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Buch lesen: «Der Ochsenkrieg», Seite 21

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Wütend wollte Marimpfel auf den Gefesselten losschlagen. Die anderen Spießknechte hielten ihn zurück. Und verständig mahnte der Profoß: »Seid gescheit, ihr Brüder, und verschiebt eure Hausfehden auf des Herrgotts Urtl im Jenseits!« Das Gedräng der Kriegsknechte spaltete sich in zwei Parteien. Für einige unter diesen Söhnen des blutigen Handwerkes hatten die zwei Silben ›Bruder‹ noch immer ein menschliches Gewicht, und sie gaben dem Marimpfel unrecht. Die andere Partei, bei der die Gadnischen Hofleute waren, stach die Worte ›Spion‹ und ›Landesverräter‹ auf und wurde wißbegierig.

Marimpfel salvierte seine Bruderseele durch die kraftvolle Beteuerung: »Fürstentreu geht über alles! Da gibt’s keinen Ausweg nimmer. Ich tu’s nit gern — aber jetzt muß ich reden!« Und nun rechnete er dem Malimmes ein langes Register schwerer Landesverbrechen ins Gesicht: »Hat Sold genommen von einem hörigen Bauren und hat ihm gedient wider seinen Fürsten; hat mitgeholfen, daß ein Treubrüchiger das Feuer hat werfen können auf ein Lehensdach des Gadnischen Hofes; hat den Vogt in den Bach geschmissen und einem flüchtigen Verräter beigestanden; hat sich mit den Bayrischen verbündet wider das eigene Land; hat auf dem Untersberg die Mauer überstiegen und ist den Unsrigen in den Rucken gefallen.« Das übelste von den Verbrechen des Malimmes — seine Hallturmer Tücke gegen den eigenen Bruder — konnte Marimpfel gar nicht mehr aufzählen. Denn die Gadnischen Hofleute und die Salzburger Spießknechte begannen wie im Takt eines Rundgesanges zu brüllen: »Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz! Rappenholz!«

Aus Erfahrung wußte der Profoß, daß gegen solche Volksstimme schwer aufzukommen war. Er bezwang sein Wohlwollen und wurde streng. »Mensch! Was sagst du dazu?«

Malimmes hatte munter dem tröpfelnden Blut die Augen wieder geschlossen, hob die Achseln ein bißchen und lachte. »Ein Bruder wird doch nit lügen! Das alles ist wahr. Da beißt die Maus kein Bröselein Speck nimmer weg davon.«

Ein Zorngeschrei in der Runde. Und der Profoß entschied: »So bist du als Landesverräter dem Gutwillen des Herren Someiner entzogen. Ich muß dich zum Galgen sprechen.« Hundert jubelnde Stimmen. »Einen Pfaffen will ich dir holen lassen. Tu Reu und Leid machen als guter Christ!«

»Reuen tut mich nichts, als daß ich Rindvieh heut am Morgen nit nach Plaien geritten bin. Und was ich beichten müßt, weiß ich nit. Außer, daß ich ein gutes Mädel zur Mutter gemacht hab. Das wird mir der Herrgott verzeihen. Wo so viel Leut auf der Welt erschlagen werden, muß er doch wünschen, daß wieder Kinder wachsen. Nit?«

Der Zorn der Umstehenden verwandelte sich in Heiterkeit. Marimpfel war jetzt der einzig Wehmütige. »Ich geh, ich kann’s nit mitanschauen, mein Bruder ist er halt doch!« Und während dieser Trauernde davontorkelte, wurde der Salzburgische Feldpater in den Kreis geschoben.

»Hochwürdiger Herr«, sagte Malimmes freundlich, »beichten brauch ich nit. An einen gütigen Herrgott glaub ich. Und hoff, daß ich zu ihm komm. Ein andermal.« Er lächelte. »Aber für alle Fäll, in Gottesnamen, gebt mir Euren heiligen Segen!« Als der Pater seine Hände erhob, beugte Malimmes fromm den roten Kopf. Dann sagte er: »Also! Fürwärts! Wie schneller, um so lieber ist mir’s.«

Ein wirres Geschrei der vielen Menschen. Und der ganze Schwarm, mit dem Gefesselten in der Mitte, schob sich gegen den Marktplatz hin. Die zwei Gehilfen des Profosen, die man ›Löwen‹ nannte, gingen neben dem Delinquenten her. Und einer von den beiden knüpfte kunstgemäß die hänfene Schlinge. Malimmes sah sehr aufmerksam bei dieser Hantierung zu: »Brav, Mensch!« sagte er rauh. »Du verstehst dein Sach! Besser als wie der Ulmer, dem ich’s erst zeigen hab müssen. Aber schad um den guten Strick! Tät so viel Lumpen geben, die ihn verdienen.«

