Buch lesen: «Der Große Herr und die Himmlische Frau»

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Impressum

Der Große Herr und die Himmlische Frau – der unglaubliche Erlebnisbericht eines GI

Maggi Lidchi-Grassi

published by:epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Maggi Lidchi-Grassi

ISBN 978-3-8442-5682-6

Originaltitel: “Great Sir and the Heaven Lady”

Copyright der Originalausgabe © 1993 Maggi Lidchi-Grassi

Umschlaggestaltung: Ireno Guerci

Aus dem Englischen übertragen von Ulrich Wartenberg

I

Als sich der Riegel hob, glitt die von Schrapnellen zernarbte Tür in ihren losen Angeln auf. Drinnen saßen sieben Männer herum, deren Köpfe an der Wand lehnten oder sich über Kartenspiele beugten. Deutlich konnte man im trüben Licht die riesige Kritzelei lesen, die einem von der feuchten Wand entgegensprang: Dich wird ‘s erwischen. Die beiden Männer, die an der Türschwelle standen, starrten auf die Botschaft. Regen trommelte aufs Dach und lief die Fensterscheibe hinunter.

“Hallo”, sagte der größere von den beiden und machte einen Schritt in den Raum hinein. “Ist das die Kompanie Easy?” Sein Optimismus prallte von den Wänden ab und erstarb. Das bereitwillige Lächeln verschwand aus seinem offenen, sommersprossenbedeckten Gesicht. Er stand unentschlossen an der Tür und blickte auf seinen Gefährten, einen kleinen Soldaten von olivbrauner Hautfarbe mit einem intensiven und nicht unhübschen Straßenlümmelgesicht. Auf seinem Kopf nahm sich ein Helm wie die Mütze eines Komikers aus. Der kleine Mann betrachtete rundäugig den Spruch an der Wand. “Wir sind der Ersatz.”

“Und?” fragte der Blonde, ohne von der geschwärzten Laterne aufzublicken, an der er herumbastelte.

“Schließt die Tür!” rief jemand energisch.

“Kümmert euch nicht um Koch. Er ist lediglich eine arme Kreatur. – Ich heiße Kowalski. – Nun kommt schon rein. Und schnell. Es ist kalt genug hier drinnen.” Sie traten salopp herein, und er ließ ein Bein hervorschießen, um die Tür zuzuknallen.

“Koch, warum tust du nicht endlich etwas für diese verdammten Angeln?”

“Er ist unser Spieß”, sagte Koch. Und dann wiederholte er im Leierton: “Kowalski ist unser Spieß.”

“Koch hat ‘nen Absalomkomplex[1]“, rief eine Stimme aus der Ecke, und Kowalski fing an zu lachen. John, der größere Soldat, schob Impi weiter in das Zimmer hinein, und sie ließen ihre Rucksäcke gegen die Wand fallen. Der Platz roch leicht nach Kaffee, aber auch alt und vermufft, etwa wie Stiefel und Strümpfe. Die beiden Neuen fügten dem feuchte Kleider und nasse Regenmäntel hinzu. “Das ist Blom, unser Intellektueller. Von der Uni. Wenn ihr ihm eine Chance gebt, bringt er euch völlig durcheinander.” Der Mann, der Kowalski hatte lachen lassen, erhob sich in der fernen Ecke aus seiner ausgestreckten Lage und brachte, auf einen Arm gestützt, eine zeremonielle Verbeugung fertig.

“Blom zu Diensten.”

“Das ist Robert.” Robert hob einen Arm und ließ ihn fallen.

“Das ist Appleby.”

“Hallo”, sagte Appleby und zog seine Karten näher an sich heran.

“Türk, unser Musiker.” Ein kleiner, gorillahafter Mann mit großen Augen nickte aus der Ecke. Er grinste breit, und man sah, daß ein paar seiner Vorderzähne fehlten.

“If heife Folantif.”

“Wir haben dir doch gesagt, du heißt Solantis.”

“Jetzt ist es Zeit für Walker, seine Redegewandtheit zu demonstrieren”, sagte Blom.

“Ja, das ist Walker. Wacky. Unser BAR-Mann[2]. Aus Texas.” Ein hohlwangiger Soldat, die Hände in die Hüften gestützt, prüfte sie mit ernstem Blick.

“Wie geht ‘s?” fragte er mit breitem Akzent. Dann hob er den Kopf, um sie abzuschätzen. “Ihr ersetzt ein paar tolle Soldaten.”

“Seht ihr, wir kriegen alle unsere guten Sprüche aus Action Comics”, sagte Blom. “Wo seid ihr her?”

