Little Pearl

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Aus der Reihe: Little Pearl #2
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Kapitel 5

Evan

»Wo ist Cee?«

»Keine Ahnung«, antworte ich Kyle, der mich, kaum ist er in meinen Chevy gestiegen, nach unserer Schwester fragt. »Sie meinte, wir würden uns da treffen.«

Es ist kaum nach sechs, und ich fühle mich hundemüde. Außerdem haben wir eine fast dreistündige Fahrt vor uns. Ich seufze. Was man nicht alles für seine Familie macht. Wenigstens hatte ich ein großes, eiweißhaltiges Frühstück – dank Cécile, die gestern meinen Kühlschrank aufgefüllt hat.

»Gib endlich Gummi. Wir müssten schon längst unterwegs sein«, nörgelt Kyle, als ich auf die Straße biege. »Warum bist du eigentlich so spät?«

»Und warum musst du so früh am Morgen schon herumstressen? Wir haben genug Zeit«, antworte ich genervt, lasse dann aber den Motor aufheulen und presche über die noch fast menschenleere Straße.

»Du siehst ausgelutscht aus. Wohl zu wenig Schlaf bekommen. Oder bist du nochmal gegen eine Hantel getorkelt?« Bestimmt grinst er wie ein riesiger Idiot. Da ich gerade einen alten Opa in seinem Renault überhole, kann ich ihm keinen Du-kannst-mich-mal-am-Arsch Blick zuwerfen.

»Würde dich freuen, was?«, sage ich etwas wütender als beabsichtigt.

»Was ist denn mit dir los? Etwa keine abgekriegt?«

»Nichts dergleichen. Ich hatte keinen Bock auf irgendwelche Tussis. Nach der Arbeit bin ich in meine Wohnung, habe mich aufs Sofa fallen lassen und durch Netflix gezappt.«

Ich kann Kyles ungläubigen Blick regelrecht spüren. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Evan bleibt am Samstagabend freiwillig Zuhause? Alleine? Du willst mich definitiv verarschen.«

»Ich war müde, es war ein anstrengender Tag.«

Die Wahrheit ist, ich hatte nur eine im Kopf. Und die geistert noch immer in meinen Gedanken herum.

Kaum zu glauben, dass mich eine kurze Begegnung mit einer Unbekannten so aus der Bahn werfen kann.

»Und wo hast du dich herumgetrieben?«, lenke ich das Thema von mir ab. »Hattest du endlich ein Date mit Leyla?«

»Und wenn es so wäre?«

Mein Kopf ruckt in seine Richtung. »Im Ernst jetzt?«, frage ich mit einem riesigen Schmunzeln um den Mund.

»Nee.«

»Warum nicht?« Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, den ich vorhin im Starbucks geholt hatte.

»Ich steh nicht auf Jüngere.«

Der Kaffee spritzt mir aus dem Mund gegen die Windschutzscheibe und ich baue fast einen Unfall, weil ich mich vor Lachen kaum mehr halten kann. Dabei boxt mir Evan noch eins in den Oberarm.

»Reiß dich gefälligst zusammen, oder willst du, dass wir im Straßengraben landen.«

»Dann schlag mich nicht.«

»Das war bloß eine feine Berührung.«

»Gib mir ein Tuch, damit ich die Sauerei wegwischen kann.«

»Woher soll ich ein Tuch haben?«

Ich stoße laut die Luft aus. »Dann gib mir eben ein Taschentuch oder sowas.«

Kyle wird im Handschuhfach fündig.

»Leyla ist mindestens ein Jahr älter als du, du Blödmann«, greife ich das Thema von vorhin wieder auf und putze meinen mit Kaffee verdünnten Sabber weg.

»Wirklich?«, nimmt mich Kyle auf den Arm. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Er kennt sie also einiges besser als ich.

»Hör auf, mich zu verscheißern.«

Er zuckt bloß mit den Schultern, ehe er meint: »Sie hasst mich.«

»Und trotzdem hat sie dich letztens aus einem schrecklich nervenaufreibenden Date gerettet.« Zwischen den beiden läuft irgendwas, ich weiß es.