»Kerl!« Der wohlwollende Profos geriet in einiges Staunen. »Einer, der gleich vor dem ewigen Richter steht, sollt keine fürwitzigen Reden nimmer machen.«

»So?« Die Zähne des Malimmes knirschten, während er flink an der Schulter eines Löwen das Blut von den Augen wischte. »Da denk ich anders, Herr! Tät sich’s weisen, daß ich dran glauben muß, so ist’s allweil besser, ich geh lustig hinüber als traurig. Nit?«

Unleugbar: Das letzte Stündlein des Malimmes, das da kommen sollte, hatte einen Zug von Frohsinn. Die Spießknechte, die mit dem Gefesselten aus dem Stiftshof kamen oder schon auf dem Marktplatz standen, waren in guter Laune; es wurde doch da die Welt wieder ärmer um einen, der ihnen mit dem Bidenhänder das Haardach in unliebsamer Weise hätte belästigen können. Und die gereizten Bauern und Bürgersleute, die den Brunnen und das überfüllte Rappenholz umdrängten, betrachteten die Lebensbuße dieses einen als ein beruhigendes Pflaster für die mannigfachen Leiden, die ihnen der Schwärm der feindlichen Sackmacher bereitet hatte. So verwandelte sich der halsnotpeinliche Vorgang, der doch auch mit einem Ellenbogen an das dunkelste Grauen streifte, zu einer befriedigenden Kriegskomödie. Dazu glänzte die strahlende Morgensonne aus dem reinen Blau so wundersam auf das kreischende Menschengewühl herunter, daß dieser bunte Ausschnitt des irdischen Lebens einen Schimmer von froher Schönheit gewann.

Aber Malimmes wurde, je näher er dem Brunnen kam, mit jedem Schritte ernster. Er konnte wieder sehen — das Blut in seinem Haar begann zu stocken und träufelte ihm nimmer in die Augen — doch der dürstende Blick, den er mit gestrecktem Halse hinüberwarf zum Hause des Amtmanns, zeigte ihm nichts Hilfreiches. Und da begann er den Brunnen und das reichbesetzte Rappenholz zu mustern. Seine Augen wurden wie die Augen eines gehetzten Wildes, das bei der Flucht zwischen Leben und Tod mit jagendem Blick jede Möglichkeit der Rettung und jedes mörderische Hindernis erspäht. Vom wühlenden Denken reihten sich auf seiner roten Stirne dicke Runzeln übereinander, und die große Narbe, soweit sie nicht von Blut überträufelt war, wurde weiß wie Kalk.

Er stand schon auf dem Brunnen, hatte schon die hänfene Schlinge um den Hals. Die zwei Gehilfen des Profosen warfen den Strick über das üble Holz und banden den Knoten. Da gewahrte Malimmes etwas. Spürend hing sein Blick an dem überlasteten Querbalken des Galgens. Ein heißes Funkeln erwachte, in seinen Augen. Und gleich wieder ein Ausdruck wie von tiefern Schreck. In dem kreischenden Lärm, der den Marktplatz füllte, vernahm sein scharfes Ohr das dumpfe Gerüttel der schweren Geschütze, die auf der Salzburger Straße gefahren kamen. Und da wußte er: Der Salzburgische Hauptmann und Herr Pienzenauer haben die Verfolgung der Bayerischen nur eingestellt, um die Ankunft der Kammerbüchsen abzuwarten; jetzt kommen die Büchsen, die Pulverwagen und der Troß; da wird’s Alarm und flinken Aufbruch geben. »Teufel, jetzt hat’s, aber Eil!« Wenn die Alarmtrompeten bliesen, machte man nimmer viel Umstände mit einem, der den Hänfenen schon um das kitzliche Zäpfl hatte.

Malimmes streckte sich und sah den Profosen an: »Herr! Ich hab doch schon die ewige Seligkeit um den Hals herum. Jetzt seid barmherzig und lasset mir die Hand lösen, daß ich als andächtiger Christ noch ein Kreuz machen kann.«

Rings um den Brunnen herum ein wirres Geschrei, in dem sich grausamer Widerspruch mit christlichem Erbarmen mischte. Das letztere schien auch in der Seele des Profosen zu erwachen. Er besann sich sei nes Wohlwollens und zog den Dolch, um die Stricke entzweizuschneiden, mit denen die Hände des Gefangenen gefesselt waren.

