Nur auf LitRes lesen

Das Buch kann nicht als Datei heruntergeladen werden, kann aber in unserer App oder online auf der Website gelesen werden.

Buch lesen: «Der Ochsenkrieg», Seite 6

Schriftart:

»Noch allweil, ja!«

»Wie lang, sagst, hast du laufen müssen bis zu deiner Mutter?«

»Sieben Täg.«

»Ein weiter Weg. Und der ander steht am Zäunl. Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir.«

»Das hast du mir schon gesagt, Mutter! Oft schon. Magst nit ein lützel mit mir reden?«

»Steht am Zäunl und geht nit herein zu mir.«

Malimmes sah den Richtmann kommen, streckte sich, stand auf und ging ihm lautlos durch das Gras entgegen. »Bist du nit der Runotter?«

»Freut mich, daß du mich noch kennen magst.« Erschrocken sah Runotter die brennende Narbe an.

»Kommst du zu mir?«

»Wohl! Hab gehört, du wärst wieder da.«

»Gelt! So wirft das Leben die Leut umeinand, man weiß nit, warum.« Das klang ein bißchen katzenjämmerlich. Und doch war an Malimmes keine Spur von Trunkenheit. Er sah über die Schulter zu der alten Frau hinüber. Dann zwang er sich zu heiterem Ton. »Ja, weißt, in Nüremberg hat’s mir nimmer gefallen, seit man um der Franzosen willen die Badstuben geschlossen hat. Ich hab allweil ein lützel auf Sauberkeit gehalten. Wie kleiner ein Gärtl ist, um so feiner muß man’s hegen.«

Der Richtmann schien nicht zu verstehen. »Franzosen? Im Reich? Ist Krieg?«

Jetzt konnte Malimmes lachen. »Ein harter, ja! Aber Gott sei Dank, von der Ramsau müssen die blauen Marodier noch weit sein! — Jetzt red, Richtmann! Ich sehe doch, du willst was.«

»Bleibst lang daheim?«

Wieder sah Malimmes über die Schulter. »Glaub nit. Was tu ich denn da? Man ist der Niemand. Der Schlechter ist allweil der Besser! — Und was tu ich draußt in der Welt? Nit wissen, wo man daheim ist. Pfui Teufel!«

»Hast keinen Herren?« fragte der Richtmann rasch.

Malimmes schüttelte den Kopf.

Dem Runotter schoß die Freude heiß ins Gesicht. »Ich tät dir was wissen. Aber du wirst nit mögen.«

»Schieß los!« Der Soldknecht lachte. »Laß den Bolzen fahren! Gut oder schlecht geschossen, ein Plätzl trifft er allweil.«

»Mein Bub müßt im Winter zur Holdenwehr. Dienen kann er nit, weil er bresthaft ist.«

Der Söldner nickte.

»Das weißt? — Weißt auch warum?«

Wieder nickte Malimmes. »Selbigsmal bin ich doch fort. Hab flüchten müssen, weil ich über den Hartneid Aschacher geschumpfen hab.«

Jäh streckte Runotter die Hand.

Malimmes nahm sie nicht. »Laß gut sein! Deinetwegen hab ich nit geschumpfen. Ich hab geschumpfen, weil mir gegraust hat. — Also? Was willst?«

Zögernd sagte der Richtmann: »Für meinen bresthaften Buben, daß er das Erbrecht nit verliert, such ich einen Stellmann zur Holdenwehr.«

Jetzt verstand Malimmes und brach in heiteres Gelächter aus, wie über einen guten Spaß. »Jöija, Bauer! Bist voll und toll? Wer heut mit mir gesoffen hat, das weiß ich nimmer. Aber du bist doch nit dabei gewesen?«

»Spotten brauchst nit!« Runotter war bleich geworden. »Hab mir eh schon gedacht, du wirst nit mögen.«

Im Klang dieser Worte war ein so schwerer Kummer, daß Malimmes sein Lachen sein ließ und verwundert aufsah.

»Gottes Gruß!« Der Richtmann wollte gehen.

