallgelben Kleidern, der flötenspielende Onkel Suhl, der grimmige Papa mit seinen Kraftausdrücken, der schläfrige Onkel Johann, die Grimassen des Onkel Ewald, Hein Piepenbrink mit seinem Goldzahn, die ewig gelbliche Haut der Tante Therese, die Schule – ihre Schüler –, Heike, Tante Alexandra, Heiko …

Ein Hahn kräht in der Ferne. Es gibt also doch noch zwei lebendige Wesen in der Stadt: den Hahn und Clarissas Herz, das wild und heftig schlägt.

Sie kehrt ins Zimmer zurück. Der Spiegel zeigt ihr ein bekümmertes Gesicht.

Was nützt ihr dieses hübsche, blaue Kleid? Wozu der Spiegel, das nett eingerichtete Zimmer mit der lustigen Tapete? Und dort, die Blumen? Wozu dient der Drang der Menschen, sich mit schönen Gegenständen zu umgeben? Warum hat man stets den Wunsch, gute Freunde zu haben, inmitten fröhlicher Menschen zu leben?

Und was bedeutet all dies, wenn die „anderen“ einen einfach nicht verstehen wollen, einem nicht entgegenkommen? Mein Gott! Wenn sie wenigstens jetzt irgendjemanden hätte, einen Freund, um mit ihm zu reden …

Sie greift zu ihren „Gedichten auf dem Wasser“. Reimer Madrigal kann ihr diesmal auch nicht helfen, er hat keine Antwort auf ihre ungeduldigen Fragen.

Clarissa öffnet also ihr Tagebuch, um sich wenigstens mit sich selbst zu unterhalten.

6. Gedanken

Als ich ein Kind war und noch in die Schule ging, wollte ich schon sehr viel älter sein und das Leben kennenlernen. Ich träumte von einer schönen, heilen Welt. Damals waren für mich der Mond viereckig und die Sterne zum Greifen nahe. Später, als ich in Flensburg das Lehrerseminar besuchte und im Studentenheim wohnte, lernte ich dort viele eigenartige Leute kennen.

Gustav war ein sehr traurig aussehender Jüngling, ein Einzelgänger, der nie gern mit den anderen sprach. Er hatte ein Klavier in seinem Zimmer und komponierte eigenartige Musikstücke, die keine richtige Melodie hatten und unharmonisch und laut klangen. Da er so verschlossen war, verdächtigte ich ihn zunächst des Stolzes; erst später kapierte ich, dass es einfach seine Art war. Zu meinem damaligen Geburtstag schenkte mir Gustav einen Goldfisch. Ich habe mich dermaßen gefreut, dass ich Lust hatte, zu ihm zu gehen, um ihn zu umarmen und zu küssen. Ich erinnere mich sehr genau an diesen Tag, weil ich später viel darüber nachgedacht habe. Wenn die Leute Lust verspüren, jemanden zu umarmen und zu küssen, warum tun sie es dann nicht einfach? Was ist Schlechtes an einer Umarmung, wieso ist es verwerflich, die eigenen Lippen auf die einer anderen Person zu drücken? Warum kann ein Mädchen nicht ein anderes Mädchen oder ein Junge nicht ein Mädchen küssen, ohne dass hieraus eine große Affäre gemacht wird? Mit der Zeit habe ich gelernt, dies zu begreifen. Es war für mich eine ziemliche Enttäuschung, dass man solch ehrlichen Gefühlen der Freundschaft keinen freien Lauf lassen darf, weil die Gesellschaft dies falsch auffassen könnte.

Ich hatte in Flensburg eine sehr durchtriebene und erfahrene Schulfreundin. Sie hieß Olga. Sprach sie manchmal über gewisse Dinge, die ich nicht verstand, dann warf sie mir vor, ich sei entweder eine Heilige, eine dumme Gans oder ein falsches Luder. Ich verstand sie wirklich nicht. Später fing ich allmählich an zu verstehen, was sie gemeint hatte: Ich las Bücher und Zeitschriften, hörte gewissen Unterhaltungen zu. Eines Tages fand ich ein Buch mit einem lustigen Titel, begann es zu lesen und entdeckte darin schlimme Geschichten, die mich sehr schockierten. Ehrenwort, ich habe vorher nie geglaubt, dass das Leben und die Menschen so sein könnten.

Wurde ein Baby geboren, glaubte ich fest daran, dass es der Storch gebracht hatte (Schande! Ich hätte ja schreiben müssen: „dass es der Storch war, der es gebracht hatte“. Wenn mein Schuldirektor dieses Tagebuch lesen würde, schlüge – oh, welch ein furchtbares Wort! – er seine Arme entsetzt über den Kopf! Ach, was geht mich das an? Ich schreibe ja nur für mich selbst, einfach so, wie ich denke!).