Daß sich vom Haus des Amtmanns ein Reiter in flämischer Rüstung unter heiser schrillenden Worten einen Weg durch das Gewühl der Menschen zu bahnen suchte — das konnte Malimmes nicht mehr sehen. Er sah nur immer den schwer belasteten Querbalken des Galgens an. Und die Aufregung verzerrte sein Gesicht, während er die Fäuste in den Gelenken drehte und noch einen heiteren Ton in seine hastigen Worte zwang: »Herr, meiner Seel, da hängen aber schon viel, da ist ja für mich kein Platz nimmer!«

Der Profos lachte: »Müßt ihr halt ein lützel zusammenrücken!«

»Also! Gut! Wenn’s der Balken nur leisten kann!« Ein fliegender Blick um den Brunnen herum, ein kurzes, angestrengtes Lauschen gegen die Salzburger Straße hinaus — und in etwas unchristlicher Flinkheit bekreuzigte Malimmes das rotgesprenkelte Gesicht. »Höia!« schrie er mit gellendem Laut. Er stieß die Fäuste nach links und rechts — die beiden Löwen des Profosen purzelten in den Brunnentrog — Malimmes plusterte den Hals, und während er über dem Kopf mit beiden Fäusten den Hänfenen packte, machte er einen rasenden Sprung in die Luft hinaus. Ein hundertstimmiger Schrei. Erschrocken wichen die Nahstehenden zurück, die stillen Kameraden am üblen Holze pendelten wirr durcheinander, das Querholz des Galgens krachte, knickte in seinem Falz entzwei — und plötzlich plumpsten die zwölf Entseelten als ein schwerer Knäuel mit diesem Lebendigen herunter auf das grobe Pflaster. Um den kollernden Gliederhaufen entstand ein leerer Kreis. Und während die zwei von Wasser triefenden Löwen des Profosen fluchend aus dem Trog des Brunnens kletterten, und während Aberglaube, Schreck und Heiterkeit auf dem Marktplatz durcheinandertobten, hatte Malimmes schon den Hänfenen von seinem Hals gerissen, stand zwischen den Toten auf den Füßen und schrie mit halb erwürgtem Atem: »Ich sag’s ja. Übermaß ist nie von Nutzen. Hättet ihr mich als zwölften gehenkt, so wär’ ich hängen geblieben. Aber so — ein dreizehnter ist allweil überzählig!«

Unter dem Geschrei, das sich erhob, sprang einer in flämischer Rüstung von seinem Ingolstädter Gaul, dicht vor dem kahlgewordenen Galgenbaum. Er faßte den Malimmes an der Schulter und riß ihn zu sich heran. Die heisere Stimme schrillte: »Der Mann ist mein! Wer ihn anrührt, den schlag ich nieder.« Dennoch wollte ein dicker Schwarm von kreischenden Spießknechten gegen den aus dem Hanfsamen Erlösten andrängen. Lampert Someiner machte in Zorn das Eisen blank. Da hörte man vom Stiftshof dumpfes Gepolter und schweres Rädergerassel. Alarmtrompeten fingen zu blasen an. Ein Stutzen und Schauen der Kriegsleute, eine lärmende Verwirrung, ein Drängen und Auseinanderlaufen. »Schnell, du!« keuchte Lampert. »Spring auf meinen Gaul!«

»Vergelt’s Gott, Herr!« Das war ein heißer, fröhlicher Schrei. Und Malimmes saß im Sattel. Und beugte sich nieder: »Die Jula hat Euch lieb! Wahr ist’s, Herr! Die Jula —«

Das steigende Roß drehte sich wie ein Kreisel. Und als es den ersten Sprung tat, riß Malimmes einem Doppelsöldner den Bidenhänder von der Brust. »Wie, du! Gib her! Ich brauch ein Eisen!« Und durch das Gewühl der schreienden Menschen, die vor dem kreisenden Stahl und vor den schlagenden Hufen des Pferdes erschrocken zurückwichen, jagte Malimmes die Marktgasse hinaus, der Hallturmer Straße zu. Und war verschwunden.

Lampert Someiner stand wie ein Träumender inmitten des Aufruhrs, der ihn umbrüllte. Und so stand er noch immer, als Fürst Pienzenauer und Hauptmann Hochenecher aus dem Stiftshof herausgeritten kamen. Zwischen den beiden Herren täppelte asthmatisch der Profos, der in Aufregung etwas erzählte. Und als der Fürstpropst neben dem Marktbrunnen den wirren Knäuel der stillen Schläfer und die leere Strickschlinge sah, fing er herzlich zu lachen an. Noch immer lachend, ritt er auf den Jungherrn Someiner zu und fragte: »Lampert? Hörst du nicht, daß Alarm geblasen wird?«

Lampert erwachte aus dem lähmenden Bann, hörte vom Erker seines Hauses die Stimme der Mutter, sah, daß Frau Marianne sich mit winkenden Armen fast aus dem Fenster stürzte — sah wieder seinen lachenden Fürsten an, stammelte ein paar klanglose Worte und begann zu laufen.