“Das ist Impi, Imperiello. Ich bin John Kelly. Wir sind beide aus Brooklyn. Wir sind mit dem gleichen Transport gekommen.” Sie setzten sich gegen die Wand und zogen Zigaretten hervor. Türk brachte Becher mit dampfendem Kaffee.

“Er ist nicht sehr gut, aber er wird euch aufwärmen”, sagte er mit einem liebevollen Lächeln. “Ich war Koch in Chicago, und ihr?”

“Ich war beim Armeetransport”, sagte John. “Hochseeschlepper. Haben abwechselnd die Schlepper auf See gelotst. Das war was. Beste Zeit meines Lebens.”

“Ja. Er wollte zur Marine”, sagte Impi. “Aber da stand ein Spieß, um ihn für die Infanterie auszubilden. Ha, ha, ha!” lachte er und ließ die Nase auf und ab tanzen.

“Genau”, meinte Türk. “Seht ihr, und ich dachte, die Armee braucht gute Köche. Aber wißt ihr, was die zu mir sagen? ‚Wir haben genug Köche. Wir wollen deine anderen Talente entwickeln.’ Da stand mein Spieß und wartete auf mich. Wißt ihr, wie er mich nannte? Gorilla!”

“Na, na”, sagte Impi. “So meinte er das nicht.”

“Unser Sergeant ist zum Hauptmann rübergegangen”, sagte Kowalski und schaute von seinem Brief auf. “Er hat ihn rufen lassen, weil unser Leu zum Divisionshauptquartier gegangen ist, um sich auszeichnen zu lassen. Tapferkeitsmedaille.”

“Hey”, sagte Impi. “Was muß man denn tun, um die zu kriegen?”

“Als erstes brauchst du Eier aus Stahl.”

“Sag mir das zweite nicht, kein Bedürfnis”, meinte Impi. “Ich bin ein Feigling.” In der Ferne fingen die schweren Geschütze zu feuern an.

“Das wird dir Haare auf der Brust wachsen lassen.” Walker goß tiefroten Wein aus seiner Feldflasche auf Impis Kaffeereste. John hielt seinen Becher hin. “Den hab’ ich bei Madame Schelle für Rationen eingetauscht. Zwei für zwei. Die hat Fässer im Keller versteckt. Ich glaube, sie wird hier niemals weggehen. Wer würde es auch tun wollen?”

Vom Wein gewärmt, und vom Trommeln der Regentropfen am Fenster eingelullt, lehnte sich John entspannt gegen die Wand und ließ den Blick im Zimmer umherschweifen. Dich wird’s erwischen.

Wer hätte so etwas geschrieben? Nicht Türk. In der Art, wie er ihnen den Kaffee gereicht hatte, hatte es etwas sehr Nettes gegeben. Nicht der Student, nicht Kowalski, und nicht Walker. Nein. Schwer, sich vorzustellen, daß Applebys Hände irgend etwas anderes als Karten halten sollten. Und Robert? Es könnte Koch oder Robert sein.

“Hey”, fragte er, “wer hat das geschrieben?” Er zeigte mit dem Becher zur Wand.

“Einer, den ‘s erwischt hat”, murmelte Appleby, der noch immer nicht aufblickte.

Keiner sprach. John lehnte sich zurück und schloß die Augen, um den Wein zu genießen. Er wollte die Wand nicht sehen. Seit seiner Grundausbildung, als ihm Sergeant Müller ins Gesicht geschrien hatte, hatte er dieses Gefühl oft genug gehabt.

Die Kanalüberquerung vor zwei Tagen war eine Erholung gewesen. Wie er auf dem Deck der Fähre nach Le Havre gestanden und beobachtet hatte, wie das dunkle Wasser die riesigen Schneeflocken schluckte, hatte er die Kälte vergessen, und die U-Boote und seine Sehnsucht nach Kathy. Er hatte alles vergessen, und nur die Seligkeit war geblieben, auf dem Meer zu sein, seinem Element.

In Le Havre hatten sie dem Wasser den Rücken gekehrt und waren über entsetzliches Kopfsteinpflaster marschiert. Im Lastwagendepot sollten sie sich einem Konvoy nach Metz anschließen. Metz lag am Rand der Wälder; es war die letzte Haltestelle vor der Front. Das Depot bot ein Bild der Auflösung. Betäubt wirkende Soldaten lehnten sich gegen die Wände, rauchten, unterhielten sich, oder starrten in die Luft. Ein Würfelspiel. Es wurde nicht viel geklappert. Die Unteroffiziere, die versuchten, die Männer einzuteilen, waren erschöpft. Überall sah man zerknitterte Uniformen, unrasierte Gesichter und Augen mit roten Rändern.

