Leise Musik aus der Ferne

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Er unterbricht seine Rede, als ob er durch die Überzeugungskraft seiner schwerwiegenden Argumente selbst ermattet wäre. Er drückt verstohlen die weißen Manschetten zurück, die aus den Ärmeln seines Gehrockes auszubrechen scheinen, und blickt verlegen auf die Spitzen seiner blank geputzten schwarzen Gamaschenschuhe, an denen der Schnee feuchte Ränder hinterlassen hat. Die beiden anderen Herren sehen sich gegenseitig mit ernsten Mienen an und nicken zustimmend mit ihren ergrauten Häuptern.

Oliver sieht die drei Besucher nacheinander an, streicht sich über den Schnurrbart und antwortet mit einem verstohlenen Lächeln: „Ich habe es bereits abgelehnt, Udo Dammann.“

„Aber, Herr von Steinberg“, beharrt dieser, „unsere Stadt benötigt Ihre Dienste, Sie können und dürfen sich dieser Verantwortung doch nicht so einfach entziehen. Sie sind der geeignete Mann, um den drohenden Vormarsch der Linken in den Stadtrat zurückzudrängen.“

Oliver hüstelt trocken und bleibt bei seiner Ablehnung, die er durch ein Kopfschütteln ausdrückt.

Ein anderer Besucher beginnt langsam und mit sehr wichtigem Gehabe zu reden: „In meiner Eigenschaft als Vertret…“

Udo Dammann fällt ihm nervös ins Wort: „Gedenken Sie doch Ihres werten Herrn Vaters, dem hochwohlgeboren Herrn General Peter von Steinberg, der seinem Vaterland bis zuletzt gedient hat und sein Leben ehrenvoll bei der Schlacht von Sedan ließ.“

Der vorher unterbrochene Redner macht einen erneuten Versuch: „Wie ich bereits vorhin sagte …“

Und Udo Dammann bekräftigt: „Also, Herr von Steinberg, überdenken Sie es noch einmal.“

Es vergehen einige Minuten. Oliver von Steinberg stellt sich vor die drei Herren und spricht, während er seinen Schnurrbart zwirbelt: „Ich bedaure sehr, meine Freunde, es kann nicht sein.“ Hüsteln. „Ich habe leider keinerlei Beziehung zur Politik. Es wäre ein furchtbarer Reinfall. Für uns alle! Die von Steinbergs sind für so etwas nicht geschaffen …“

„Aber, aber!“

„… wenn wir etwas sagen möchten, dann nennen wir es auch beim Namen. Ohne den Herren zu nahe treten zu wollen, wir haben nur ein Wort. Nun denn, Sie wissen genau, dass ein so offenherziger Bürger wie ich einen miserablen Politiker abgeben würde, der am Ende dadurch auch noch seiner eigenen Partei einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen könnte.“

Dammann macht einen letzten Versuch: „Aber es geht ja nicht nur um die eigene Partei, es …“

Oliver unterbricht ihn bestimmt mit einer Geste: „Ich hoffe sehr, dass Sie mir meine Offenheit nicht übel nehmen … Ich kann wirklich nicht annehmen … Ich danke Ihnen!“

Die Kommissionsmitglieder erheben sich. Sie ziehen ihre Wintermäntel über. Drei Händedrücke. Alle gehen zur Haustür. Als die zwei ersten Besucher bereits auf der Straße sind, hält Oliver Udo Dammann am Pelzkragen seines Wintermantels zurück und flüstert ihm leise zu: „Hör zu, du Heuchler, das nächste Mal brauchst du dich mir gegenüber nicht derart zu verstellen, auch wenn du mit solch einer hochkarätigen Abordnung zu mir kommst! Mein guter, alter Freund Udo macht ein Gehabe, als ob er ein Lord im britischen Oberhaus wäre. Nicht zu glauben!“ Dabei lächelt er und hüstelt.

Dammann sagt: „Aber, aber, mein lieber Oliver!“, lächelt zurück und drückt ihm dabei beide Hände. Danach eilt er seinen vorangegangenen Begleitern auf dem mit Schnee bedeckten Gehweg hinterher.

* * *

Juni 1912.

Der alte Speisesaal glänzt für ein besonderes Fest.