Einer in schwerem Panzer, wenn ihm der tragende Sattel fehlte, war immer anzusehen wie ein plumptaumelnder Käfer, dem man die Flügel ausgerissen. Die Spießknechte kuderten, als sie den ritterlichen Jungherrn so mühsame Sprünge machen sahen.

Lampert verschwand im Flur des väterlichen Hauses. Er schrie den Namen des Knechtes. Und schrie: »Den Moorle! Tu einen Sattel auf den Moorle —« Ein Hustenreiz erwürgte ihm die Stimme.

Im Gerassel seines Panzers tappte er über die Treppe hinauf. Unter der Stubentüre kam ihm die Mutter wie eine Verzweifelte entgegen: »Allgütiger Heiland! Was ist denn schon wieder?«

»Alarm! Leb wohl, Mutter! Laß mich! Jetzt muß ich fort.«

»Jesus, Jesus!« Frau Marianne umklammerte den Sohn. »Ist denn der Krieg nicht aus?«

»Mutter, ich sorg, er will erst anheben.« Lampert befreite sich und fragte in seltsamer Verstörtheit: »Der Söldner, Mutter? Von dem du gesagt hast, er hätt mit dem jungen Buben und dem Runotter unser Haus gehütet? Hat er über’s Gesicht herunter einen schweren Hieb gehabt?«

»Ach geh, was geht denn uns —«

Er drängte: »Sag mir’s, Mutter!«

»In Gottsnamen, ja, ist eine schieche Narb gewesen, ist von der Brau übers Aug gegangen bis zum Hals herunter.«

»Der ist’s!«

Frau Marianne begriff diesen Schrei nicht, in dem es wie Jubel war. Und als sie den Glanz in Lamperts Augen gewahrte, sagte sie in neuem Schreck: »Ach Jesus, ich versteh ja nimmer —«

Lampert streckte sich unter frohem Lachen. »Mutter! Jetzt weiß ich —« Seine Stimme erlosch, er mußte husten, mußte tief Atem schöpfen.

Die Amtmännin, als sie diesen bösen Husten hörte, fing in ihrer verstörten Muttersorge zu jammern an: »Das geht nicht! Wie kann denn einer ausrucken, der krank ist bis auf den Tod? Das dürfen die unsinnigen Herren nicht verlangen! Ich leid’s nicht! Ich lauf zum Fürsten. Und einen heißen Wein mußt du haben, und Umschläg muß ich dir machen —« Während Frau Marianne so klagte, hörte man Trommeln und Pfeifen, hörte den Taktschritt vieler Spießknechte, ein wirres Hufgetrappel und dumpfes Rädergeknatter.

»Laß mich, Mutter! Mir ist schon lang nimmer so wohl gewesen wie heut! So laß doch, Mutter! Ich muß ins Feld! Und will dem Vater noch einen Gruß —« Die Hände befreiend, sprang Lampert in die Wohnstube.

Frau Marianne hinter ihm her. Immer jammernd, immer in Zorn auf die verbrecherischen Fürsten und auf den Wahnsinn der ganzen Menschheit scheltend. Auch in der Krankenstube ihres armen Ruppert hielt sie mit dieser Klage nicht inne, während Lampert stumm vor dem Vater stand, der zwischen aufgeschichteten Kissen schwach und hinfällig im Bette saß. Der Amtmann sah zum Erbarmen aus. Und während draußen auf dem Marktplatz der dumpfe Kriegslärm rottelte, zog der kranke Mann mit dürrgewordenen Händen die geblümte Decke gegen die Brust hinauf. Auch schien das schwere Leiden sein Erinnerungsvermögen in sonderbare Verwirrung gebracht zu haben. Denn er stöhnte vorwurfsvoll: »Wegen siebzehn Ochsen! Wegen siebzehn Ochsen! Und weil mich die Herren nicht halben tun lassen, wie ich mögen hätt. Da wär alles in Ruh gegangen. Aber nein! So sind die Fürsten! Erst schlagen und nachher denken, wenn —« Er mußte, von einem grimmen Schmerz gepeinigt, ein Weilchen schweigen. Dann seufzte er müde: »Wenn’s zu spät ist.«

In wortlosem Erbarmen betrachtete Lampert den Vater und nahm seine zitternde, von kaltem Schweiß bedeckte Hand. Und sagte rasch: »Jetzt muß ich fort! Leb wohl, Vater! Tu bald gesunden! Und tu dir ein lützel Ruh vergönnen! Klagen hat keinen Sinn.«