»Ja, aber ...«

»Oh, jetzt kommt das große ABER.«

»Halt die Klappe.«

»Welche?«

»Wenn du nicht gerade am Steuer sitzen würdest, würde ich dir sofort ein zweites blaues Auge verpassen. Ach übrigens, hast du wirklich geglaubt, ich würde dir das mit der Hantel abkaufen?«

Meine Antwort besteht aus einem gleichgültigen Schulterzucken. »Für ein paar Stunden schon, ja.« Eigentlich war mir von Anfang an klar, dass er irgendwann dahinterkommen würde, was mein geschwollenes Auge anbelangt, mit dem ich endlich wieder normal sehen kann. Und mich Kyle dann zur Rede stellen würde.

»Also -« Mein Bruder sieht mich abwartend von der Seite an.

»Ich habe mich mit Sawyer geprügelt.«

»Sawyer? Dylan Sawyer, der Freund unserer Schwester?«

»Ex-Freund. Genau der.«

»Warum? Was ist ... Was hat er getan?« Für einen Moment herrscht Stille, bis Kyle tief ein- und ausatmet. »Geht es Cee gut?«

»Ich denke den Umständen entsprechend.« Kyle braucht nicht nochmal nachzufragen, was Sawyer verbrochen hat, ich erzähle ihm alles, was ich von Emily und Cee erfahren habe, und dass ich dann Dylan einen Besuch abgestattet hatte.

Gut, sind wir weit weg von Little Pearl. So ist Kyles Wut auf Dylan verraucht, bis wir wieder Zuhause sind – hoffentlich. Ich glaube nicht, dass uns Cee verzeihen würde, wenn auch noch Kyle auf Dylan losgehen würde.

Irgendwann tauchen die Schilder von Phillys auf. Schließlich, nach mehreren Minuten Suche, finden wir das Gelände, wo das Rollstuhlrennen ausgetragen wird. Und nach weiteren Minuten sehen wir den Rest der Familie. Außer Cécile.

»Bist du dir sicher, dass es ihr gut geht?« Kyle hat die Hände zu Fäusten geballt, als wir langsam über die Anlage gehen. Er ist sichtlich wütend, aber auch besorgt.

»Sie klang ganz okay, während ich mit ihr telefoniert habe.«

»Hoffentlich liegst du richtig damit.«

»Beruhige dich, Bruder, lass uns den Tag genießen und Dad anfeuern.« Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und stoße ihn vorwärts.

Hannah sieht uns als Erste. »Da seid ihr ja endlich!«, ruft sie gut gelaunt. Ich fahre ihr über die blonden Haare, die sie an den Seiten nach hinten geflochten hat. Schnell bückt sie sich unter meinem Arm weg. »Mach meine Frisur nicht kaputt. Weißt du, wie lange ich dafür gebraucht habe?« Sie fährt sich behutsam über den Kopf.

»Hübsch«, antworte ich schmunzelnd und drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel, bevor sie mir ganz entwischt. Sie reicht mir gerade mal bis zur Schulter. Sie hat ja noch etwas Zeit zu wachsen. Jedenfalls finde ich es richtig bequem, wie ich meinen Arm auf ihrer Schulter ablegen kann.

»Ich bin nicht deine Stütze.« Ihre Sommersprossen leuchten auf der Nase, wenn sie sich aufregt, während ihre braunen Augen zu Schlitzen gezogen sind.

»Ärgerst du mal wieder deine kleine Schwester?« Mom schnalzt mit der Zunge, doch sie lächelt mich liebevoll an. Sie ist es gewohnt, dass wir Geschwister uns kabbeln, wann immer es geht. »Habt ihr gut hergefunden?«

»Kyle hat ein bisschen genervt, sonst verlief alles ruhig.«

Kyle verpasst mir von hinten einen Stoß, sodass ich fast nach vorne kippe. »Du hast genervt, und bist hergerast wie ein Irrer.«

Ich drehe mich zu meinem Bruder um. »Du hast gesagt, ich solle Gas geben«, verteidige ich mich.

Wir benehmen uns wie zehnjährige, allerdings entlockt es Mom ein herzhaftes Schmunzeln. »Schön, dass ihr hier seid.« Sie drückt uns je einen Kuss auf die Wange, wobei mir ihre dunkelblonden Haare im Gesicht kitzeln. »Jetzt fehlt nur noch Cécile.« Mom blickt über meine Schulter. »Ist sie nicht mit euch hergefahren?« Ihre braunen Augen blicken fragend in meine.