Sie wurden zu einem großen Korporal mit müden Augenlidern geführt. Er hielt in beiden Händen Papiere. Eine Zigarette mit langer grauer Asche hing von seinen Lippen. Er blickte sie durch den Rauch an und lehnte sich gereizt zur Seite, um zu hören, was ihm jemand ins Ohr sagte.

“Hab’ dich schon verstanden”, knurrte er. “Sie sind für 276. Führ sie da hin.” Er wies mit einem Stapel Papier in die Richtung.

“Ich sag dir was, Kelly”, murmelte Impi mit verzogener Lippe. “Das ist ein verdammter Sklavenmarkt.”

Man hörte einen Schuß. Einen Augenblick war es still, dann klapperten Stiefel in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Neben einem leeren Lastwagen lag ein junger Mann und blickte auf den Blutfleck, der sich über sein khakifarbenes Hosenbein ausbreitete. Er hatte sich selber ins Fußgelenk geschossen. Der Junge, ein hagerer, sommersprossiger Soldat ohne Abzeichen, blickte zu dem Unteroffizier auf, der vor ihm stand. Zitternd öffneten sich seine Lippen. “Ich gehe nicht zurück”, sagte er mit erstickter Stimme. “Egal, was ihr mit mir macht, ich gehe nicht zurück. Ich hab’ meinen Teil bekommen.” Seine Stimme wurde schwach. “Man hat mich beschossen, sie haben Granatsplitter aus mir herausgeholt. Ich werde nicht ...”

“Hör auf! Heb dir das für den Kriegsrichter auf. Holt einen Sanitäter”, bellte der Sergeant. Er wandte sich John zu. Der Junge war unter den Sommersprossen weiß geworden und hielt das Knie mit den Händen fest. “Die Show ist für heute vorbei. Bring deinen Arsch dahin zurück, wo er hingehört, Soldat.”

John und Impi gingen zurück, ohne sich anzusehen.

Der Junge wußte Bescheid. Das konnte die Schlacht mit einem machen. Wie würde er sich aufführen?

Jetzt, wo ihn der Wein wärmte, schien es ihm, daß er alles packen konnte, was sie erwartete.

“Wofür wird unser Leutnant dekoriert?” fragte er. “Was hat er gemacht?”

“Hat ganz allein ‘nen Haufen Krauts gefangen. Er war da auf Patrouille, und dieser Trupp Krautfresser schneidet ihn von seinen Männern ab und umzingelt ihn. Er ist so gut wie erledigt, und was macht er? Seht ihr, unser Leu kann Deutsch, und so steht er auf, frech wie Oskar, und ruft: ‚Hände hoch!’ Mann, hat er ihnen eins weggeblufft, hat sich aufgeführt, als stünde die ganze amerikanische Armee hinter ihm. Hat denen gesagt, wenn sie ihre Frauen und Kinder wiedersehen wollen, müssen sie sich ergeben, denn wenn sie kämpfen würden, würden sie alle sterben. Eine Stunde später kommt der Rest der Patrouille, und wir alle denken, den Leu hat ‘s erwischt, und da kommt er die Straße entlang, und vierzehn Krautfresser marschieren vor ihm her. Mann, hat der gepfiffen.”

Die Tür öffnete sich und ließ einen Windstoß und einen dünnen stupsnäsigen Mann ein. Er blickte die Neuen mit erschöpften Augen an.

Walker murmelte: “Das ist Metter, der Führer unseres Trupps. Wenn ihr ihn laßt, macht er euch verrückt.”

“Richtig, Walker”, sagte er. “Warne die Männer vor mir.” Er ließ sich zwischen John und Walker auf die Bank fallen.

“Reich mir was von dem Wein. Das ist ein Haufen Vogelsträuße”, sagte er und wandte sich John zu. “Ich vermute, du willst auch nicht wissen, was los ist.”

Er trank mit raschen und nervösen Zügen aus Walkers Feldflasche, und verschüttete Tropfen liefen ihm über das Kinn.

“Macht nichts”, sagte er, ohne auf eine Antwort zu warten. “Du wirst es bald genug erfahren. Dieser Wein ist schrecklich, aber wenn wir da hinkommen, wo die Generäle uns haben wollen, werden wir in gutem Weingebiet sein.” Ein wohleinstudiertes Stöhnen der Gruppe erhob sich und schwoll ab.

“Wo ist das?” fragte John, der nach Auskunft dürstete.