Frau Marianne fügte schluchzend bei: »Gott wird schon alles wieder recht machen. Da glaub ich dran.«

Dieser fromme Trost verursachte in der verstörten Christenseele des Herrn Someiner eine schreckhafte Wirkung. In seinem entstellten Gesicht erweiterten sich die angstvollen Augen. Die Hand des Sohnes umklammernd, lispelte er scheu: »Gott — Gott? Ach, Bub, wie hart ist das!«

»Was, Vater?«

»Derzeit ich den Undank der Fürsten kenn — derzeit ich spüren muß an mir selber, wie im Leben die Redlichen gemartert werden —« Herr Someiner verstummte, und sein hilfloser Blick starrte ins Leere.

»Sag’s, Vater!«

»Ich — ich kann —« Der Amtmann ließ das gelbe, magere Gesicht gegen die wollene Decke sinken. »An Gott kann ich nimmer glauben!«

Im ersten, sprachlosen Schreck bekreuzte sich Frau Marianne. Und Lampert, von einer tiefen Erschütterung befallen, sagte ernst: »Vater? Weißt du, was Gott ist?« Der Amtmann hob die verstörten Augen. Und Lamperts rauhe Stimme wurde leis. »Gott ist der Glaube an uns selbst. Wenn wir Freude, Wert und Kraft in unserem Leben spüren, glauben wir auch an den Schöpfer, der uns Wert und frohe Kräfte geschenkt hat. Ich glaube.« Er beugte seine Wange auf die feuchte Stirn des Vaters, streichelte ihm das dünne Haar, wandte sich wortlos ab und ging mit klingendem Eisenschritt durch die Stube hinaus. Frau Marianne lief ihrem Buben nach und hängte sich schluchzend an seinen Hals.

Drunten auf der Straße fuhren die gewaltigen Hauptbüchsen der Salzburger und die mit vielen, zentnerschweren Steinkugeln belasteten Wagen vorüber. Das erschütterte den Grund so heftig, daß es wie ein Erdbeben war. Die Mauern des Someinerschen Hauses zitterten, die Deckenbalken der Wohnstube ächzten, Mörtel bröselte von den Wänden herunter, und im Kasten der alten Standuhr wurde das lange Pendel in seinem ruhigen Schwung gestört. Es klapperte gegen die Holzverschalung und sagte noch ein letztesmal mit seufzender Stimme: »Bau!« Dann schwieg es.

Drunten im Hause polterten die Hufe des Moorle über die Holzdielen des Flurs. In der Wohnstube blieb eine bange Stille. Auch auf dem Marktplatz war es schon wieder ruhig geworden, als Frau Marianne endlich heraufkam. Sie wollte sich auf einen Sessel setzen, weil ihr die Knie zitterten. Aber sie tat es nicht. Denn die ungewohnte Stubenstille fiel ihr auf. Und da entdeckte sie: Die Kastenuhr war stehengeblieben, knapp vor der siebenten Morgenstunde.

Zum erstenmal in ihrem Leben wurde diese helle Frau von dunklen Ahnungen befallen. So sehr hatten die Schrecken des Krieges ihren gesunden Verstand umwirbelt.

Während sie den armen Ruppert pflegte, die versteckten Kostbarkeiten aus den Mauerlöchern herausholte und die gründliche Scheuerung des Hauses überwachte, ging ihr diese ziellose Sorge nimmer aus dem Sinn: »Welches Unheil wird geschehen zu einer siebenten Morgenstund?« Dabei ertappte sie sich auf einem wahrhaft vaterlandsfeindlichen Gedanken. Das fremde Kriegsvolk in Berchtesgaden und ihr Sohn in sicherer Ferne — dieser vergangene Zustand war ihr lieber gewesen als der jetzige, bei dem der heilige Peter mit den Salzburger Hauptbüchsen einem wahrscheinlichen Sieg entgegenrasselte.

Solch einer unheldenhaften Erkenntnis schämte sich Frau Marianne nicht im geringsten. Das wertvollste Lebensgut dieser natürlich gearteten Mutterseele war das Glück und die Sicherheit des Sohnes, den sie geboren hatte. Auch zweifelte sie nicht an Gott wie der geplagte Ruppert. Sie war im Gegenteil der festen Überzeugung, daß der Ewige und Allweise über diese Dinge nicht um ein Härchen anders dachte als die Amtmännin Someiner.