»Sie meinte, wir würden sie hier treffen.«

»Kommt sie etwa mit Dylan?« Ihr Blick verharrt etwas zu lange auf meinem blauen Auge. Sie sieht mich an, als würde sich ein fehlendes Puzzleteilchen an seinen Platz fügen.

Ich schlucke angestrengt. Wieso müssen eigentlich alle mich nach Dylan und Cee fragen, verflixt. Ich will nicht der sein, der Mom erzählt, dass Dylan sich gegenüber Cee wie ein riesiges Arschloch verhalten hat. Ich will sie aber auch nicht anlügen. Was ich zwar gestern getan habe, als ich vor der Arbeit kurz bei ihnen vorbeigesehen habe. Ich konnte Mom und Dad nicht sagen, dass ich mich mit Dylan geprügelt habe.

Kyle neben mir zuckt mit den Achseln und ich atme erleichtert aus, weil sich somit eine Antwort meinerseits erübrigt hat. »Wo ist Dad? Und Coben und Chase? Die waren doch eben noch da, als wir ankamen?«

Mom schaut sich in der Menge um, wendet sich dann wieder an uns. »Dad musste sich für die Teilnahme anmelden. Chase begleitet ihn und Coben holt uns etwas zu trinken. Wie läuft es bei der Arbeit?«, fragt sie Kyle. Erst horcht sie ihn nach dem Job aus, danach wird sie wissen wollen, was in der Freizeit abgeht. Und wenn sie mit Kyle fertig ist, wird sie sich mich vorknöpfen.

»Wir haben soeben den Dachstuhl bei der Villa an der Azalea Lane aufgerichtet. Das wird ein Riesending, sag ich euch.« Die Azalea Lane ist das Reichenviertel von Little Pearl.

»Pass einfach auf, wenn du da oben stehst und die Balken festschraubst, ja?« Mom hat sich bei keiner Jobwahl ihrer Kinder eingemischt. Doch wenn sie mit Kyle über seine Arbeit redet, verzieht sich ihr Gesicht immer zu einer angstvollen Maske.

»Klar.« Was will er auch anderes antworten.

»Hey ihr.« Coben steht mit einem Mal vor uns. Er hält in der Linken einen Papphalter mit Kaffeebechern.

»Der kommt gerade richtig.« Kyle greift nach einem Kaffee.

»Wie wäre es mit einem ›Danke, großer Bruder‹?« Coben reicht Mom, Hannah und mir ebenfalls einen Pappbecher. »Wow, was hast denn du da für ein Auge einkassiert?«

»Bin gegen eine Hantel gelaufen«, sage ich schon fast automatisch. Außer Cee und Kyle weiß niemand, wie ich mir die Beule geholt habe. Dabei soll es auch bleiben. »Ja, ja, mach dich nur lustig über mich«, sage ich, als er sich vor Lachen fast in die Hose macht.

»Hast du vielleicht noch etwas zu Futtern dabei?« Kyle erntet dafür einen Hieb in den Magen. Keine Ahnung, wie das Coben bewerkstelligte, ohne Kaffee aus den restlichen zwei Pappbechern, die er noch in den Händen hält, zu verschütten.

 

»Sag danke, sonst packe ich dich bei den Haaren und klemme deinen Kopf unter meinen Arm.«

»Iih«, Kyle macht ein angewidertes Gesicht. »Deinen Achselschweiß brauch ich ganz bestimmt nicht in meiner Nase.«

»Damit meinst du wohl Zinke.«

»Haha. Übrigens, erst müsstest du meine Haare erwischen können. Dein Wuschelkopf hingegen wäre ein leichtes Ziel.«

Coben fährt sich durch sein schwarzes Haar und reckt sein markantes Kinn vor. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zum letzten Mal ohne Dreitagebart gesehen habe. »Du bist nur neidisch auf meine feinen Locken.«

»Ja, sicher. Und auf deine braungrünen Augen natürlich auch.«

»Sowieso. Wäre ich auch, wenn ich nur so braune hätte wie du.«

»Milchschokoladenbraun«, korrigiert Kyle ihn. »Evan würde jedenfalls gerne tauschen.«

Ich schüttle den Kopf, verdrehe dabei die Augen. »Lasst mich bloß raus aus eurem Mädchengezanke.«

»Mädchen zanken nicht so«, mischt sich jetzt auch noch Hannah ein.