Hans-Peter und seine Frau feiern mit der ganzen Familie die Taufe ihrer ersten Tochter. Die Namensgebung gab Anlass zu längeren Diskussionen. Hans-Peters Brüder waren der Meinung, dass das Mädchen den Namen seiner Großmutter tragen solle. Der Vater dagegen war von einem Roman begeistert, dessen Heldin Lady Clarissa hieß. Dieser Name gefiel ihm außerordentlich. „Meine Tochter wird Clarissa heißen!“ Oliver von Steinberg stimmte ihm zu. Und so wurde das Kind auf den Namen Clarissa getauft. Johann und Tante Alexandra waren die Taufpaten.

Jetzt feiern alle das freudige Ereignis. Der Saal ist voller Leute, die sich recht angeregt unterhalten. Onkel Suhl spielt auf seiner Flöte und wird am Klavier von Tante Alexandra begleitet.

Mit seinem Töchterchen auf dem Arm tritt der stolze Vater ein. Alle treten näher, um das Baby zu betrachten.

Clarissa öffnet die blauen, runden Äuglein, die sich, vom Licht geblendet, gleich wieder schließen. Das noch runzlige Gesicht verzieht sich mit einem Ausdruck des Missfallens. Die winzigen Händchen fuchteln in der Luft herum.

„Ist sie nicht allerliebst?“

„Ganz der Papa!“

„Ich finde, sie sieht eher ihrem Großvater ähnlich, kein Zweifel.“

Oliver von Steinberg zwirbelt stolz seinen Schnurrbart. „Typisch, die Nase der von Steinbergs.“

Gelächter.

Am Rande des Zimmers beschreibt Tadeusz Rembowski, ganz in einen steifen Kragen und in neue, offensichtlich zu enge Stiefeln eingepfercht, einem Gast die bahnbrechenden maschinellen Neuerungen, die er in seiner Bäckerei eingeführt hat.

* * *

September 1914.

Christian von Steinberg ist bei der mörderischen Schlacht an der Marne gefallen. Die Überführung des Sarges mit seinen sterblichen Resten nach Oldenmoor wurde durch den besonderen Einsatz des Vorsitzenden des Stadtrates, Udo Dammann, ermöglicht.

Die Nachricht verbreitet sich rasch. Die Freunde der Familie sammeln sich nach und nach im Hause. Der große Spiegel ist zum Zeichen der Trauer verhängt. Oliver von Steinberg ist völlig zusammengebrochen: Er kann es immer noch nicht fassen, dass der jüngste und insgeheim der bevorzugte seiner Söhne nicht mehr ist.

Der Sarg wird zunächst in der Diele des Hauses aufgebahrt, um dann, unter reger Anteilnahme der riesigen Trauergemeinde, mit militärischen Ehren in der Familiengruft der von Steinbergs beigesetzt zu werden.

Christians ältere Brüder, Hans-Peter, Johann und Ewald, erhielten zur Beerdigung Heimaturlaub. Stumm stehen sie in ihren Uniformen um ihren Vater herum: Der Älteste ist bei der Feld-Artillerie, die beiden anderen sind Infanteristen.

Der alte Oliver liest immer wieder den letzten Brief Christians, zwei Tage vor seinem Tode geschrieben:

An der französischen Front, den 13. September, 1914.

Lieber Papa,

ich hoffe sehr, dass diese Zeilen Dich bei bester Gesundheit erreichen. Nachdem die ersten euphorischen Wochen des Krieges verstrichen sind, fange ich langsam an, über den Sinn und den Unsinn dieses gegenseitigen Völkermordes nachzudenken. Wir hatten schon den Fluss Marne überquert, da haben die Franzosen eine starke Gegenoffensive entfaltet und eine riesige Bresche in unsere Front geschlagen, so dass wir den Befehl zum Rückzug erhielten. Wir haben uns hinter der Aisne eingegraben und halten hier die Stellung.

Die Franzosen – von den Engländern unterstützt – versuchen immer wieder, uns weiter zurückzudrängen. Bisher ohne Erfolg. Aber bei jedem ihrer Angriffe sowie auch bei unseren Gegenangriffen (zwei Mal versuchten wir bereits den Fluss zu überqueren, um Brückenköpfe am anderen Ufer zu bilden) bleiben Hunderte von Toten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld liegen oder ertrinken im Fluss.

Es ist grauenvoll. Wir liegen im Schützengraben und hören das Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. Es ist wie ein Albtraum!

