Die Lehren der Zeugen Jehovas

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1942-1977: Die Ära von Nathan Homer Knorr

Mr. Money-Maker

Nathan Homer Knorr wurde am 23. April 1905 in Bethlehem/Pennsylvanien geboren. Mit 16 Jahren, noch während seiner Schulzeit in Allentown, kam er mit den „Ernsten Bibelforschern“ in Berührung und schloss sich deren dortiger Versammlung an. 1923 beendete er seine Schulausbildung. Am 4. Juli desselben Jahres empfing er die „Taufe“ der Bibelforscher und trat am 6. September in die Brooklyner Bethelfamilie, die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft, ein.

Damit war sein Lebensweg vorgezeichnet. Stufe um Stufe arbeitete er sich bis zur Präsidentschaft empor.

Zunächst wirkte er neun Jahre lang in der Versand-Abteilung und Druckerei. Dort entdeckte man sein großes Organisationstalent. 1932 wurde der erst 27jährige Knorr zum Generaldirektor der Druckerei und des Verlags ernannt. 1935 wurde er zum Vizepräsidenten der Watchtower Bible and Tract Society of New York, 1940 zudem zum Vizepräsidenten der Watchtower Bible and Tract Society of Pennsylvania berufen. Nach Rutherfords Tod wählte ihn das Direktorium im Januar 1942 einstimmig zum Präsidenten beider amerikanischer Körperschaften sowie zum Präsidenten der International Bible Students Association in England.

Aus der Präsidentenzeit Knorrs gibt es weniger Spektakuläres zu berichten als aus der Zeit seiner beiden Vorgänger. Galt Russell als Pastor und Rutherford als Richter, so galt Knorr als Geschäftsmann und Organisator der Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft. Er war es, der nach den erfochtenen Siegen Rutherfords sich nun in aller Ruhe dem Ausbau und der Breitenwirkung der Sekte widmen konnte. 35 Jahre lang stand er an ihrer Spitze. Knorr leitete den Wachtturm-Konzern nach den Prinzipien moderner Wirtschaftsunternehmen. Er bemühte sich um neue Absatzmärkte (z. B. Länderorganisationen) und eine Steigerung der Buch- und Zeitschriftenproduktion nach Qualität und Quantität. Hans-Jürgen Twisselmann (1995, S. 167) erzählt eine typische Episode aus dem Leben Knorrs:

„Als er mit dem früheren Leiter des Wiener Zweigbüros, Walter Voigt, über die Frage der Herausgabe eines eigenen Jahrbuches der Zeugen Jehovas für den deutschen Raum verhandelt, zieht er gelassen sein Notizbuch hervor, stellt seinem Gesprächspartner die Frage, wie viele deutschsprachige Zeugen Jehovas insgesamt als Leser infrage kommen, und nach einem Augenblick des Rechnens und Nachdenkens gibt er seine Zustimmung zu dem Projekt mit den Worten kund: ´Well, we can make much money…`(´Gut, wir können viel Geld machen…`). Seither wird Knorr dort liebevoll-ironisch ´Mr. Money-Maker`(´Herr Geldmacher`) genannt. Auch der damalige Zweigaufseher für Belgien und Luxemburg, Maurice Fleury, schildert Knorr als einen in Geldangelegenheiten – auch vor seiner Präsidentschaft – äußerst versierten Fachmann. Fleury über Knorr: Er trägt das Dollarzeichen schon in seiner Brille.“

Nur wenige Marksteine aus Knorrs Präsidentenzeit möchte ich erwähnen. 1943 eröffnete Knorr die Gileadschule in South Lansing/New York. Dort sollten Missionare für die weltweite Ausdehnung der Zeugen Jehovas ausgebildet werden. Um die globale Verbreitung der Sekte zu fördern, setzte sich Knorr auch mit seiner eigenen Person ein. So unternahm er beispielsweise in den Jahren 1947 und 1948 eine Weltreise, die ihn nach Wachtturm-Angaben 76.916 Kilometer um die Erde führte. Dabei besuchte er sämtliche Stationen der Zeugen Jehovas und hielt oftmals Vorträge vor einer großen Zuhörerschaft. Mitte der 50er Jahre war die Sekte so gewachsen, dass die Erde in zehn Zonen eingeteilt werden musste, die jeweils eine Anzahl von Zweigbüros umschlossen. Allein von 1947 bis 1952 war die Zahl der „Königreichsverkündiger“ von 207.552 auf 456.265 angestiegen.