»Wie denn?«, fragen meine Brüder und ich gleichzeitig.

»Anders halt.«

Mom stößt einen lauten Seufzer aus. »Könnt ihr die Kabbelei für einmal lassen?«

»Ist doch bloß Spaß, Mom«, meint Coben beruhigend.

»Ja, ja«, meint sie und sieht abermals über die Menge. Wahrscheinlich, um zu sehen, ob sie irgendwo Dad und Chase entdeckt.

Weit hinten sehe ich die beiden einen Weg zu uns bahnen. Als sie es geschafft haben, ist mein Kaffee, der nach Abspülwasser schmeckt, fast leer.

»Schon lange nicht mehr gesehen«, begrüßt mich Chase. Wir umarmen uns und klopfen uns gegenseitig auf den Rücken.

»Ihr lässt euch ja kaum mehr blicken.«

»Ich hatte gerade eine Menge Prüfungen. Außerdem könntest du mal wieder nach New York kommen und uns besuchen.«

»Vielleicht.« Ich strecke meine Hand aus, um seine aufgestellten hellbraunen Haare mit blonden Strähnen durcheinander zu bringen. Das ist irgendwie ein Tick von mir, die Frisur anderer zu verstrubbeln. Doch Chase reagiert zu schnell. Er macht einen Schritt zur Seite und meine Hand fasst ins Leere. Chase mag zwar der schmächtigste von uns Johnsons Brüdern sein, dafür der größte und eindeutig der flinkste.

»Fass die nicht an.« Er legt seine Hände schützend um seine Haare.

Ich lache. »Du kannst sie wieder wegnehmen, ich mach schon nichts.«

Chase blickt mich mit seinen blauen Augen misstrauisch an. Er hat die gleichen Augen wie Cee und Dad. Wir anderen haben etwas von braungrün bis schwarz. Meine sind weitaus die dunkelsten.

»Wie läuft es mit dem Studium?«

»Es ist schwieriger, als ich mir gedacht habe. Es ist nicht einfach, zu verstehen, wie der Körper funktioniert oder zu merken welche Symptome auf welche Krankheiten deuten. Welche Medikamente man wann geben darf. Manchmal habe ich einen Kopf mindestens so groß wie eine riesige Wassermelone.«

»Du packst das.«

»Hoffentlich, geht ja nur noch elf Monate.«

»Vielleicht wird es leichter, wenn du die Monate nicht zählst.«

»Sagt gerade der, der die Stunden gezählt hat, bis das Fitnessstudio endlich eröffnet wurde.«

»Das ist was ganz anderes.«

Chase grinst bloß. Was so viel bedeutet wie: Logisch.

Als Dad mit dem Rollstuhl vor mir steht, gehe ich in die Hocke. »Hey Dad, schon aufgeregt?« Ich umarme ihn kurz und klopfe ihm auf die Schulter.

»Geht so.« Trotz gleichgültigem Schulterzucken kann ich ihm seine Nervosität von der Miene ablesen. Tiefe Spuren, die das Leben gezeichnet haben, zieren sein Gesicht. Seine schwarzen Haare werden von Tag zu Tag grauer.

»Du wirst das Ding schon schaukeln.«

»Oh, schaukeln lieber nicht«, meint er schmunzelnd.

»Dann halt flitzen.«

»Das klingt schon besser.«

»Wann geht’s los?« Ich stehe wieder auf, weil mir die Gelenke anfangen zu schmerzen.

Dad schaut auf seine Uhr, die er um sein Handgelenk trägt. Eine Multifunktionsuhr, ein Weihnachtsgeschenk von uns Kindern letztes Jahr. »In fünfundfünfzig Minuten bin ich dran.«

Als Dads Start immer näher rückt, rollt er zur Startposition und wir anderen stellen uns irgendwo an die Seite, wo wir ihn anfeuern können. Dabei suche ich ständig die Menge nach Cécile ab. Ich frage mich wo sie bleibt, und ob mit ihr alles in Ordnung ist. Es macht mich fast wahnsinnig, dass sie nicht auf meine WhatsApp-Nachrichten reagiert, oder dass mein Anruf vor wenigen Minuten auf ihrer Mailbox landete. In meiner letzten Nachricht habe ich ihr geschworen, ihr den Kopf umzudrehen, wenn ich sie sehe.