2

Von Staub umwirbelt, mit pludernden Hemdärmeln, die rot gesprenkelt waren, hetzte Malimmes auf dem Ingolstädter Gaul dem zerstörten Hallturm entgegen. Dem Erschöpften drohten die Kräfte zu erlöschen. Manchmal verzog er das Gesicht, weil ihm das verkrustete Blut die Haut spannte. Und manchmal lachte er wie ein Berauschter vor sich hin. Den fremden Bidenhänder hatte er quer vor dem Sattel liegen. Die mächtige Klinge war ein bißchen rot geworden. Bei den letzten Häusern von Berchtesgaden hatte dem Malimmes eine Wache mit vier Spießen den Weg versperren wollen. Dann hatte ihm kein Hindernis mehr den jagenden Ritt gestört. Über die Stillen, die auf der Straße lagen, sauste der Gaul ohne Zuck hinüber. Er scheute auch nicht vor den Brandruinen, nicht vor den Leuten, die bei den qualmenden Haustrümmern stumpf und ruhig auf der Erde saßen.

Von Rauch umkräuselt, von aufgeregten Dohlen und Tauben umflattert, tauchten die Reste des Hallturmes über die Wiesen herauf. In der Torhalle war’s öd und still. Alles Leben fehlte. Und die Toten hatte man, um Platz für den Rückzug der Bayrischen zu schaffen, aus dem Torweg herausgezerrt in den Burghof. Hier und entlang der Mauer, lagen sie in der bratenden. Sonne und mahnten schon fürchterlich an die Düfte des Vergänglichen. Sie waren wie friedsame Schläfer nur mit dem Hemd bekleidet; was sie sonst am Leibe getragen hatten — Kleider, Wehr und Waffen —, alles war verschwunden.

Dem Malimmes, der an den Graus der Schlachtfelder gewöhnt war, rann beim Anblick dieses vom Tode besetzten Burghofes kein Schleier des Grauens über die Augen. Als Kriegsmann erriet er, daß diese Schläfer auf ihre Gräber warten mußten, um den heiligen Peter und seinen Freund Salzburg durch die Pflichten der Pietät einen Tag lang vom Sturm auf den Fuchsenstein und die Feste Plaien abzuhalten. Herr Seipelstorfer, der den Nachmarsch des Feindes durch jeden Behelf verzögern wollte, hatte auch die Zugbrücke zerstören lassen. Der tiefe Wassergraben sperrte den Weg des Malimmes. Ein Faustschlag: »Spring, Rössel!« Und der Ingolstädter, der von Herzog Ludwigs Falkenjagden an kalte Bäder gewöhnt war, klatschte mit mächtigem Satz in das grüne Wasser hinunter. Als das weiße Geschäum zerfloß, war unter dem Wasserspiegel ein wunderlich geformter, heftig arbeitender Riesenfrosch zu sehen. Jetzt tauchte ein triefender Menschenkopf, ein triefendes Tierhaupt, an die Luft, Malimmes schleuderte den Bidenhänder ans Ufer, stieg mit den Füßen auf den Sattel des schwimmenden Gaules, sprang an das Land und half dem schlagenden Pferd aus dem Wasser heraus. Ein Griff nach dem Bidenhänder. Und wieder hinauf und davon durch das weißgraue Aschenfeld des niedergebrannten Waldverhaues.

Das kalte Wasser hatte dem Malimmes die müden Kräfte ein erfrischt und säuberlich alle Blutflecken vom Hemde, vom Gesicht und aus den Haaren fortgewaschen. »Gott sei Lob und Dank! Jetzt wird der Bub nicht erschrecken vor mir.« Er schüttelte sich in der Sonne.

Hinter dem Aschenfeld arbeiteten Kriegsknechte und Schanzbauern an einem neuen Sperrwall, der schon übermannshoch gewachsen war. Und auf dem Fuchsenstein gewahrte Malimmes ein Geblitz von Waffen und die Verschanzungen der drei Geschütze. In seiner Freude hob er den Bidenhänder und tat einen gellenden Schrei. Waren die Kammerbüchsen noch da, so waren auch Jul und Runotter nicht weit.

Viele Stimmen kreischten auf dem Wall. Faustbüchsen und Armbrusten richteten sich gegen den Reiter. Malimmes schrie die Losung von Plaien und schimpfte: »Hammelsköpf! Man schießt doch nit auf die eigenen Leut!«

Der Wall hatte kein Tor und war so steil, daß man den Söldner und seinen Gaul an Seilen hinauflotsen mußte. Und da war auch Herr Martin Grans schon auf dem Wall und brüllte: »Du Schaf, du gottverlorenes!«

»Herr Hauptmann, Ihr seid ein Menschenkenner!«

»Hast du denn meinen Botschaftsweg in die Ramsau nicht verstanden?«

»Wohl, Herr! Aber weil ich ein Schaf bin, hab ich halt auch was Schafmäßiges tun müssen. Sind meine Leut in Sicherheit?«

»Freilich!« Herr Grans wurde heiter. »Dein Herr und sein Vetter sind grad so dumm wie du! Die wären um deinetwegen ins Feuer gesprungen. Denen hab ich Fuß machen müssen.«

Malimmes tat einen tiefen Atemzug.