Da faßte ihn Malimmes flink am Arm. »Du!« Ein langes Schweigen. »Wenn ich um Allerheiligen noch leb und frei bin, meiner Seel, ich tu’s.«

Mit jagenden Worten sagte Runotter: »Wenn du möchtest, Mensch, ich tät dir Sold geben von heut an. Verlang, was du magst. Hab ich so viel, so geb ich’s.«

Nun mußte Malimmes wieder lachen. »Da tätest ja du mein Herr sein bis zum Winter!« Immer heiterer wurde er. »Dem König hab ich gesoldet, einem Kurfürsten, einem Herzog, einem Bischof, einer schönen Frau, einem Heckenreiter und einer Stadt. Noch nie einem Bauren! Jöija, schau, da hätt ich ja gar was Neues im Leben!«

»Red nit so!« sagte Runotter unwillig. »Mir ist das kein lustig Ding.«

»Aber mir! Eines Bauren Soldmann? Ist was Neues! Freilich, die Bauren führen allweil Krieg, eines Sauren Kriegsmann sein, ist gefährlich. Könnt sein, da geht’s mir flink an das kitzlige Zäpfl. Aber wissen möcht ich, wie das ist, wieder einmal was Neues haben.« Lustig klatschte Malimmes die Hand auf seinen Schenkel. »Einmal im Clevischen, da hat mich auch ein Gusto gekitzelt. Hab gemeint: Um des Wissens wegen muß man alles verkosten. Da hätten sie mich schier gehenkt. Ein Blitz hat einschlagen müssen, daß ich vom Baum wieder ledig worden bin.«

Der Richtmann sagte hart: »Laß dein narrisches Reden sein, das ich nit versteh. Tust mich foppen? Oder ist es dein Ernst?«

»Die Hand her! So schlag ich ein!«

Die beiden Fäuste umklammerten sich. Malimmes lachte, Runotter blieb ernst, doch die steinerne Härte seines Gesichtes milderte sich. »Was verlangst?«

»Ich schätz dich nit minder ein als wie die Nüremberger: doppelt Gewand, für Sommer und Winter, Wehr und Eisen nach Not, Trank und Speis nach Landsbrauch, im Frieden Stub und Bett, bei Krieg einen Polster im Zelt, zwanzig Pfund Pfennig als Doppelsold, viermal im Jahr ein frummes Weibl und nach jeder gewonnenen Schlacht das Raubrecht.«

Im Gesicht des Richtmanns zeigte sich ein leiser Zug von Heiterkeit. »Sollst alles haben. Bloß die frummen Weiblein, die mußt dir selber suchen —«

»Eins weiß ich mir schon, nit weit von deiner Burg.«

»— und meine Schlachten verlier ich. Da wirst kein Raubrecht haben.«

»Ist auch nit schlecht. Fasten und arm sein können, ist eines Kriegsmanns beste Kunst.«

»Gilt’s, Malimmes?«

»Topp!«

»Topp!«

Runotter wollte gleich zu seinem Gaul. Aber Malimmes faßte ihn am Gürtel. »Halt, Herr, jetzt muß ich Treu schwören!«

»Geh, Mensch, laß die Fasnachtspossen!«

»Das muß sein!« sagte Malimmes ernst. Er stellte die Beine breit, legte die Linke auf seinen hageren Brustkasten, hob die Rechte mit gespreizten Fingern und sagte, wie ein Frommer sein Gebet spricht:

 
»Meinem Herren tu ich den Eid,
Will ihn schützen und ehren allzeit
In Fried und Gefecht.
Treu deinem Recht,
Bin ich dein Knecht,
Mit Herz, Haut, Fleisch, Blut und Sinn
Hast mich, wie ich bin.
Und tät ich nit, wie du befohlen,
Soll mich der Teufel holen!«
 

Freundlich sagte der Richtmann: »Bist noch allweil der gleiche Narrenschüppel, der du als Bub, gewesen.« Er wollte gehen.

»Halt, Herr! Jetzt muß ich das Knie beugen.«

»Geh, laß doch! So was mag ich nit.«

»Herr, das muß sein!«

»Sag doch nit allweil Herr zu mir! Ich bin keiner.«

»Der meinig bist!« Malimmes beugte auf höfische Weise das Knie. »Meinem Herren zur schuldigen Ehr!« Als er aufstand, streckte er dem Runotter die Hand hin. Es war etwas Warmes und Schönes in der Art, wie er sagte: »Sei mir ein guter Herr, so bin ich ein guter Knecht, bei Tag und Nacht, in Glück und Elend.«

»Auf mich ist Verlaß, Malimmes!«

»Auf mich nit minder!« Der Soldknecht lachte. »Also, morgen mit der Sonne steh ich ein bei dir. Mit wem hast Fehd? Heut vor Nacht, da schleif ich noch meinen Bidenhänder. Da können wir morgen gleich losschlagen.«

Fast ein bißchen schmunzelnd machte der Richtmann eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Da wirst dich nit tummeln brauchen.«

Wie brennendes Blut lag der rote Schimmer des Abends über allen Dingen der Erde.