Ich sende Dir, lieber Papa, diesen Brief mit einem verwundeten Kameraden; er hat einen Lungen-Steckschuss und wird heute nach Hause, nach Rendsburg, verschickt. Der Stabsarzt sagte mir, er wird es wahrscheinlich nicht mehr bis zu seinem Ziel schaffen. (Hoffentlich kommen diese Zeilen irgendwie in Deine Hände, ich hätte es nicht gewagt, diesen Bericht über den – wahrscheinlich zensierten – Feldpostweg zu senden).

Wie geht es meinen Brüdern? Von ihnen hörte ich nichts und bete darum, dass Gott sie beschützen möge, damit wenigstens sie heil aus diesem Inferno herauskommen.

Verzeih mir, lieber Papa, aber ich habe die Vorahnung, dass ich von diesem Jüngsten Gericht nicht mehr lebend zurückkommen werde. Sollte mir etwas zustoßen, so bitte ich Dich, meinem letzten Willen zu entsprechen und alle meine Gedichte – Balladen, wie Du immer zu sagen beliebtest – zu vernichten. Es darf keines davon je veröffentlicht werden. Vergib mir, Vater, auch der liebe Gott möge uns allen dieses begangene Unrecht vergeben.

Es umarmt Dich und alle zu Hause in Liebe

Dein Christian

Der Brief war bei der Post in Rendsburg aufgegeben worden.

* * *

April 1915.

Wieder herrscht Trauer im großen Hause, die Spiegel sind mit schwarzen Tüchern verhängt.

Der Leichnam des alten Oliver von Steinberg ist in seiner Uniform eines Obersten der Kavallerie im Salon aufgebahrt. Die Standuhr, ahnungslos, dass dies in diesem Augenblick des Schweigens vollkommen unpassend sei, schlägt dumpf drei Mal und erntet dafür die vorwurfsvollen Blicke der Trauernden. Das Lenchen eilt hinzu und hält das Pendel an.

Die Kerzen brennen. Zahlreiche Bewohner der Stadt Oldenmoor wollen von dem angesehenen Toten Abschied nehmen. In sämtlichen Räumen des Hauses drängeln sich die Kondolierenden. Tante Alexandra versucht zu weinen, sie kann es aber nicht. Hans-Peter, inzwischen zum Artillerie-Fähnrich avanciert, und Johann stehen in ihren Uniformen neben dem Sarg und blicken den Verblichenen traurig an. Ewald ist noch nicht eingetroffen.

Harald Suhl, der enge Freund der Familie, dichtet bereits in Gedanken die Inschrift für Oliver von Steinbergs Grabstein: „Er war ein guter Sohn, ein musterhafter Vater und ein treuer Freund, Wohltäter der Armen, der Ehrlichste unter den Ehrlichen. Ruhe in Frieden für alle Ewigkeit.“

 

Das Lenchen weint bitterlich und blickt betrübt auf den Leichnam ihres geliebten Herrn, der nie wieder zurückkehren wird.

* * *

Ein Nachmittag im November 1918.

Die Familie ist nach dem Ende des furchtbaren Krieges wieder vereint. Die drei Brüder sind nach Hause zurückgekehrt; als Letzter Ewald, der einige Monate in einem Lazarett verbringen musste, um sich von den Folgen einer zwei Wochen langen Verschüttung in einer Wehrbefestigung an der belgischen Küste zu erholen.

Alle sind froh, dass zumindest Hans-Peter, Johann und Ewald die schlimme Zeit überlebten. Hans-Peter hält die Hand seiner Frau Annette, während Clarissa still auf den Knien ihres Patenonkels sitzt und mit ihren wachen, blauen Augen munter in die Runde blickt.

Das Lenchen schenkt die Bierkrüge mit dem Gerstensaft aus Udo Dammanns Brauerei voll und alle prosten sich gegenseitig zu. Hans-Peter erhebt sich.

„Ihr Lieben! Leider Gottes war es weder unserem lieben Papa noch unserem armen Bruder Christian vergönnt, diese Stunde zu erleben und mit uns zu verbringen. Ich bitte euch, euer Glas auf das Andenken unserer lieben Toten zu heben.“ Nachdem alle seiner Aufforderung Folge geleistet haben, führt er fort: „Dieser verlorene Krieg wird für unsere Heimat und auch für uns bittere Folgen haben. Wir alle werden es zu spüren bekommen und es sehr schwer haben. Deshalb müssen wir, mehr denn je, zusammenhalten und mit vereinten Kräften die auf uns zukommenden Widrigkeiten erfolgreich meistern und überwinden.“

Eine stille Träne kullert an Tante Alexandras Gesicht herab. Geistesabwesend trocknet sie ihre Wange mit einem Taschentuch.