»Aber du, Mensch? Wo kommst denn du jetzt her? Und so?«

Der Söldner guckte an sich hinunter. »Ich bin gewesen, wo man die Gäns rupft. Und hab gemeint, daß Ihr Kundschaft braucht. Die hab ich geholt. In dritthalb Stunden sind die Salzburger beim Hallturm. Ich schätz dreihundert Roß und fünfhundert Spieß, dazu vier Hauptbüchsen, die einen Zentner schießen. Hauptmann ist der Hochenecher. Den kenn ich vom ungrischen Handel her. Ist ein Scharfer! Aber sein Profos ist ein Schöps. Bei den Salzburgern sind die Gadnischen, die sich gesammelt haben. Und Ingolstädtische müssen dabeisein. Ich hab Gäul gesehen, die den ›Loys‹ mit der Herzogskron als Brand auf dem Hintern haben.«

Herr Grans war ernst geworden. »Teufel! Das ist mehr, als der Seipelstorfer weiß.« Er wollte davongehen, sah den Malimmes an, trat auf ihn zu und rührte mit dem Finger an den bläulichen Strich, den der Söldner rings um den Hals hatte. »Mensch?«

Jetzt lachte Malimmes. Und weil er wußte, daß dem Hauptmann die Geschichten vom ungefährlichen Hanfsamen bekannt waren, sagte er: »Der von heut, das ist der sechste gewesen. Kann auch sein, erst der fünfte. Ich weiß nimmer recht. Aber mein Hals will verdienen. Vergeßt nit auf meinen Botenlohn! Heut bin ich Kirchenmaus geworden. Ich brauch Gewand und eine neue Wehr.«

»Sollst alles haben.«

»Und einen Mann, der mich zu meinem Herren führt.«

Der Hauptmann winkte einen der Knechte herbei. »So erzähl doch, Mensch!«

»Ein andermal, Herr!« Malimmes nahm den Zügel des Ingolstädter Gaules, dessen Fell in der warmen Sonne schon zu trocknen begann. »Heut wird’s mit der Zeit ein lützel knapp.« Er sah über die Schulter gegen die Hallturmer Mauer. »Ich hätt mir in Berchtesgaden gern die Haar stutzen lassen. Aber der Bader ist mir mit der Scher unter die Haut gekommen. Jetzt wart ich lieber bis übermorgen.« Malimmes sah scharf den Hauptmann an und sagte langsam: »In Burghausen gibt’s doch gute Haarstutzer? Nit?«

Herr Grans wollte etwas erwidern, drehte sich aber plötzlich um, klirrte davon und schrie: »Der Seipelstorfer? Wo ist der Seipelstorfer?«

Den Gaul am Zügel führend, ging Malimmes hinter dem Knechte her, der ihn zum Runotter führen sollte. In dem schmalen Waldtal war eine dichte Zeltstadt aus dem Boden gewachsen. Söldner, Schützen und Harnischer lagen neben den Reihen der angepflöckten Gäule bei den Feuerstätten, würfelten um Beutestücke, verzechten das Berchtesgadnische Raubgeld und scherzten mit den Troßweibern. Fast am Ende des Gelägers, bei einer Quelle unter alten Bäumen, stand das große Zelt, das man dem Runotter und den Seinen zugewiesen hatte. Der Falbe, der Schimmel und die zwei erbeuteten Gäule der Knechte waren angepflöckt und zupften den Hasenklee aus dem Moose. Heiner putzte das Sattelzeug. Als er den Malimmes kommen sah, sprang er auf. »Gott sei Lob!« Er rückte vergnügt den Stirnverband, als wär’s ein Hütl. »Der Bub, unser Bauer und das narrische Mensch sind fast verzweifelt vor Angst um dich!«

»Wer noch?« fragte Malimmes.