Als Runotter schon gehen wollte, sah er zum Haus hinüber und sagte leis: »Von mir aus hast Urlaub bis zum Winter. Deiner Mutter könnt’s unrecht sein, daß du gehst.«

Jede Spur von Heiterkeit erlosch in den Augen des Malimmes. »Die hat nit gemerkt, daß ich kommen bin. Wird nit merken, daß ich geh. Sieben Täg lang bin ich gelaufen in einem Saus von Nüremberg bis zum Taubensee. Allweil ein Freud vor mir. Jetzt bin ich da. Wo ist die Freud?« Er sah dem andern in die Augen. »Runotter! Wie von Nüremberg zum Taubensee, so ist der Weg von der Wiegen bis zur Grub.« Seine Brust hob sich. »Auf morgen! Ich komm. Und hast nit Kriegsmannsarbeit für mich, so laß mich die Säu hüten. Sind liebe Viecher.«

Herzlich sagte der Richtmann: »Bei mir sollst es gut haben! Du und ich, paß auf, das gibt zwei feste Kameraden.«

Sie gingen voneinander, Runotter zu seinem Gaul, Malimmes hinüber zum Haus.

Neben der Mutter blieb er stehen und strich ihr mit zärtlicher Hand über den weißen Scheitel.

Sie schob seine Tatze fort.

»Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir!«

Malimmes blieb noch immer bei ihr stehen und wartete. Dann streckte er die langen Glieder und trat ins Haus.

Durch den glühenden Abend trabte der Schimmel gegen das enge Waldtal hinauf. Den Weg zum Hängmoos kannte er gut. Im Walde fing es schon zu dunkeln an. Der Schimmel fand sich zurecht, ohne daß sein Reiter ihn lenken mußte.

Es war im Richtmann eine Ruhe, über die er sich selber wunderte. Aber war denn nicht die angedrohte Pfändung eine Narretei geworden, jetzt, seit er wußte, daß der gewächsnete Rechtsbrief in der Truhe des Seppi Ruechsam lag? Oder kam diese Ruhe aus seiner Vaterfreude? Weil er seine Kinder sehen sollte? Oder war diese Ruhe in seinem Herzen seit dem Handschlag des Malimmes? Wird das Leben ein besser Ding in der Stunde, in der man einen Menschen findet, aus dessen heiteren Augen die Treue redet?

Im steilen Walde stieg Runotter ab, damit dem Schimmel das Klettern leichter würde. Als die beiden das dunkle Almfeld erreichten, nahm der Richtmann dem Gaul das Zaumstricklein und den Gurt herunter und ließ ihn laufen. Der Schimmel wälzte sich gleich in der nächsten Schlammwanne des Bruchbodens.

»Guck, wie gescheit! Der zieht ein warmes Jäckl an, daß er sich nit verkühlt.«

Raschen Ganges schritt Runotter über die Alm hinauf. Es war schon finster. In der Höhe und im stahlblauen Osten glänzten die großen Sterne. Gegen den Westen lag noch ein schwefelgelber Streif des versinkenden Lichts über dem Lattengebirge. Warm, wie aus einem Backofen, strich die Nachtluft über das Gehänge herunter. In den Sümpfen des Bruchbodens sangen mit viel hundert Stimmen die Frösche. Diese Stimmen, von denen eine wie die andre klang, schwammen zu einem gleichmäßig flutenden Rhythmus ineinander. Ein endloses Lied mit einem einzigen Wort: »Wogwogwogwogwog ...« Fast klang es, als hätte die Erde irgendwo — in der Nähe oder fern? — eine verborgene Kehle, durch die eine geheimnisvolle Stimme der Tiefe heraufsang.

Dazu noch, weit in der Finsternis draußen, das Rauschen eines Baches. Und hier und dort, ganz leise, tönte zuweilen eine Almschelle. Die Rinder ruhten schon. Doch plötzlich kam etwas heftig Rasselndes durch die Dunkelheit heran, sehr schnell, dumpf schnaubend, eine finstere Tiergestalt mit plumpem Kopf: ein vierjähriges Öchslein, das seinen Heimherrn gewittert hatte. Sah wie ein Schreck der Finsternis aus — und war tierische Zärtlichkeit. Der Atem des Rindes ging dem Richtmann heiß und wohlriechend gegen die Wange, gegen die Hand.

»Dunnerli, bist du’s?«

Ruhig ging das Öchslein neben dem Bauer her bis auf einen Steinwurf vor der Hütte, aus deren Tür ein matter Rotschein herausgloste.

Im Dunkel eine leise, froh erschrockene Stimme: »Vater?«

»Wohl, Kindl!«

Jula, die neben der Tür auf der Hüttenbank gesessen, gab dem Vater die Hand. »Wird der Bub sich freuen!« Ihre Knabenstimme war wie ein linder Flötenton in der Nacht.