* * *

Die Gestalten der Vergangenheit und ihre Stimmen sind für immer der Zeit gewichen. Doch das alte Esszimmer und der Salon blieben erhalten. Und jetzt, im Zwielicht des hereinbrechenden Abends, träumen sie von den Verblichenen.

4. Alltag

Plötzlich zerbirst der Zauber. Das Lenchen tritt ein und schaltet das elektrische Licht ein, um den Tisch zu decken. Bereits vor mehreren Jahren – als Oldenmoor an das Stromnetz angeschlossen wurde – hatte man den gewaltigen Lüster mit elektrischen Kerzen ausstaffiert.

Die Helligkeit verjagt die Gespenstererscheinung und verschluckt deren bläuliches Szenarium. Das Esszimmer kehrt in die Gegenwart zurück. Nicht aber das Lenchen, gleicht es doch selbst eher einem Geist aus der Vergangenheit.

Sie breitet das Tischtuch aus, deckt das Teegeschirr auf und kehrt mit ihrem schweren, wiegenden Gang in die Küche zurück.

Hans-Peter und Frau Annette kommen herein. Ein wenig später stoßen Tante Alexandra, Johann und Ewald dazu.

Auch Clarissa erscheint, ganz leise, mit einem Buch unter dem Arm. Sie begrüßt Tante Alexandra, ihre Eltern, danach Onkel Ewald und zuletzt ihren Patenonkel mit einem Kuss auf die Wange. Johann blickt sie mit seinen trüben Augen an und murmelt einige unverständliche Worte als Begrüßung vor sich hin.

Clarissa bemerkt mit Widerwillen die starke Alkoholfahne, die ihrem Patenonkel anhaftet. Sie setzt sich in einen Sessel in der Nähe der Uhr und beobachtet von dort aus unauffällig Onkel Johann, der sich mit gespreizten Beinen, die Arme über seinem umfangreichen Leib hängend, auf dem Sofa ausgebreitet hat: Seine Augen sind fast geschlossen, wie die eines schläfrigen Ochsen; das gerötete Gesicht, die schlaffen Wangen, das Doppelkinn über dem Stehkragen, die lichten, dünnen Haare, die seine Glatze nicht mehr verbergen können. Ab und zu, ohne erkennbaren Anlass, öffnet er die Augen einen Schlitz weit und gibt seufzend sein übliches „Ach, mein lieber Gott!“ von sich.

Auch wenn sie noch so intensiv versucht, sich dazu zu zwingen, vermag Clarissa es einfach nicht, ihren Patenonkel – diese stets nach Alkohol übelriechende Person – wirklich gern zu mögen. Ganz Oldenmoor weiß, dass Johann von Steinberg, Sohn des seligen Herrn Oberst Oliver von Steinberg, ein Trinker ist, der nicht arbeitet und den ganzen Tag müßig herumhockt; seine Hauptbeschäftigung ist es, auf den Abend zu warten, um sich dann in seiner Stammkneipe „Zur Schleuse“ volllaufen zu lassen.

Mit finsterer Miene sitzt Hans-Peter am Kopf des Tisches, sehr tief in ernste Gedanken versunken.

Tante Alexandra strickt und zeigt dabei Frau Annette ein neues Muster: „Schau mal, eine Masche rechts, dann eine Masche abheben …“, erklärt sie.

Frau Annette meint: „Ach, das ist ja gar nicht so kompliziert, wie ich zunächst dachte, Tante Alexandra!“

„Na siehst du!“

Die Augen auf den Boden gerichtet, spielt Ewald, ganz in seinen Gedanken verloren, mit einer Streichholzschachtel. Er ist sehr mager und hat eine gelbliche, ungesunde Gesichtsfarbe. Seine Haut wirkt derart durchsichtig, dass man glaubt, seinen Schädel durch sie hindurch sehen zu können. Dann und wann verzieht er das Gesicht mit einer gequälten Grimasse.