“Ich bezweifle, daß wir viel trinken werden”, fuhr Metter fort.

“Der Dummkopf ist reingefallen.” Walker ergriff wieder seine Feldflasche und begab sich dahin, wo Türk saß und auf einer Mundharmonika “Santa Lucia” spielte. John hob den Kopf. Es war seine und Kathys Kennmelodie.

“Also, was hattest du gefragt? Willst du es wirklich wissen?”

“Wäre es nicht besser?”

“Also gut. Weißt du, wo unsere vordersten Linien sind?” Wieder allgemeines Stöhnen.

“Hör zu, ich weiß noch nicht einmal, wo wir jetzt sind.”

“Se hab’n uns vom Boot geholt und gesagt: ‚Geht dahin, geht dahin.’ Se hab’n uns nicht mal in Paris Einkäufe machen lassen.” Metter sandte Impi den raschen Blick eines mißtrauischen Schullehrers. Er hatte eine Karte hervorgeholt; die Falten waren abgenutzt.

“Wartet. Hier ist Paris, und hier sind wir. Die Krauts leisten noch immer Widerstand. Wir sind hier, nur ein paar Meilen hinter der Front. Vier, um genau zu sein. Die Generäle wollen, daß wir bis zu diesem Fluß vorstoßen, um Saarbrücken einzunehmen. Das ist ihre große Industriestadt. Ihr Pittsburgh. Sie werden sie nicht freiwillig weggeben. Aber zunächst müssen wir Kreuzbach[3] und diese parallel dazu liegenden Städte erobern. Das allein wird ein militärisches Wunder sein. Dafür bräuchten wir Napoleon.”

“Was ist das?” fragte John und zeigte auf ein paar düster aussehende kleine Hügel, die auf der Karte mit rotem Bleistift eingezeichnet waren.

“Gefechtsbunker. Alle zweihundert Meter.”

“Bitte, bitte, Kassandra”, rief Blom, der mit Robert Siebzehnundvier spielte. “Das werden wir bald genug herausfinden. Kein Bedarf, vorzugreifen.”

“Alle zweihundert Meter”, wiederholte Metter. “Das ist die Siegfriedlinie. Ihre besten Ingenieure haben jahrelang daran gearbeitet.” Türks Mundharmonika stimmte eine neue Melodie an:

“Wir hängen unsre Wäsche an der Siegfriedlinie auf.” Blom unterstützte ihn mit falschen Noten und übertriebenem britischen Akzent.

“Die Gefechtsbunker sind aus schußfestem Beton”, sagte Metter und hob seine Stimme über die Musik. “Und dahinter haben sie alles an Artillerie aufgebaut, was du dir vorstellen kannst. Hörst du diese Kanonen? Sie beschießen Kreuzbach aus dreißig Kilometern Entfernung. Sie werden uns den ganzen Weg im Fadenkreuz haben.”

“Das kannst du nicht im Ernst meinen.” Impi starrte ihn mit rundäugigem Entsetzen an.

“Die Generäle meinen es immer ernst. Die haben so eine Karte an der Wand, nur größer und voller Stecknadeln ...” Wieder öffnete sich die Tür. John schauderte. Am Eingang stand ein kurzer, breitschultriger Mann. Sein schillernder Regenmantel ließ Tropfen auf die Türschwelle fallen. Er blickte sie an und biß sich auf den schwarzen Schnurrbart.

“Freut mich, euch Kerle zu sehen. Wir haben euch beide erwartet. Ich heiße Drummond.” Sein Händedruck war warm und trostspendend. “Mett, dein Trupp hat morgen abend Patrouille.” Er blickte John an. “Du wirst morgen abend auf deine erste Patrouille gehen. Ich werde dabeisein.” Die Tür schloß sich. Wo er gestanden hatte, hatten sich kleine Wasserpfützen gebildet.

“Ein guter Mann?” fragte John.

“Drummond?” Metter nickte. “Er ist ganz in Ordnung.” Sein Achselzucken sagte, daß keiner gut genug war. John erwischte sich dabei, wie er wieder auf die schwarze Kritzelei starrte. Verfluchter Hund. Von seiner Magengrube stieg Angst auf und versuchte, das Trostgefühl zu verdrängen. Nein, sagte er sich. Behalte einen kühlen Kopf. Was hatte er erfahren? Gewiß, daß die Chancen gegen sie standen, aber wenn man nicht die Nerven verlor und den Mumm des Tapferen Leutnants hatte, konnte man durchkommen. Die beiden Informationen löschten sich aus. Er war genauso klug wie zuvor. Vielleicht hatte Wacky recht. Es lohnte sich nicht, Metter zuzuhören.