»Wo ist er?«

»Schlafen tut er schon. Der wird Augen machen, wenn du ihn weckst.«

Runotter schwieg. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Soll er lieber schlafen. Der Schlaf ist das best. Da ist der Mensch dem Himmel näher und weit von der Welt.«

Die Hirtin nickte. »Ist schon wahr. Besser, der Jakob schlaft. Das tut ihm gut. Heut schon gar. Er muß sich ein lützel geärgert haben.« Sie meinte den Auftritt mit Marimpfel; aber davon mochte sie dem Vater nichts erzählen. »Du weißt, nach einem Ärger tut er sich allweil mit dem Schnaufen hart. Zum Abend ist’s wieder besser gewesen. Gut, daß er schlaft.«

»Freilich, ja!« Runotter tat einen schweren Atemzug. »Daß du noch nit zur Ruh bist?«

»Zum Abend sitz ich allweil so und schau hinaus. Und die Frösch, die mag ich leiden.«

Runotter streifte die Schuh von den Füßen. Lautlos, mit nackten Sohlen, trat er in den Käser und ging zum Heukreister hin, der in der Ecke war. Von der Kohlenglut des Herdes strahlte ein rotes Zwielicht aus. Und unter diesem roten Schimmer lag in der breiten, mit Heu gefüllten Schlaftruhe ein Häuflein mühsam atmenden Lebens. Eine graue Wolldecke verhüllte den winzig zusammengehuschelten, bresthaften Körper. Das schwarze Haar hing wuschelig in die bleiche Stirn; in den Runzeln des schmalen Gesichtes war ein ruheloses Zucken. Und dennoch gab der Schlaf diesem häßlichen Bild einen Hauch von wohligem Frieden.

Runotter streckte die Hand nach der wollenen Decke, ohne sie anzurühren. Und wie jedesmal, wenn er seinen Buben mit geschlossenen Augen sah, so jagte dem Richtmann auch jetzt eine Reihe von Bildern durch das Gehirn.

Er sah sein junges Weib aus dem Tal des Windbaches heimkommen, an der Hand das verstörte Dirnlein, das in einem erwürgten Schreikrampf immer schlucken mußte; alles Weiße am Gewand des jungen Weibes hatte rote Flecken wie von Blut; aber die kamen nur von den zerdrückten Erdbeeren; doch am Hals und auf der kalkbleichen Wange hatte sie eine leichte Ritzwunde.

Er sah sein Weib auf der Bank in der Stube sitzen, sah, wie sie zitterte an Händen und Knien, wie sie immer das Gesicht hin und her drehte, immer ihres Mannes Augen vermied und stumm blieb auf alle Fragen. Immer stumm, solang der Tag noch ein Bröslein Licht hatte. Und erst in der Nacht, als sie im Dunkel der Kammer an ihres Mannes Hals geklammert hing, da kam ihr die Sprache.

Er sah sich im Münster zu Berchtesgaden hinter einer Säule stehen, das Messer im Ärmel verborgen; er sah die Stiftsherren beim Rauschen der Orgel zu ihren Chorstühlen kommen, alle, alle — und nur ein einziger kam nicht und blieb verschwunden: Hartneid Aschacher.

Er sah einen grauen Wintermorgen und sah, wie ihm die schweigende Hebfrau auf seine ausgestreckten Hände hin ein verdrehtes, widersinnig verschobenes Menschenkind legte, das die Augen nicht auftat, immer das schmerzhafte Mündchen öffnete und doch nicht lallen wollte.

Er sah —

Da legte er langsam den Arm über seine Augen.

Lautlos trat er hinaus in die Nacht.

Nun saßen Vater und Tochter auf dem schmalen Bänklein, Schulter an Schulter, immer schweigend.

Dann fing Runotter ruhig zu reden an und erzählte von dem ›Stellmann‹, den er für Jakob gefunden.

Wieder schwiegen die zwei.

Und immer leiser wurde das Lied der Frösche, immer weiter schien es fortzurücken, immer ferner in die Nacht hinauszuschwimmen. Es wurde zuletzt wie eine feine Stimme, die zärtlich herausflüsterte aus dem Dunkel: Komm, komm, komm, komm —

»Das hör ich gern!« sagte Jula.