Clarissa lauschte eines Tages einem Gespräch der Leute in der Stadt: „Siehst du, da geht Ewald von Steinberg, ein guter Kerl, aber hoffnungslos drogensüchtig. Eines Tages wird er elendig krepieren …“

Und sie fühlt, dass alle im Hause von Onkel Ewalds Laster wissen. Man weiß es, man spricht aber nicht darüber.

Hans-Peter blickt seine Frau an. „Annette, lass doch bitte den Tee servieren.“

Die Mama erhebt sich und geht in die Küche. Tante Alexandra, die Brille auf ihre runzlige Nase geklemmt, senkt ihren Vogelkopf über das Strickzeug und hantiert verbissen mit den grünen Galalit-Nadeln herum.

Im Salon nebenan sitzen Tante Therese und Hein Piepenbrink und unterhalten sich sehr leise.

Ab und zu fährt ein Automobil vorbei. Gelegentlich hört man einen Hund bellen oder das jammervolle Liebesgeschrei von Katzen.

Alle setzen sich an den Tisch und das Lenchen serviert den Tee. Tante Alexandra und Annette unterhalten sich jetzt über Stickereien. Johann schlürft mit tödlicher Verachtung seinen Tee und seufzt: „Ach, mein lieber Gott!“

Ewald lehnt widerwillig die selbstgebackenen Kekse ab, die Clarissa ihm anbietet.

Stille. Stille, nur von dem unaufhörlichen, rhythmischen Ticken der Uhr begleitet.

„Welch eine traurige Gesellschaft!“, denkt Clarissa beklommen.

Mit wehleidiger Stimme murmelt Johann seinen Brüdern zu: „Morgen ist die Hypothek für das Reetdachhaus fällig.“

Clarissa setzt eine betrübte Miene auf: Hier kommt das peinliche Thema „Geld“ wieder …

Ewald zuckt mit den Schultern. Tante Alexandra unterhält sich sehr angeregt mit Frau Annette.

„Und der Rembowski, will er nicht verlängern?“, fragt Hans-Peter.

Johann weiß nicht so recht und meint, unsicher: „Vielleicht nochmals für sechs Monate.“

„Was, nur für sechs Monate? Verfluchtes Polacken-Gesindel!“

Hans-Peter steht wütend auf. Er geht zum Fenster und sieht hinaus. Dort gegenüber steht die „Bäckerei T. Rembowski u. Sohn“. Gestern noch war es eine kleine Bruchbude, eine Tür, ein kleines Ladenfenster. Heute ist es eine Brotfabrik.

Hans-Peter blickt durch das Fenster und erinnert sich …

Damals, als Tadeusz Rembowski aus Polen ankam, mit einem Bündel Kleider als seine gesamte Habe, seinem Weib und seinem kleinen Sohn, gehörten noch fast alle Häuser in seinem Blickfeld den von Steinbergs. In Oldenmoor pflegte man zu sagen: „Ich gehe in das Von-Steinberg-Viertel.“ Nun gut. Der alte Oliver von Steinberg starb. Der Krieg ging vorbei. Steuern und Inflation verzehrten das geerbte Vermögen, das sowieso längst nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte. Mit dem Lauf der Jahre häuften sich die Schulden und es mussten Hypotheken auf die Häuser aufgenommen werden. Als diese dann später fällig wurden, hatte man wiederum kein Geld, um sie abzulösen. Also gingen die Häuser nach und nach in das Eigentum der Rembowskis über. Denen ging es immer besser; sie hatten genügend Geld. Darüber hinaus hatten sie rasch erkannt, dass man mit dem Verleihen von Geld an die von Steinbergs schnell und billig an deren Häuser kam. In einigen Monaten würde auch noch das Haus der armen, alten Tante Alexandra in ihr Eigentum übergehen …

Hans-Peters Augen blicken wütend auf die weiß getünchte Bäckerei-Fassade, deren Fenstergläser spöttisch das Mondlicht widerspiegeln.

„Ausländer-Bagage!“

Ein tiefer Groll wächst in Hans-Peters Brust. Denn er ist ein von Steinberg und diese Ländereien gehörten bereits vor vielen Generationen derer von Steinberg. Sie führen einen geachteten Namen. Sie haben eine ehrenwerte Tradition, die auf einige Jahrhunderte zurückgeht. In Oldenmoor war ihr Name einst eine Institution. Niemandem im Umkreis von fünfzig Meilen wäre der verstorbene Oliver von Steinberg ein Unbekannter gewesen!