Und als er an diesem Punkt angekommen war, beruhigte sein Magen sich; sein Geist wurde still. Abgesehen vom Geräusch des Regens, dem fernen Donnern und den Lastwagen auf der Hauptstraße war das Zimmer ruhig. Türk spielte eine seltsam zarte Musik, immer und immer wieder die gleiche Melodie. Walker saß da und hörte zu. Koch schrieb noch immer an seinem Brief, und zwischen den beiden Männern in der Ecke klatschten die Karten. Metter brütete über seinem Lageplan, und die anderen schliefen. Und zwischen den Geräuschen und in den Geräuschen selber trieb die stimmlose Stimme: ‚Hör auf mich!’ Er saß reglos da und versuchte aufzufangen, was kommen würde. Er gab es auf und lehnte den Kopf gegen die Wand zurück. Seine Augenlider senkten sich. Die Antworten konnten in die Schlitze zwischen seine Gedanken geworfen werden. Was er morgen wissen mußte, würde morgen zu ihm kommen.

Das war die Botschaft. Sie war so stark, daß er die Augen öffnete, um zu sehen, ob sie jemand gehört hatte. Alles war unverändert, außer daß Robert, der Junge aus dem Süden, dessen strohblondes Haar über sein rechtes Auge fiel, aufgewacht war und sich, auf den linken Ellenbogen gestützt, Nase und Kinn rieb, als wollte er sehen, ob sie noch lebendig waren. John wandte den Kopf um und sah Impi, der mißmutig auf das Fenster starrte, an dem der Regen in Strömen hinablief. Er schloß wieder die Augen.

II

Es regnete noch immer. Stunde um Stunde kam es herunter und schien die Welt davonzuwaschen. Die Männer froren bis auf die Knochen, und es fiel John schwer, mit Handschuhen zu zeichnen. Es hatte die ganze Patrouille hindurch geregnet. Die Wollkappen unter ihren Helmen waren durchnäßt worden, und das Wasser hatte die schwarze Schmiere in ihren Gesichtern verwischt. Der Vordermann und der Hintermann waren kaum sichtbar, und jeder befand sich in einem kleinen dunklen Bereich voll Furcht und Kälte. Sie wateten durch schlüpfrigen Matsch zum Niemandsland und schauten nach Handzeichen aus, die man erraten aber nie wirklich sehen konnte. Stimmen klangen wie Regen, der wie Stimmen klang. Dann kam etwas, das ein Befehl gewesen sein konnte, doch war es ein Fluch, der sich Koch entrungen hatte. Sie zogen ihn aus dem Granattrichter. Sie hatten einen leeren deutschen Schützengraben durchquert und waren schlitternd, krabbelnd und rennend in die warme Küche zurückgekehrt. Drummond hatte dem Hauptmann Bericht erstattet. Was konnte er ihm gesagt haben?

Jetzt, zwei Tage später, wo er Impis Kopf zeichnete, stellte sich John noch immer diese Frage. In Texas hatten die Feldübungen für ihn auch keinen Sinn ergeben, aber hier und jetzt war alles unmittelbar bedrohlicher. Sie waren in die dunkle, feinderfüllte Nacht hinausgegangen, ohne zu wissen, was sie taten. Drummond wußte, was zu tun war. Jeder hatte sich darauf verlassen.

“Aber Kelly, wir alle verlassen uns auf das, was jemand sagt. So ist das Leben überall. ‚Mä, mä, schwarzes Schaf ... Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Ende der Gasse lebt.’[4]. Aber nichts für den kleinen Jungen, der am Emde der Gasse “ Blom machte große Augen.

“Was sagt der da?” gähnte Impi. “Hey, Kelly, das dauert lange. Bin ich so ein interessanter und schwieriger Gegenstand?”

Er betrachtete Impi, der den Kopf gegen die Wand zurückgelehnt hatte, und seine Sorgen verschwanden. Die Masse dieses Kopfes, der sich nur halb von den Schatten abhob, war das Problem, das er lösen mußte.

“Hältst du das Stück Kohle richtig, Kell?” Impis Kopf bewegte sich.

“Holzkohle. Bitte nicht bewegen.”

“Nur ein Ire schleppt Kohle und Dichtung in seinem Rucksack mit sich herum.”