Nun erzählte Runotter von der Arbeit im Hof daheim. »Aber arg still ist’s im Haus. Tät mir recht sein, wenn der erste Reif schon da war und du kämst mit dem Jakob wieder heim! Beieinand sein ist allweil das best. Aber jetzt muß ich fort, muß noch ein paar Weg machen in der Nacht.« Er war aufgestanden und hatte Jula schon die Hand gereicht. Und nun erst sprach er von dem anderen, von der Narretei dieser Pfändung.

Die Hirtin erschrak. Und in der Sorge um ihre Tiere, die sie liebhatte, sprach sie zornige Worte.

Der Vater schob die Füße in die Schuhe. »Komm, geh ein lützel weiter vom Käser weg. Der Bub soll mich nit sehen, wenn er aufwacht. Der braucht’s nit wissen.«

Die beiden gingen langsam in die Nacht hinaus, Runotter mit Zaum und Gurt über dem Arm. Als der Vater stehenblieb, sagte Jula in Zorn: »Das ist doch unrecht, Vater!«

»Mehr Unverstand und ein lützel Irrtum, der sich weisen wird. Ich glaub eh, sie lassen’s gut sein. Aber kommen die Pfändleut; so mußt dich nit aufregen. Ich schick dir morgen in der Früh den Heiner herauf. Tat selber kommen, wenn ich nit bei der Gnotschaft sein müßt. Und zum Paß dahinten, gegen den Hallturm, leg ich einen Buben als Lugaus. Merkt er die Pfändleut, so muß er heimspringen und unter der Alben drei Juchzer tun, daß du weißt, sie kommen. Da geh mit dem Jakob vom Käser weg, weit weg, bleib in den Stauden hocken und tu dich nit kümmern um die ganze Sach. Der Heiner macht schon alles.«

»Vater, das ist hart, daß du mich wegschicken tust von meiner Herd!«

»Bloß wegen dem Buben, weißt! In drei, vier Tag ist alles wieder gut. Leicht morgen zum Abend schon. Über den Bruchboden bringen die Pfändleut so viel schwere Küh nit hinüber. Da müssen sie durch die Ramsau. Und beim Seppi Ruechsam steht die Gnotschaft mit unserm Recht. Kann sein, ich bring die Küh vor Nacht wieder her. Geht’s anders, so tu ich Botschaft schicken. Da bleibt der Heiner zum Ochsenhüten, und du mit dem Buben kommst heim.«

Jula konnte nicht reden.

Runotter tat auf den Fingern einen Pfiff. Ein Pochen wie von zwei schweren Hämmern ließ sich hören, und der Schimmel kam aus der Nacht herausgaloppiert. Der Richtmann fühlte an den Gaul. »So? Hast du dein warmes Jäckl schon wieder abgebeutelt?« Er gürtete und zäumte den Schimmel.

Da sagte Jula: »Daß die Leut so schlecht sein können!«

»Wie’s half geht!«

»Muß das allweil so sein? Und ist das allweil so gewesen?«

»Ein Sträßl zum Besseren gibt’s überall, und gewesen ist’s auch nit allweil so. Meines Vaters Vater hat als junger Bursch noch leben dürfen in der, seligen Heinrichszeit.«

Beklommen fragte die Hirtin: »Was für eine Zeit ist das gewesen?«

»Bald hundert Jahr ist’s her, da hat im Land ein guter Fürst regiert, Herr Heinrich von Inzing. Von dem hat meines Vaters Vater als altes Mannderl oft erzählt, und wenn er geredet hat von ihm, sind die Leut herumgesessen, mäuserlstill, und jedem ist ein Glanz in den Augen gewesen.«

»Da hätt ich leben mögen!« sagte Jula leis.

»Ja, Kind, selbigsmal, sagen die alten Leut, da wär das Gadener Land wie ein Paradeis gewesen. Und nit der Herrgott hat’s gemacht. Ein Mensch! Da glaub ich dran: Ein starker und guter Mensch macht tausend glückselige Leut und greift dem Elend der Welt ins Karrenrad.« Runotter sprang auf den Gaul. »Der Schimmel hat die besseren Augen. Da geht’s flinker. Gut Nachts Kindl! Und morgen tust so, wie ich’s haben will. Gelt?« Er faßte die Hand, die Jula ihm hinaufbot. »Gestern noch die beste Ruh, und heut so eine Sorg! Möcht nur wissen, wer die Narretei da aufgerührt hat. Der Marimpfel kann’s nit gewesen sein. Der ist doch heut schon mit der Ladung kommen.« Runotter spürte an Julas Hand eine Bewegung. »Was hast?«

Sie schüttelte den Kopf. Und schweigend stand sie in der Dunkelheit.

»Jetzt muß ich aber davon! Gut Nacht! Und tu am Käser die Tür fest riegeln.«

Jula blieb stehen.