Heute aber sind seine Nachkommen völlig erschlafft, untätig, ohne jegliche Hoffnung und befinden sich auf dem sicheren Weg in die Armut, abhängig von der Duldsamkeit eines dahergelaufenen polnischen Bäckers, der nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben kann!

Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück.

„Gibt’s denn hier nichts zu trinken?“, fragt Johann.

„Möchtest du noch eine Tasse Tee?“, lächelt Frau Annette.

„Ach, mein lieber Gott!“, gibt er entmutigt zurück.

Clarissa liest Verse von Reimer Madrigal, ihrem Lieblingsdichter. Es muss ein Künstlername sein, denkt sie. Der Name ist viel zu schön, um echt zu sein. Das Buch heißt „Gedichte auf dem Wasser“. Wie herrlich sie doch sind! Alles, was er schreibt, kann man wirklich nachempfinden. Manchmal sind ihr einige Verse zwar nicht ganz verständlich, aber schön sind sie trotzdem … Reimer Madrigal schrieb sein Buch in Flensburg. Er stellt sich sicherlich nicht vor, dass in einem großen, alten Haus inmitten eines Städtchens auf dem Lande sein Buch von einem jungen Mädchen im Kreise einer solch traurigen Familie eifrig gelesen wird.

Ewald steht auf, steckt die Hände in die Hosentaschen und fängt an, mit einem zunehmenden nervösen Zucken im Gesicht auf und ab zu gehen. Lächelnd bemerkt Tante Alexandra: „Ach, diese ungeduldigen Jungs! Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als mit ihnen nach Hause zu gehen.“ (Für die Alte sind Hans-Peter und seine Brüder immer noch jene Jungs, die sie auf dem Arm trug, als diese noch Kinder waren.) „Kaum sind sie einige Minuten beisammen, wollen sie schon wieder raus. Da war doch Christian der Häuslichste …“

Auf einmal sind alle sehr still und gedenken des lieben Gefallenen. Für einige Augenblicke beherrscht die Seele des Toten die Erinnerung der Lebenden.

Dann öffnet sich die Tür und Heiko erscheint aus der Dunkelheit der Diele.

Tante Alexandra setzt die Brille ab und fragt: „Wer ist dort, Annette?“

„Es ist Heiko.“

„Komm her, mein Junge.“

Heiko geht auf sie zu, beugt sich über sie und küsst sie sanft auf die Stirn: „Guten Abend, Großmama.“

„Wo treibst du dich denn noch so spät herum?“

„Ach, so überall und nirgends …“

Der Bursche wirkt zerstreut, greift ungeniert nach einem Keks von dem Teller, der auf dem Tisch steht, und beginnt zu kauen.

Unauffällig beobachtet Clarissa ihren Vetter. Heiko sieht sie nicht einmal an. Da steht der Deichkater unter dem Lüster, die wilden, blond gelockten Haare auf dem Kopf, das braungebrannte Gesicht mit dem entschlossenen, harten Blick, die Krawatte lässig um den geöffneten Hemdkragen gelockert …

Jetzt konzentrieren sich alle Blicke auf ihn. Hans-Peter muss seinen Groll auf die Rembowskis auf irgendjemanden entladen: „Sag mal, Heiko, das sind ja schöne Geschichten, die ich über dich heute erfahren musste …“

„Ach, wirklich? Sieh mal einer an!“ Heiko setzt sich auf die Sessellehne neben Tante Alexandra, legt seinen Arm liebevoll über ihre Schultern und sagt – Hans-Peter vollkommen ignorierend – mit einem Lächeln: „Großmama, du musst aber jetzt ins Bett. Dies ist keine Zeit für kleine Mädchen, um noch auf zu sein …“

Welch eine Frechheit!, denkt Clarissa. Er beachtet den Papa überhaupt nicht. Heiko müsste dafür Hiebe bekommen. Es stimmt also doch, dass er der Tunichtgut der Familie ist.