“Hör auf, dich zu bewegen.” Er hatte die Augen fertig und fing an, die kleinen Lachfältchen einzuzeichnen, die um sie herum lagen. Die Schattierung belebte Impis zart geschnittenes Gesicht auf dem Papier. Die Blässe der Wange, die gegen den Bart abstand, wiederholte sich in den Schatten und der Wand. Die regenüberströmte Außenmauer, die im rechten Winkel zum Fenster entlanglief, die windgepeitschten Bäume, die fetten Regentropfen, die auf dem Fensterbrett explodierten, und die endlos dahintreibenden Wolken, die ihre Schatten in den Raum warfen, zogen sich vor seinem Blick zusammen. Eine Stille hatte Zeit und Raum durchquert, um dieser in Unordnung geratenen Welt eine Ordnung zu bringen.

Liebe Kathy,

endlich, nach zwei Tagen vollständiger Verwirrung, in denen Du mir als das einzig Wahre und Bleibende erschienen warst, fühle ich mich wieder etwas gesammelter. Ich glaube, die Schwierigkeiten begannen, als mir der Führer unseres Trupps – ein netter Kerl, aber eine regelrechte Kassandra – von den deutschen Verteidigungsanlagen erzählte, gegen die wir antreten müssen. Die erste Patrouille, die wir machten, führte uns über unsere eigenen Linien und ins Niemandsland, und wir haben tatsächlich einen leeren deutschen Schützengraben durchquert. Keiner wußte, ob das tatsächlich unsere Aufgabe war. Aber alles hier scheint so sinnlos. Die ganze Patrouille war verrückt. Ich hatte Angst, aber an einem Punkt fühlte ich mich zum Lachen. Es war kalt und regnete, und wir konnten nichts sehen. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie sind wir nicht verlorengegangen. Ab und zu erhellte sich der Himmel mit Explosionen wie beim Feuerwerk am Unabhängigkeitstag. Ich fragte mich immer wieder, was ich hier tat. Was in aller Welt machte ich mit meinem geschwärzten Gesicht? Ich benahm mich wie ein Pfadfinderjunge oder so etwas, und der Regen tropfte mir in den Rücken, und der Schlamm zog an meinen Stiefeln und ließ mich alle paar Minuten auf den Knien landen. Und weißt du, was die einzige Antwort war, die mir kam? Ich versuche, mich nicht töten zu lassen. Das muß das Ziel jedes einzelnen Mannes in unserem Trupp sein, in unserem Zug, und in der ganzen Armee. Es ist das Ziel der ganzen Welt. Aber wie sind wir dann in diesen Krieg hineingekommen? Es macht einen nachdenklich. Alle müssen das gleiche denken, aber keiner redet davon. Weißt du, was uns der Typ am Vorposten sagte, als wir in das Niemandsland hinausgingen? “Paßt auf, Jungs, kommt diesen Weg zurück und gebt uns Betty Grable[5] laut und deutlich, wenn ihr am Leben bleiben wollt. Wir sind furchtbar nervös.”

Ich habe Impi gezeichnet. Ich hatte nie zuvor gesehen, was für ein hübsches Gesicht er hat. Es hat gewöhnlich einen amüsierten oder scherzhaft-panischen Ausdruck. Er redet die ganze Zeit wie ein Maschinengewehr und spielt den Clown. Doch hat er sich in diesem Moment gegen die Wand geflezt. Um seine Augen liegen Lachfältchen, doch lassen sie ihn jetzt erscheinen, als würde er weinen.

Der Brief entspann sich in seinem Kopf. “Hey, Kelly, ich bin noch keine Leiche. Ich kann nicht ewig so bleiben.” Plötzlich sprang Impi auf, war mit zwei großen Schritten an seiner Seite und starrte auf die Zeichnung. “Hey, du kannst zeichnen. Du bist großartig. Kein Wunder, daß die auf mich stehen. Ich glaub’, ich werde das am Eingang aufhängen und sie für mich Schlange stehen lassen. Was meinst du, Kell?” Er setzte sich die Wollkappe auf und schob an den Enden den Bart unter. Dann hüllte er sich in eine Decke. Er beugte eine imaginäre Partnerin zurück. “Giovanna sagt, ich wirke wie Rudolf Valentino. Ich bin der Scheich von Arabien[6].” Er tanzte Tango. “Entschuldige, du schöne Kreatur, aber ich muß durch die Wüste reiten. Lawrence von Arabien wartet auf mich. Das heißt, ich bin Lawrence von Arabien.” Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, er zog sich die Decke über die Nase und galloppierte, sie hinter sich her fliegen lassend, bis zur Tür.

“Wirst du gefälligst aufhören!” rief Koch.

John sah, daß er ein christusartiges Gesicht gezeichnet hatte.