Heute weiß ich, wie die Babys geboren werden. Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich es eigentlich nur so ungefähr, genau kann ich mir das Ganze nicht vorstellen. Schade! Ich fand die Geschichte mit dem Storch viel schöner. Wieder so eine Enttäuschung.

 

Eines Tages beobachtete ich, wie Frau Johansen, die Leiterin des Studentenheims, einen jungen Mann namens Uwe fest in den Armen hielt und ihn auf den Mund küsste. Ich dachte, ich würde vor Aufregung tot umfallen. Ich empfand es als ungeheuerlich, dass eine verheiratete Frau so etwas tat. Ich wusste, dass diese Tat verwerflich war, und trotzdem konnte ich nichts Schlimmes an ihr entdecken. In mir war eine fürchterliche Mischung von gegensätzlichen Gedanken, die in meinem Kopf herumlaborierten.

Es gab da noch etwas, das ich nicht verstehen konnte: Neben dem Studentenheim lag ein großes, schönes Haus, das sehr wohlhabenden Leuten gehörte. Sie hatten ein Grammophon, ein luxuriöses Automobil mit Chauffeur, einen herrlichen, von drei Gärtnern gepflegten Garten und sehr viele Bedienstete. Die Hausbewohner waren stets äußerst nobel gekleidet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war da eine kleine, fast zerfallene Kate, feucht und heruntergekommen, in der eine arme Witwe hauste; sie pflegte ihren schwerbehinderten Sohn, der bei einem Arbeitsunfall das rechte Bein verloren hatte.

Ich dachte damals, diese Welt wäre ungerecht und die Menschen würden irren. Alle müssten genügend Geld haben. Es dürfte keine Reichen und keine Armen geben. Aber in Wirklichkeit gibt es sie eben doch. Und wenn die Reichen ihr Geld an die Armen verteilten? Zum Beispiel könnten doch die reichen Nachbarn ihr Automobil verkaufen und das Geld der armen Witwe geben. Das Auto war ja nicht unbedingt nötig … Ich habe dies dem Herrn Hansen gesagt, er runzelte böse die Stirn und fragte mich, ob ich, Clarissa von Steinberg, eine Kommunistin geworden sei. Ich war verdutzt und verstand diese Frage nicht. Heute verstehe ich sie. Ich weiß ungefähr, was der Kommunismus ist. Unser Pastor in Oldenmoor hielt heute seine Predigt gegen den Kommunismus und die Kommunisten. Was ich ganz und gar nicht verstehe, ist, wieso er danach auch noch behaupten konnte, dass wir Kinder Gottes sind, die alle einen Anspruch auf das gleiche Glück haben. Haben dies auch die Kommunisten oder haben sie es nicht? Wie kann man so etwas miteinander vereinbaren?

(Ich finde überhaupt, dass ich sehr dumm und ungebildet bin!)

Der Papa ist ausgesprochen absonderlich zu mir. Eines Tages hörte ich ihn zufällig zu Onkel Suhl sagen, er hätte es viel lieber gehabt, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Onkel Suhl bemerkte darauf, der Papa könne doch sehr froh sein, dass aus mir so eine tüchtige Lehrerin geworden sei.

Obwohl ich Onkel Suhl für seine Verteidigung sehr dankbar bin, habe ich bemerkt, wie sehr sich der Papa verändert hat. Als ich acht war, war er wie ein Gott für mich. (Verzeih mir, lieber Gott!) Für mich gab es niemanden, der schöner, reicher, intelligenter oder lieber gewesen wäre. Ich kam von der Schule nach Hause und fragte ihn: „Papa, warum kommt am Tag die Sonne und der Mond in der Nacht?“ Papa nahm mich auf seinen Schoß und erklärte mir alles. Ich habe es nicht verstanden, aber dabei gedacht: Der Papa ist viel weiser als die Lehrerin. Und wenn mich jemand auf der Straße belästigt oder gehauen hat, dann sagte er streng: „Ich lasse jetzt auf der Stelle diesem Lump eine ordentliche Tracht Prügel verpassen!“ Und dabei lachte er herzhaft. Ich habe immer geglaubt, dass er auch das tun würde, was er sagte.