Hans-Peter pflanzt sich vor den Deichkater. Da der Junge keinen Vater hat, meint wohl der Hausherr, dass er den Platz des Erziehers einnehmen müsse; er fühlt sich hierzu als der Älteste der männlichen von Steinbergs geradezu berufen. „Du Faulpelz bist heute nicht bei der Arbeit erschienen! Hauke Holm hat sich bei mir beschwert.“ Er verschränkt seine Arme. „Glaubst du nicht, dass es langsam Zeit wird, dass du zur Vernunft kommst?“

 

Johann öffnet die Augen: „Ach, mein lieber Gott!“

Ewald schreitet weiter im Zimmer auf und ab, wie ein Raubtier im Käfig.

Heiko lächelt herablassend. (Er zieht eine Fratze wie der Teufel, denkt Clarissa.) Kaltschnäuzig blickt er in Hans-Peters Augen: „Faulpelz? Arbeiten? Aber ich tue doch genau das Gleiche wie ihr alle! Überhaupt, ich habe bisher niemals jemanden von euch arbeiten sehen. Für diese gesamte Abteilung herrscht wohl ständig Ruhepause, was?“

Er lässt das gleiche mokierende, kurze Gelächter los wie in seiner Kindheit.

Hans-Peter tritt nervös von einem Bein auf das andere. Seine Frau sieht ihn vorwurfsvoll an, als ob sie ihm sagen wolle: „Hans-Peter, warum lässt du nicht von dem Jungen ab? Er ist doch nicht dein Sohn!“

Heiko greift nach einem weiteren Keks, bricht ein Stück davon ab, wirft es in die Luft und fängt es mit dem Mund auf.

„Du ungezogener Flegel!“, brüllt Hans-Peter.

„Mit deiner viel gerühmten, guten Erziehung hast du doch auch nicht viel erreicht, nicht wahr?“, kontert Heiko wie aus der Pistole geschossen, indem er aufsteht, sich ihm gegenüber aufstellt und ihm scharf in die Augen blickt.

Hans-Peter zittert, ballt seine Fäuste und explodiert: „Du verfluchter …!“ Er blickt auf die Frauen, dann aber wieder auf Heiko. Er kann das beleidigende Wort „Hurensohn“ gerade noch verschlucken, bevor es über seine Lippen kommt. Es verbleibt ihm ein bitterer Geschmack im Munde.

Verängstigt und erregt sitzt Clarissa in ihrer Ecke. Weshalb ist denn Heiko so? Warum provoziert er stets die Älteren? Immer rebellisch, seit seiner Kindheit. Wie schön wäre es, wenn Heiko vernünftig wäre. Eigentlich sieht er doch nicht hässlich aus, er hat ein männliches, charaktervolles Gesicht, ist groß gewachsen, gewandt …

„Streitet euch nicht, Kinder!“, versucht Tante Alexandra zu schlichten.

Hans-Peter macht auf seinen Absätzen kehrt, geht zum Fenster, öffnet es und holt tief Luft. Ewald greift nach seinem Hut und verlässt wortlos den Raum.

„Ach, mein lieber Gott!“, gibt Johann mit schläfriger Stimme von sich.

Von dem Streit angelockt, stehen Hein und Tante Therese wortlos und verängstigt in der Tür zum Salon.

Hans-Peter kehrt an den Tisch zurück und setzt sich an das Kopfende. Er breitet seine Arme auf der Tischdecke aus und sagt, auf Heiko deutend: „Hätte der alte Oliver von Steinberg diesen Taugenichts noch erlebt, dann wäre er sicherlich vor Kummer gestorben.“

Ungerührt fixiert Heiko die Zimmerdecke.

„Ich weiß, ich weiß, für euch bin ich das schwarze Schaf der Familie …“, mokiert er sich.

„Du bist der Schandfleck der Familie!“, krächzt Johann mit matter Stimme, der die Überzeugung fehlt.

„Lasst doch den armen Jungen endlich in Ruhe!“, gebietet Tante Alexandra.

Der Deichkater pfeift leise vor sich hin.

„Wo ist denn Ewald hingegangen?“

„Sicherlich dorthin, wo er sich sein Kokain besorgen kann.“

Aufruhr!

„Heiko! Das ist aber eine geschmacklose Respektlosigkeit!“, zürnt Hans-Peter und sieht ihn wütend an.

„Es ist keine Respektlosigkeit, es ist einfach die Wahrheit! Ihr wisst doch genauso gut wie ich, dass Onkel Ewald seit seiner Verschüttung im Krieg nicht mehr ohne dieses Zeug leben kann. Oder wollt ihr es einfach nicht wissen?“

„Junge!“, ruft Frau Annette ihm vorwurfsvoll zu und blickt erschrocken zu Tante Alexandra, die, ohne etwas verstanden zu haben, ruhig lächelt.