Den Vater sah sie schon nimmer. Nur auf dem Rasen hörte sie noch vier Hämmer leise pochen. Manchmal klang’s wie Eisen gegen einen Stein; und winzige Funken sprühten auf.

Langsam drehte Jula das Gesicht gegen den Bruchboden hinüber, aus dessen matter Wasserhelle die kleinen Moosbüschel wie struwelige Koboldköpfe herauslugten.

Die Stille der Nacht.

Auch die Frösche schliefen und sangen nimmer.

Da klang in weiter Ferne ein Murren wie vom Donner eines nahenden Gewitters.

Doch die Höhe war wolkenlos, die Sterne glänzten ruhig und schön.

Herr Peter Pienzenauer war mit dem Rehbock heimgekommen ins Stift. Und da hatten die Chorherren noch einmal die neue Kammerbüchse im Hirschgraben gelöst, um den Pulverblitz in der Nacht zu sehen.

5

Schon zeitig am Morgen fingen die Herren wieder zu schießen an. Siegwart von Hundswieben, Gesicht und Hände wie von Ruß geschwärzt, glich einem Betrunkenen in seiner Freude an diesem Gedonner und Rauchgewoge, das über die Firste des Stiftes emporwirbelte, als wäre die klösterliche Stätte verwandelt in eine kriegerische Brandstatt. Der Übermut des jungen Hundswieben steckte die andern Domizellaren, sogar die älterem Chorherren an. Nicht minder lustig waren die neugierigen Leute, die sich auf der Straße um die Mauer des Hirschgrabens drängten und das Zugucken nicht satt bekamen. Ein paar Furchte same rannten freilich erschrocken davon, als der junge Hundswieben Belagerung spielen wollte und die mit einer kinderkopfgroßen Steinkugel geladene Kammerbüchse gegen die Straßenmauer richtete. Ein banger Schrei der vielen Menschen, ein Rückwärtsweichen und Auseinanderfluten. Dann läutete die Annasusanne — wie Hundswieben sein bedenkliches Spielzeug getauft hatte — ein Pulverblitz, ein Krach, eine kreisende Rauchwolke, ein Gekoller von Steinbrocken, und mitten in dem alten grauen Gemäuer konnte man plötzlich ein rundes Auge des blauen Himmels gewahren. Wie durch ein Wunder war der gefährliche Scherz ohne böse Folgen abgelaufen. Und als die Leute das merkten, fingen sie gleich wieder vergnügt zu schwatzen an. Ein Kreischen wie beim Schembartlaufen erhob sich, als Hundswieben und die andern Domizellaren die Bresche unter fröhlichem Kriegsgeschrei erstürmten, in den Schwärm des Volkes eindrangen und zwei junge hübsche Mädchen haschten, die sie als Siegesbeute mit sich herunterrissen in den Graben. Die eine, die immer lachen mußte und dennoch Zetermordio schrie, wurde rittlings auf das heiße Büchsenrohr gesetzt. Dabei lud man die Annasusanne wieder. Auf der Straße gab’s ein johlendes Gebrüll, als die langgestielte Rohrbürste so hurtig ein und aus fuhr. Ganz närrisch lachten die Leute, als die Herren den Pulverdampf eines blinden Schusses dem andern Mädel unter das aufgehobene Röcklein fahren ließen. Dem entsetzten Opfer dieses Scherzes pfurrten die dicken Rauchfäden aus Hemdärmeln und Kittelschlitz heraus.

Ein paar von den Leuten gingen freilich mit zornrotem Gesicht davon. Immer gibt es Dummköpfe, die keinen Spaß verstehen. Wenigstens war der junge Hundswieben dieser Meinung.

Neben dem Scherz und Übermut der Herren schien in dieser knallenden Pulverstunde auch eine ernste Sache zu spielen. Lampert Someiner tauchte mit verstörtem Gesicht aus dem Hof des Stiftes heraus. Er lief, daß ihm die Menschen auf der Straße verwundert nachsahen. In den Flur des elterlichen Hauses stürmend, schrie er den Namen des Stallknechtes. Und weil sich der Knecht nicht sehen ließ, sprang Lampert selbst in den Stall und sattelte in Hast den Moorle.

Für einen Ritt war Lampert nicht gekleidet. Er kam von einer Reverenzvisite bei seinem fürstlichen Herrn und trug ein kostbares Hofkleid, mit einem zierlichen Dolch am Gürtel. Von seiner Mardermütze hing rückwärts eine goldfarbene Seidenschärpe herunter und schwang sich unter dem linken Arme bis zur Brust.