»Die Traudi. Wirst doch wissen —«

Malimmes sah ein bißchen wunderlich drein. »Die ist auch noch da?« Und während er seinen Gaul anpflöckte, murrte er vor sich hin. »Es ist doch ein Elend mit den Weibsleuten. Haben kann man sie flink. Los wird man sie niemals wieder.« Den Altknecht machte die mangelhafte Bekleidung des Söldners neugierig. »Da ist die Hitz dran schuld. Gebadet hab ich, wider das Schwitzen, weißt. Und da ist mir so pudelwohl geworden, daß ich das ganze Gelumpert beim Wasser hab liegenlassen.« Malimmes lachte über die verdutzten Augen der beiden Knechte, ging auf das Zelt zu und sah in den dämmerigen Raum. »Wo ist denn — — Höi! Wo der Bauer ist, frag ich?«

»Da drunt, wo man Ausschau hat über das Haller Tal. Die meinen doch, du kämst durch den Schwarzenbach von der Ramsau her.«

»Spring, Heiner! Sag dem Bauer, daß ich daheim bin.« Der Bursch rannte davon. Und Malimmes befahl dem Altknecht: »Hol mir den Feldscher! Und schau, daß du einen Krug Wein auftreibst. Einen festen!« Als er allein war, taumelte er auf den Waldboden hin. Eine Weile blieb er liegen, wie leblos. Dann stemmte er sich mühsam wieder auf und trat in das Zelt. Zwischen anderen Waffenstücken hing da ein zierlicher Helm mit einem Reiherbusch. Malimmes strich mit der Hand über den blanken Stahl, als wär’s die Wange eines Kindes. Nun ging er zu seinem neuen Gaul, lockerte ihm die Sattelgurten und tätschelte den schlanken Hals des schönen Tieres. »Bald kriegst was! Erst mußt verschnaufen.«

Zwei Knechte des Herrn Grans erschienen mit einem großen Pack. Sie brachten Wehrzeug, Waffen und Kleider. Alles war, Raubgut. Und Hauptmann Seipelstorfer schickte als Dank für die Kundschaft einen schweren Beutel. Malimmes schmunzelte. »So viel ist der Hänfene nit wert gewesen.« Er wollte sich kleiden. Es war reichliche Auswahl da. Nur das Hemd fehlte. Malimmes kramte im Zwerchsack der Knechte. Umsonst. Die hatten nur das Hemd, das sie am Leibe trugen. Im Bündel der Traudi fand er ein langes, grobleinenes Weiberpfaid. Das zog er an. Und lachte, während er so dastand und sich anguckte. Den feuchten Bausch des eigenen, zerfetzten Hemdes stopfte er zwischen die paar Habseligkeiten des Mädels. Mit allem anderen ging’s flink. Stattlich und doch ein bißchen sonderbar gewandet, wie ein Mischling aus zwei Dritteln Herr und einem Drittel Soldknecht, stand Malimmes vor dem Zelt, als der Feldscher mit seiner Tasche und der Altknecht mit dem Weinkrug kamen. »Gib her!« Malimmes packte den Krug. »Jetzt duck dich, arme Seel! Die Sündflut kommt!« Er soff, daß die zwei anderen zu lachen begannen.

Nun saß er auf einer Baumwurzel und hielt unter dem Lichterspiel der Sonne geduldig den Kopf hin, während der Feldscher die kitzlige Arbeit begann. Ein Hautlappen, den man wegschneiden mußte, flog ins Moos. »So!« sagte Malimmes. »Da kriegen die Mäus was. Der liebe Herrgott teilt’s allweil so aus, daß jedes Schwänzlein Leben zu seiner Notdurft kommt.«

Heiter meinte der Feldscher: »Nit jeder laßt seine Haut so willig wie du!«

»Was liegt an einem Läpplein Haut? Wer gut durch die Welt kommen will, muß sieben Haut haben. Da schält sich bei jedem Elend eine weg von ihm. Die wo nachwachst, muß allweil die bessere sein.« Ohne Zusammenhang mit diesen klugen Worten lachte Malimmes plötzlich wild hinaus. Dann preßte er den Arm an die Stirn und sagte bekümmert: »Sonst vertrag ich nit wenig. Aber heut — die Hitz halt, weißt —« Er atmete schwer. Der Feldscher nähte mit festem Zwirn, den er zuvor in Essig tauchte. Über die Naht kam das Pflaster. Malimmes griff hinauf. »Jetzt mußt mir noch die Haar über das Pflaster kampeln. Ich mag nit merken lassen, daß ich ein Loch hab, wo keins hingehört.« Über den neuen Scheitel, der ihm angebürstet wurde, zog er eine gesteppte Seidenkappe, die er im Pack des Herrn Grans gefunden. Aus dem Säckel holte er den Dank für den Feldscher heraus: »Vergelt’s Gott, Mensch!« Und dem Altknecht befahl er: »Jetzt futter meinen Gaul! Er hat verschnauft.«

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
30 August 2016
Umfang:
700 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain

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