“Mann, seit dieser verrückte Italiener da ist, ist das ein Irrenhaus!”

“Hör auf, Imp!” Ein Stiefel, ein leerer Proviantkarton und ein Buch regneten auf Impi herab, der anhielt und drohend einen Arm erhob.

“Hütet euch!” rief er. Dann zog er sich wieder die Decke über die Nase und tanzte in seine Ecke zurück. Von der Decke gedämpft hörte man, wie er einen Schlager pfiff.

Die Tür öffnete sich mit einem Knall, und Metter trat, eine Hand erhoben, in den Raum; zwischen seinem Daumen und Zeigefinger glänzte etwas.

“Kelly und Imperiello! Ich hab’ was für euch.”

“Ein Zwei-Wochen-Paß?” fragte John.

“Post von meinem Frauenfanclub.”

John trat vor, und Metter hielt ihm ein Paar in Silber gefaßte Gewehre auf blauem Untergrund hin.

“Was ist das?”

“Abzeichen für Frontsoldaten. Kriegt man nach fünf Tagen.”

Sie hatten die ersten fünf Tage geschafft. Die gekreuzten Gewehre ließen ihn vor Zufriedenheit strahlen. Kowalski trat heran, stützte sich auf seine Schulter und lächelte breit und zustimmend. Türk hörte zu spielen auf und grinste über das ganze Gesicht.

Alle schauten ihn an. Jetzt hatten Metters Finger die Nadel an seiner Jacke befestigt. Mit diesen Männern würde er leben oder sterben. Er war einer von ihnen.

“Du mußt sie auf der Innenseite tragen”, sagte Metter zu Impi.

“Ich bin geehrt, Sergeant. Aber wenn es dir nichts ausmacht, werde ich jetzt, wo ich das Abzeichen habe, die Patrouillen auslassen.”

“In deinem Fall ist es für fünf Tage Abwesenheit.”

“Hier habt ihr was zum Feiern.”

Walker hatte die Hände erhoben, und von jeder baumelte eine Flasche Wein.

Sie hatten Madame Schelle ihre Rationen gegeben, und aus dem großen Eisentopf, in dem sie mit einem Holzlöffel rührte, kam der Duft von Rinderhackfleisch, das in Wein, Kräutern und Zwiebeln schmorte.

Es war Abend. Die nur mäßig erhellte warme Küche wirkte durch den Dampf verschwommen. Impi, der am großen, schwarzen Kohleofen neben Madame Schelle stand, beugte sich vor, zog den Duft ein und ließ die Augen rollen.

“Mama mia, das ist gut!” rief er den Männern am Tisch zu, nahm eine tief gewölbte Kupferkelle von ihrem Haken und schob sie gewandt unter Madame Schelles vorspringendem Busen in den Topf hinein. Dann zog er sie zurück, halbvoll mit Saft und Stücken von Rindfleisch.

“Ah non, alors, Monsieur Impi, vous allez prendre tout le jus.” [7]

Impi, der sich eilig in Sicherheit begeben hatte, schnupperte an der Kelle und warf ihr eine Kußhand zu.

“Oui, oui”, sagte sie ätzend. Impi verzog das Gesicht zu einer schuldbewußten Miene und hielt ihr die Kelle hin, als wollte er sie zurückgeben. Sie wandte sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das sich auf ihrem schönen vollwangigen Gesicht gebildet hatte, und er warf ihr einen Schwarm leidenschaftlicher Küsse zu.

“Großartig, Imp”, rief Wacky und klatschte. Jemand pfiff. Impi schwatzte Madame Schelle noch mehr Wein ab. Blom prüfte das Etikett. Robert zog eine Flasche aus seinem Rucksack, die dort auf eine Gelegenheit gewartet hatte, und Türk brachte eine versiegelte hervor. Es war Kognak. Sie setzten sich um den Tisch, kauten Cheddarkäse und rauchten. Koch summte leise. Es war ein ständiges Brummen, unerkenntlich und fast ohne Melodie.

Zwiebeln und Knoblauch hingen in langen Ketten von den Holzbalken. Kupferpfannen und -töpfe hafteten an der Wand, Kessel glitzerten in den Ecken, und ihr Polierglanz flößte den erschöpften Gesichtern der Männer Leben ein. Der Abend hüllte ihn ein, und er spürte die kleinen silbernen Gewehre auf seinem Herzen. Er hatte die Patrouille durchgestanden. Er war unter guten Menschen. Er würde ebenfalls ein tapferer Soldat sein. Er würde einen guten Krieg kämpfen. Die Küchentür schwang auf, und Wacky trat einem noch größeren Mann entgegen, der auf der Türschwelle stand. John wußte sofort, daß es der Tapfere Leutnant war. Kampfzerzaust und triumphierend stand er da, die eine Hand auf der Hüfte und die andere auf der Türleiste. Er grinste, während die Männer eine Schlange bildeten, um ihm zu gratulieren und seine Ordensbänder zu inspizieren. Das war ein Held.