In der damaligen Zeit hatte der Papa noch das Gut und sehr viel Geld. Hier, im Herrenhaus, wurden glanzvolle Feste gefeiert. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Es kamen zahlreiche Gäste, alle Zimmer und der Salon waren hell erleuchtet und es wurde getanzt. Onkel Suhl spielte auf seiner Flöte immer dieselbe Melodie, die ich bald auswendig konnte. Es kamen der Bürgermeister, die Stadträte und viele junge Damen und Herren aus Oldenmoors bester Gesellschaft. Eines Tages musste ich ein Gedicht aufsagen. Es war „Der Baum“ von Rolf Brandt. Ich war sehr aufgeregt und verschämt und sagte die Verse mit der Hand vor meinem Mund auf. Danach gab es einen Applaus für mich und alle streichelten mein Gesicht und sagten: „Wie niedlich! Das hast du aber sehr schön vorgetragen.“ Danach sprach der Papa noch einige Worte und erntete ebenfalls viel Applaus und freudige Zustimmung. Als ich das sah, dachte ich: Der Papa ist der schönste und beste Mensch auf der Welt!

Wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihn gebeten: „Kaufst du mir den Mond, lieber Papa?“, so glaubte ich damals, würde er sofort das Lenchen kommen lassen, ihm einige Geldscheine in die Hand drücken und zu ihm sagen: „Lenchen, bitte gehen Sie sofort und besorgen Sie den Mond für meine Clarissa!“ Eines Tages, im Zirkus, war ich sehr erschrocken, als der Dompteur in den Käfig eines Löwen stieg. Als ich nach Hause kam und den Papa sah, hochgewachsen und laut sprechend, dachte ich: Der Papa kann es sogar mit fünf Löwen in einem Käfig aufnehmen!

Sehr oft bewunderte ich ihn im Stillen und himmelte ihn an. Wenn er es merkte, lächelte er mir zu, und das machte mich sehr glücklich.

Heute ist leider alles ganz anders. Man wächst, wird älter, lernt und studiert, beobachtet und versteht, dass die Dinge nicht so sind, wie man sie sich damals in der Kindheit eingebildet hat.

Vor allem: Der Papa ist nicht mehr der Riese, tausend Mal größer als ich. Das Traurige an dieser Feststellung ist nicht, dass ich gewachsen bin, sondern meiner Meinung nach leider er derjenige ist, der geschrumpft ist. Natürlich sind auch das Herrenhaus, der Salon, der Hof und der Rasen für mich kleiner geworden, seit ich gewachsen bin.

Ich fing an, an meinem Papa Fehler zu entdecken. Eines Tages verwendete er ein falsches Wort. Zunächst war ich schockiert, beim späteren Nachdenken fand ich dies aber nicht mehr so wichtig. In der Tat war es ja auch eine Nichtigkeit. Ein anderes Mal diskutierte der Papa sehr heftig mit Onkel Suhl, und dabei wurde mir leider bewusst, dass sein Wissen viel geringer war, als ich immer gedacht hatte. Die Diskussion wurde heftiger, beide waren ziemlich aufgeregt und plötzlich, inmitten anderer Leute, sagte der Papa ein hässliches Schimpfwort. Ich errötete vor Scham; ich hatte wieder eine schwere Enttäuschung erlebt.

Später kamen weitere Beobachtungen hinzu. Der Papa und die Mama verstehen sich nicht mehr so gut. Sie ist stets traurig und schon oft habe ich sie beim heimlichen Weinen entdeckt. Als ich eines Tages ahnungslos mitten in einem heftigen Streit das Schlafzimmer der beiden betrat, sah ich, dass der Papa die Mama geohrfeigt hatte.

(Sollte irgendjemand dieses Tagebuch lesen, sterbe ich vor Scham!)

Immer wieder versuche ich, den Papa beim Sprechen nicht allzu kritisch zu taxieren, leider vergebens. Stets erwische ich mich dabei, alles, was er sagt und tut, genau zu beobachten und zu bewerten. Eigentlich steht mir dies gar nicht zu. Ich bin doch letztendlich seine Tochter und liebe ihn sehr.

Was mich außerdem noch traurig macht, ist, dass meine Mutter mich nie umarmt oder küsst. Ich lebe hier allein vor mich hin, wie eine ungeliebte Katze. Als ich in der Ferne war, dachte ich, dass ich bei meiner Rückkehr ins Elternhaus alle froh und munter vorfinden würde. Ich erinnerte mich an meinen Patenonkel Johann, sehr dick und gemütlich, der mir immer schöne Geschichten erzählt hatte; an Tante Alexandra, die im groten Schapp auf der Diele ihres schönen, alten Reetdachhauses stets eine herrlich verzierte Dose, gefüllt mit leckeren Kokos- und Zimtplätzchen, aufbewahrte; an meine Spielgefährten Rollo, Heide, Klumpfuß, Heiko, Gesche und Gesine. Ich habe fast jede Nacht von ihnen geträumt.