Clarissa mustert ihren Vetter Heiko. Sogar sein Name klingt hart, er hört sich wie ein Peitschenhieb an: Heiko! – Etwas Wendiges, Raues, Schroffes. Sie denkt verängstigt an jenen Tag zurück, an dem er sie in den Keller einsperrte, und an die Panik, die sie vor dem Ungeziefer ausgestanden hatte. Seit diesem Tage fürchtete sie sich vor diesem Verrückten … Seitdem war die Zeit vergangen, beide waren älter geworden, jeder auf seine Weise, fast ohne einen Kontakt miteinander zu pflegen. Und jetzt steht Heiko auf einmal wieder da, ein ganzer Mann, allerdings mit einem sonderbaren, fremdartigen Gesichtsausdruck, mit Manieren, die ganz anders als die üblichen sind – herb, lässig, provozierend, aggressiv, unerzogen –, aber eben seine eigenen, niemand anderem ähnlich.

Clarissa sieht Heiko direkt ins Gesicht und vermag nicht zu entscheiden, was sie genau für ihn empfindet: Sympathie oder Hass. Hass? Was für ein hochtrabendes Wort!

Heiko schlägt vor: „Großmama, lass uns bitte jetzt gehen, ja?“

Johann steht schwerfällig auf: „Ein sehr guter Vorschlag, ich habe einen riesigen Durst!“

Hein erscheint in der Tür: „Gute Nacht euch allen!“

Seit zwölf Jahren wiederholt er allabendlich, pünktlich um zehn Uhr, diese Worte.

Hans-Peter und Frau Annette küssen Tante Alexandra. Sie verlässt das Haus, auf Heikos Arm gestützt. Johann folgt ihnen mit schweren Schritten bis zur nächsten Straßenecke. Dann schlägt er eilig die Richtung zu seiner Stammkneipe ein.

Tante Therese verabschiedet sich von ihrem Verlobten und zieht sich anschließend in ihr Zimmer zurück. Hans-Peter, seine Frau und die Tochter verbleiben im Esszimmer. Der Papa hadert mit dem Zeitgeist: „Es ist doch unglaublich, dass die heutige Jugend keinen Respekt mehr vor dem Alter hat. Tradition bedeutet ihr überhaupt nichts mehr! Was soll aus dieser Welt noch einmal werden? Alles hat sich verändert.“ Pause. „Clarissa!“

Ach, dass man sich meiner überhaupt noch erinnert! „Ja, Papa?“

„Wie hieß noch jener bekannte Schriftsteller, der einmal sagte, dass die Jugend die Alten nicht verstehen kann und die Alten die Jungen nicht verstehen möchten?“

Clarissa denkt kurz nach. „Tut mir leid, Papa, der Name fällt mir gerade nicht ein.“

„Macht nichts. Jener Herr Schriftsteller, wie er auch heißen mag, irrt gewaltig. Die Jugend kann, aber möchte nicht verstehen. Die junge Generation ist viel zu haltlos, sie ist verloren! Ich verabscheue diese Modernismen. Und ich wünsche nicht, dass mein Fräulein Tochter mit solchen Individuen Umgang hat! Habe ich mich wohl deutlich genug ausgedrückt?“ Der Unterton in seiner Stimme enthält eine unverhüllte Drohung.

„Ist schon gut, Hans-Peter“, besänftigt ihn Frau Annette. „Schimpf nicht mit Clarissa, sie kann doch nichts für Heikos flegelhaftes Benehmen.“

Clarissa, gekränkt, senkt ihre Augen auf das Buch. Ihr Poet sagt: „Im Grunde existiert nur diese traurige Wahrheit: Wir alle leben in Einsamkeit.“

Frau Annette und ihr Gatte verlassen das Esszimmer. Clarissa schließt das Buch und geht hinauf in ihr Zimmer. Sie tritt ans Fenster und öffnet es. Ein heller Halbmond erleuchtet die klare Nacht. Aus der Ferne erklingt leise Musik.

Ohne zu wissen warum, verspürt sie auf einmal ein unwiderstehliches Gefühl, weinen zu müssen.