Mit diesem feinen Kleide stapfte Lampert aufgeregt im Dünger des Stalles umher. Er fluchte, als der Pongauer beim Zäumen nicht gleich die Zähne auseinandertat. Schon im Hofe schwang sich Lampert auf den Gaul hinauf und ließ ihn über das Holzpflaster des Flures hinauspoltern auf die Straße.

Die Tür der Amtsstube wurde aufgerissen, und Herr Someiner erschien, mit dem Gänsefähnlein hinter dem Ohr. »Was soll denn das, Bub? Was willst du?«

Lampert war schon draußen im Licht, und nur der lange, buschige Schweif des Moorle wehte dem Amtmann noch eine unverständliche Antwort zu.

Jagende Schritte, ein stammelnder Laut. Und aus dem dunklen Treppenschachte fuhr die weiße Frau Marianne heraus. »Ruppert! Das ist doch der Bub gewesen?«

»Mir scheint —«

Die beiden rannten auf die Straße hinaus. Dem Amtmann stieg das Blut zu Kopf, und ein deutliches Unbehagen redete aus seinen verdutzten Augen. Frau Marianne rief mit schriller Stimme: »Lampert! Lampert!« Aber der Reiter, der den Moorle trotz des löcherigen Pflasters zum Jagen zwang, verschwand schon um die Wende der Marktgasse. »Lampert!« klang noch ein drittes. Mal der schrille, angstvolle Ruf.

Ein Gewirr von Stimmen quoll vom Hirschgraben her. Die fleißige Annasusanne brüllte wieder, und während das Echo des Schusses über die in Sonne flimmernden Berge hinrollte, grub sich in das Herz der Frau Marianne eine bange Muttersorge, von der sie durch fünfzehn Monate nimmer erlöst werden sollte.

Auf den Moorle, der an den letzten Häusern von Berchtesgaden schon vorbei war, hatte das Gebrüll der Kammerbüchse wie ein Peitschenschlag gewirkt. Der Rappe hämmerte mit den Hufen, daß eine wehende Staubwolke um ihn herum war. Roß und Reiter wurden grau. Nur die wehende Schärpe behielt noch ihre Farbe und war hinter dem Reiter vom Luftzug des jagenden Rittes zu einem Halbreif ausgebogen, wie der goldene Henkel hinter einem silbernen Krug.

Dann schlug auf der hochliegenden Straße der Wind um und wehte den aufgewirbelten Staub vor dem jagenden Rosse her. Lampert, ganz eingehüllt in dieses dampfende Grau, sah nimmer auf zehn Schotte weit. Ein Hornruf, den er plötzlich hörte, verriet ihm, wie weit er in der Stunde dieses hetzenden Rittes schon gekommen: bis zum Burgstall am Gwöhr, einem Innenwerke der Befestigungen, mit denen der Hallturm die Berchtesgadnische Grenze gegen Reichenhall und das Landshutische Bayern schützte.

Den Pongauer parierend, schüttelte Lampen den Staub vom Gesicht und streifte ihn von den Augenlidern. Und als die graue Wolke davondampfte, stieg aus ihrem Schleier ein wundervolles Bild heraus. Keine Burg. Nur eine Mauthalle, ein kleiner Turm und ein schlechtes Haus hinter grob geschichtetem Gemäuer. Aber die Sonne vergoldete das alles, und hinter dem leuchtenden Schlößlein glänzte der Sammet hundertjähriger Wälder und die träumende Ferne der ins Blau gehobenen Berge.

Ein paar Söldner, deren Waffen in der Sonne blitzten, guckten aus den Scharten des Turmes herunter und erkannten den jungen Someiner.

Er schrie hinauf: »Sind acht von den unseren da vorbeigekommen?«

»Wohl, Herr, die sind über den Saurüssel aufgestiegen, ein Stündl mag’s her sein.«

»Die muß ich einholen!«

Noch eine kleine Strecke ging der Ritt auf der Straße hin. Nun klomm der Rappe über das steile Gehäng einer Wiesenschlucht hinunter und drüben wieder hinauf, er keuchte, immer steiler ging es bergan, auf groben Wegen, durch Bachschluchten und dichten Hochwald. Auf einer ebenen Höhe mußte Lambert den Gaul rasten lassen. Und der Reiter, dessen Blicke immer suchten, sah hoch drohen über dem Bergwald die acht Pfändleute auf steiler Windbruchfläche hinaufklettern gegen den Hängmooser Paß, zwei, die ihre Rosse führten, zwei unberittene Spießknechte und vier Troßbuben.

Lampert tat einen Schrei, der ihm die Stimme zerriß.