“Hey, Leu! Außerordentliche Dienstleistung! Großartig!” In Wackys Stimme lag eine Ehrerbietung, die den Dekorierten als etwas Besonderes erscheinen ließ. Plötzlich verdunkelten sich die Augen des Leutnants. Dann war es weg. Er schüttelte die Hände der Männer eine nach der anderen.

“Ich kann Drummond und Metter nicht finden. Kowalski, würdest du sie bitte rufen?” Sein Blick fiel auf John.

“Du bist neu.”

“Jawohl, Sir. Ich heiße John Kelly.” Er salutierte zackig. “Gratuliere, Herr Leutnant.” Sie schüttelten sich die Hände, und John fühlte, wie eine Dunkelheit aufwallte, endlos und gewaltig, und ohne jede Hoffnung auf Rettung. Sie kam aus der Hand des Leutnants.

Impi trat heran, um den ausgestreckten Arm zu schütteln.

“Ich heiße Imperiello.”

Als sie den Bauernhof verließen, um auf dem Hügel Kampfstellungen zu beziehen, regnete es. Es regnete auf der Straße, und der Donner war nicht mehr fern. Schwärme von glänzenden Regenmänteln erkämpften sich ihren Weg über das Land.

Liebste Kathy,

jetzt endlich ... werde ich herausfinden, worum es geht. Ich hoffe, daß ich es schaffe.

Sie drangen in den Wald ein, der dicht mit schwarzen, tropfenden Nadelbäumen bestanden war. Mit den Füßen konnten sie die Explosionen spüren. Der Klang des Krieges ... Es war der Klang des Krieges, und dennoch bewahrten die Wälder ihr regendurchtränktes Schweigen. Für John hatte das alles etwas seltsam Aufregendes; es verwandelte die Furcht in ihr Gegenteil, in ein gefaßtes Annehmen seines Schicksals.

Nach einer Weile erreichten sie zerbombtes Gebiet. Sie gingen um Krater herum und suchten sich ihren Weg durch tote und sterbende Bäume hindurch, die durch die üppig grünenden um sie herum noch trostloser wirkten.

“Wie oft muß ich euch noch sagen, daß ihr keine Haufen bilden sollt?” Die Unteroffiziere rannten vor und zurück, schoben und stießen. Das Gelände stieg an. Ein dünnes Kreischen erklang und ließ seinen Geist stillstehen. Das ist es. Aber es war es nicht.

Der Schlamm ließ sie schlittern und mit ihren schweren Rucksäcken zwischen den knorrigen Wurzeln hinfallen. Stets ging es hinauf, rutschend und an den Zweigen ziehend. Drummond war neben ihm.

“Achte nur auf den Mann vor dir. Es wird jetzt steil. Bleibt ausgebreitet. Sie beschießen den Kamm. Etwas von ihrem Zeug wird hier landen.” Und dann war er wieder voran und halb im Nebel verschwunden.

Ein seltsames Flattern und Flüstern ... und immer wieder eine Stimme, die in das flatternde und knisternde Geflüster hineinschrie: ... Runter, runter! Er lag ausgespreizt im Schlamm, die Wange an den nassen und glatten Regenmantel gedrückt. Der Matsch sprang unter ihm weg und nahm ihn erneut in seine plötzliche Härte auf, während sein Kopf und Herz explodierten. Die Luft war fortgepumpt worden. Er konnte nicht atmen. Sein Kopf sprang panisch nach oben, und er kämpfte um Sauerstoff. Zwei Meter vor ihm verwandelte sich ein Gesichtsfleck um einen keuchenden Mund in Kowalski. Sie schauten einander an. Schwer atmend schüttelte Kowalski den Kopf.

Sie erreichten ihre Stellung in der frühen Abenddämmerung und gruben sich in die matschige Erde ein, gruben und gruben.

“Hey, schau dir das mal an.” Auf dem Bauch liegend, wies Kowalski über den Grat des Hügels, der ein bis zwei Meter vor ihrem Loch entlanglief. Neben ihm ausgestreckt, blickte John in einen goldenen Nebel hinein, den orangefarbene Wirbel und Ausbrüche punktierten. Es hatte zu regnen aufgehört.