Als ich schon glaube, die Nerven zu verlieren, tippt mir jemand auf die Schulter. Cee steht hinter mir und lächelt mich an. Sie wirkt glücklich, richtig glücklich, wie seit Tagen nicht mehr. Ihr Strahlen in den Augen hält mich davon ab, meinen Schwur in die Tat umzusetzen. Trotzdem soll sie erfahren, wie angepisst ich bin.

»Warum hast du dich nicht gemeldet oder meinen Anruf entgegengenommen? Verdammt nochmal«, zische ich.

»Tut mir leid, ich war am Fahren. Eigentlich wollten wir viel eher hier sein, sind aber in einen Stau geraten.«

»Wir?« Erst jetzt bemerke ich Emily, die soeben den anderen Hallo gesagt hat.

»Hey Evan.« Em scheint nicht überrascht zu sein, als sie mein blaues Auge entdeckt. Aber ihr Gesichtsausdruck erinnert mich an eine schreckliche Zeit zurück. An eine Zeit, in der Em selbst mit einem geschwollenen Auge herumlief. Sie ist nicht hingefallen oder hat sich an irgendwas gestoßen. Und sie hatte sich auch bestimmt nicht geprügelt. Lange Zeit konnte ich nur Vermutungen anstellen. Erst nach langer Zeit erzählte sie mir, wie ihr Ex auf sie losgegangen war.

»Tut’s noch sehr weh?«, fragt sie mich, nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt hatten.

»Eigentlich nicht. Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus, als es sich anfühlt.«

Emily streicht sich ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen Haars, das praktisch die gleiche Länge wie Cees hat, hinter die Ohren. »Als ich dir das wegen Dylan erzählt habe ... ich wollte nicht, dass du zu ihm fährst und ihn verhaust.«

Fassungslos starre ich sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Warum nicht? Er hat es verdient.«

»Mittlerweile bin ich anderer Ansicht.« Sie lächelt schwach, legt dabei den Kopf schräg und schielt zu Cécile, die sich gerade mit Mom unterhält. Dann sieht sie wieder mich an. Ihre grünen Augen haben einen flehenden Ausdruck angenommen. Warum werde ich gleich erfahren. »Sie haben sich wieder versöhnt –«

»Was?!« Ich wirble herum, damit ich meine Schwester zur Rede stellen kann.

Gerade als ich anfangen will, sie zusammenzustauchen, wird der Startschuss abgegeben. Die Rollstuhlfahrer sind gestartet und preschen über die Tartanbahn. Um mich herum beginnen die Zuschauer die Wettkämpfer anzufeuern.

Na warte Schwesterherz, nachher wirst du was zu hören bekommen.

Hat schon sein Vorteil so groß zu sein. Ich kann über die Köpfe der anderen sehen und entdecke Dad. In diesem Moment rauscht er an uns vorbei. Auf dem Rücken prangt seine Glückszahl in schwarzen Zahlen auf weißem Hintergrund.

»Hopp Vierundzwanzig!«

»Mach schon Dad!«

»Los, los, los John!«

»Zeig es ihnen, Schatz! Ich liebe dich!«

In ohrenbetäubender Lautstärke feuern wir ihn an, als ginge es hier um unser Leben. Oder eher um sein Leben? Diese Wettkämpfe retten ihn vor Depressionen. Sein größtes Ziel ist ein Platz auf dem Siegerpodest, und ich drücke ihm die Daumen, dass ihm sein Wunsch bald in Erfüllung geht. Vor einem Monat war er ja schon mal vierter – bis jetzt seine beste Leistung.

Chase streckt sein Handy in die Höhe und filmt. Cee steckt sich ein paar Finger zwischen die Lippen und gibt einen lauten Pfiff von sich, während ich mir die Hände vor den Mund halte und einen Trichter bilde. »Schneller Vierundzwanzig! Du schaffst das!« Ich würde gerne rufen: »Mach sie fertig!«. Allerdings befürchte ich, würde das bei den anderen Zuschauern nicht gut ankommen. Daher schreie ich einfach immer wieder dasselbe. Bis die letzte Kurve kommt, bin ich heiser. Egal, meine Hopp-Rufe werden schneller, wie auch das Tempo der sechs Teilnehmer. Wenn Dad jetzt unter den ersten drei durchs Ziel kommt, ist er eine Runde weiter. Ich halte die Luft an und drücke die Daumen. Der erste ist soeben über die Linie. Dad kämpft Kopf an Kopf mit zwei anderen um den zweiten, dritten und vierten Platz.