Die acht da droben hörten nicht, der Lärm ihres Marsches über das dürre Astwerk erstickte jeden Laut der Tiefe. Sie stiegen höher und hoher. Jetzt kamen sie zu dem grasigen Paßweg.

Die beiden Reiter konnten wieder aufsitzen, und so zogen die acht in den von Sonnenlichtern durchfunkelten Wald hinein.

Marimpfel, der die Wege seiner Heimat kannte, ritt voraus. Plötzlich verhielt er den Gaul, hob sich im Sattel und spähte in den Wald. Rannte da nicht ein Bauernbub?

»Halt!« brüllte Marimpfel.

Doch der Bub hetzte durch den Wald hinunter gegen die Hängmooser Schlucht und suchte Wege, wo kein Reiter ihm folgen konnte. Jetzt sah er einen grünen Fleck der Alm. Wie ein blinkender Erzwürfel lag die Hütte in der Mittagssonne. Taumelnd klammerte sich der Bub an einen Baum und schickte einen gellenden Schrei zur Hütte hinauf — und wieder einen — wieder einen. Dann rannte er in die Schlucht hinunter, dem Taubenseer Karrenweg entgegen. Von den Gratwänden kam ein vielfaches Echo der gellenden Schreie. Es klang, als säßen rings um die Alm herum die Hüterbuben dutzendweise, und als kreischte jeder von ihnen einen Jauchzer in die schöne, friedliche Sonne.

Jula stand vor der Hütte. Noch immer war sie des Glaubens gewesen: Die Pfändleute kommen nicht, das ist Unrecht, und das dürfen sie nicht tun!

Nun hörte sie den Buben schreien. Und wie Trauer war es in ihrem Blick, als sie hinunterspähte gegen den Wald und dann hinübersah zu dem von Sonne glitzernden Sumpfgewässer und zu der kleinen, grünschopfigen Insel, von der sie einen Sattel auf sicheren Boden getragen hatte.

»Komm«, sagte sie zum Jungknecht Heiner, den ihr der Vater am Morgen heraufgeschickt hatte, »wir treiben die Küh zum Käser her, daß sich das Unrecht nimmer plagen muß.« Sie zog die Schuhe an und knüpfte mit zitternden Händen die Riemen.

Heiner fluchte und schalt. In seinem Zorn wider die Herren schlug er mit dem Stecken auch auf die Kühe los.

»Tu nit so grob! Das Vieh kann nit dafür, daß die Menschenleut nit anders sind.«

Jetzt waren die siebzehn Kühe bei der Hütte und brüllten, weil sie die wunderliche Sache nicht verstanden. Heiner mußte springen, wehren und treiben, um die Tiere beisammen zu halten.

Den Bruder hatte Jula schon früh am Vormittag hinübergeschickt zur Leite, auf der die zwiesömmerigen Kalben weideten. Zwischen der Leite und dem Käser lag ein Waldstreif von Erlen, Birken und hohen Krüppelföhren. Wer hinter diesen Stauden saß, konnte nimmer sehen, was bei der Hütte geschah. Drum war’s ein guter Platz für den Jakob. Und sein totes Ohr, das noch nie einen Laut der Liebe vernommen hatte, konnte auch nicht die Stimmen des Unrechts hören, das da geschehen sollte.

In der Hütte schlang Jula einen Riemen um die kleine Kupferschüssel, die neben dem Herdfeuer stand und das Mahl für den Bruder enthielt. Brot und Löffel gab sie in die Schürze, die sie am Bund ihres Rockes aufsteckte. Mit dem Eisenzagel schob sie auf dem Herd die halbverbrannten Scheite auseinander, die noch ein bißchen flackerten, und bedeckte die glühenden Strünke mit Asche. Solang es den Herren nicht gefiel, durfte von Stund an auf diesem siegelwidrigen Herde kein Feuer mehr brennen.

Jula trat in die Sonne hinaus, um dem Jakob sein Mahl hinüberzutragen auf die Leite. So hatte sie sich’s am Morgen ausgedacht, damit der Bruder nicht merken sollte, daß etwas geschah, was wider die Ordnung war.

»Jetzt tu Verstand haben!« sagte sie zu Heiner, dem das Gesicht von Zorn und Plage brannte. »Und mach alles in Ruh, wie’s der Vater haben will.« In Sorge warf sie einen Blick über die kleine, zusammengetriebene Herde der siebzehn Kühe hin, die sich unter Gebrüll und Schellengerassel aneinanderdrängten. Julas Augen wurden feucht. Wortlos ging sie davon.

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
30 August 2016
Umfang:
700 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain

Mit diesem Buch lesen Leute