»Bitte Dad, bitte«, flüstere ich, bete beinahe.

Em boxt mir ihren Ellbogen in die Seite, als ich nicht reagiere. Verwundert sehe ich auf sie hinab. Sie strahlt mich an, und erst da merke ich, dass Dad auf dem zweiten Platz gelandet ist.

Die Zuschauer verteilen sich in alle Richtungen. Nach einigen Minuten kommt Dad mit feuchter Stirn zu uns. Mom reicht ihm sofort ein Handtuch, mit dem er sich den Schweiß abwischen kann, ehe sie ihn ganze fünf Minuten lang abknutscht.

»Lass ihn wieder mal Luft holen, Mom«, meint Coben mit verzogenem Gesicht.

Mom lächelt nur, drückt Dad nochmal einen langen Kuss auf den Mund und hält ihm dann eine Flasche Wasser hin. »Ich bin wahnsinnig stolz auf dich«, meint sie, fährt ihm mit der Hand über die Wange, bevor sie uns Platz macht.

Ich klopfe ihm stolz auf die Schulter. »Unglaublich, Dad. Das war vielleicht ein Rennen.«

Er strahlt, als er nickt. »Die letzten paar Metern waren ein hartes Stück. Ich dachte schon, ich würde mir trotz Handschuhe die Hände verbrennen, so heiß wurde es unter meinen Finger.«

»Angeber«, meint Kyle lachend.

Wir fallen alle in sein Lachen ein. Ich lasse meinen Blick über meine Familie schweifen. Mich überkommt ein warmes Gefühl, während ich in die erfreuten Gesichter blicke. Und zum allerersten Mal in meinem Leben frage ich mich, ob ich auch irgendwann eine eigene haben werde.

Sofort schüttle ich den Gedanken wieder ab. Ich liebe meine Familie, aber selbst eine? Nein. Dafür bin ich nicht stark genug - in vielerlei Hinsicht.

Da Dad erst wieder in neunzig Minuten antreten muss, suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinsetzen und etwas essen können. Es werden Witze gerissen, Sachen hin- und hergeworfen und Mahnungen von Mom ausgesprochen, die jedoch niemand ernst nimmt. Ich mag solche Sonntage, wo alle zusammensitzen und glücklich sind. Ich mag es, wie Cécile strahlt, trotzdem werde ich noch ein Hühnchen mit ihr rupfen müssen.

Dad macht sich fertig für seinen nächsten Wettkampf, wir anderen positionieren uns wieder an der Seite, um ihn mit unseren ohrenbetäubenden Schreien und Rufen anzuheizen.

An der Startlinie haben sich wieder sechs in Stellung gebracht, warten darauf, dass endlich der Startschuss fällt. Gegen den einen musste Dad schon in seinem ersten Lauf antreten. Der war richtig schnell. Ich denke, Dad hat keine Chance gegen den. Das macht nichts. Hauptsache er ist wieder unter den ersten drei, damit er eine Chance aufs Final hat.

»Hopp, mach schon!«, brüllt Kyle neben mir, dabei erleide ich beinahe einen Hörsturz.

Hannah hopst wie ein Hase auf der Stelle und ruft immer wieder Dads Startnummer, als er auf die erste Kurve zurast.

Em und Coben pfeifen, was das Zeug hält.

Mom dreht nervös an ihrem Ehering, beißt sich ständig in die Lippen und beobachtet Dad mit Argusaugen. »Bitte halte dich etwas zurück. Bitte nimm Abstand«, flüstert sie fast ehrfürchtig. »Bitte -«

Ich verstehe nicht, was sich vor meinen Augen abspielt. Ich verstehe nicht, warum zwei Rennfahrer mit ihren Rollstühlen durch die Luft fliegen. Ich verstehe nicht, wie Dad plötzlich unter seinem Rollstuhl liegt, statt auf ihm zu sitzen, um mit ihm über die Ziellinie zu rasen. Vielleicht will ich es auch einfach nicht wahrhaben. Ich will nicht glauben, dass Dad bewegungslos am Boden liegt.

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