1950 wurde auf dem Kongress „Mehrung der Theokratie“ in New York die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften (die Wachtturm-Bezeichnung für das Neue Testament) in englischer Sprache fertiggestellt und freigegeben. Die auffallendste Besonderheit war, dass an 237 Stellen (meist für das griech. kyrios) der „Gottesname Jehova“ eingesetzt wurde (dazu unten mehr). 1960 lag dann die komplette Bibel als „Neue-Welt-Übersetzung“ auf Englisch vor. Die deutsche Ausgabe erschien im Jahre 1963.

Ein neuer Endzeittermin

Ein besonderes Datum war das Jahr 1966. Damals wurde das Buch Ewiges Leben – in der Freiheit der Söhne Gottes veröffentlicht. In diesem Buch tauchte zum ersten Mal die Jahreszahl 1975 auf – als Zeitpunkt, an welchem die Tausendjahrherrschaft Christi anbrechen sollte. Allerdings war man nach den vorausgegangenen Enttäuschungen vorsichtiger und sprach häufiger von einem Eintreffen dieses Ereignisses „etwa um die Mitte der siebziger Jahre“. Wichtigster Verfechter dieser Datierung war der damalige Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, Frederick W. Franz (Vizepräsident seit Oktober 1945 – und ab 1977 Knorrs Nachfolger; siehe unten). Typisch für die vorsichtigere, aber dennoch spekulative Haltung ist folgendes Ereignis:

„Auf dem Kongress in Baltimore (Maryland) hielt F. W. Franz die Schlussansprache. Er begann mit den Worten: ´Kurz bevor ich das Podium betrat, kam ein junger Mann zu mir und meinte: ´Sag` mal, was hat es eigentlich mit 1975 auf sich?`` Dann sprach Bruder Franz die Fragen an, die aufgekommen waren, nämlich ob der Inhalt des neuen Buches darauf hinausliefe, dass 1975 Harmagedon vorbei wäre und Satan gebunden werde. Er erklärte in etwa: ´Es könnte sein. Aber wir sagen nichts. Bei Gott ist alles möglich. Aber wir sagen nichts. Und keiner von euch sollte etwas Definitives darüber sagen, was zwischen der Gegenwart und 1975 geschehen wird. Doch der wichtige Gedanke bei alldem, liebe Brüder, ist der: Die Zeit ist kurz. Die Zeit läuft ab, darüber besteht kein Zweifel“ (JZ, S. 104).

Dennoch haben sich in dieser Zeit viele Zeugen Jehovas definitiv auf dieses Datum festgelegt. So heißt es an der zitierten Stelle weiter: „Viele Zeugen Jehovas handelten in den Jahren nach 1966 mit dem Geist, der in diesem Rat zum Ausdruck kam. Allerdings wurden noch andere Erklärungen über dieses Thema veröffentlicht, und einige waren wahrscheinlich etwas zu definitiv. Das wurde im Wachtturm vom 15. Juni 1980 (S. 17) zugegeben. Aber Jehovas Zeugen wurden auch ermahnt, sich hauptsächlich darauf zu konzentrieren, den Willen Jehovas zu tun, und sich nicht übermäßig Gedanken über ein Datum oder eine frühzeitige Errettung zu machen“ (JZ, S. 104).

Es fällt auf, dass der Irrtum erst mehrere Jahre nach der wieder einmal nicht eingetroffenen Voraussage zugegeben wurde. Der Mann, der den oben erwähnten Wachtturm-Artikel schrieb, war der Neffe von Frederick W. Franz, Raymond Franz, Mitglied der „Leitenden Körperschaft“ der Zeugen Jehovas, der einige Monate später die Sekte verließ.

In seinem Buch Der Gewissenskonflikt berichtet er über die Blamage von 1975:

„Das Jahr 1975 ging vorüber, genau wie 1881, 1914, 1918, 1920, 1925 und die vierziger Jahre.“ Jahrelang schwieg die „Leitende Körperschaft“ der Wachtturm-Gesellschaft unter ihrem Präsidenten Knorr und dessen Nachfolger F. W. Franz darüber, doch als die Mitgliederzahlen nach dem rasanten Anstieg vor 1975 nun – nach 1975 – immer mehr zurückgingen, sah sie sich 1979 endlich gezwungen, eine Stellungnahme herauszugeben. „Mit 15 gegen 3 Stimmen wurde beschlossen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, in der wenigstens andeutungsweise eingeräumt wird, dass die Organisation für den Irrtum mitverantwortlich ist. Sie erschien im Wachtturm vom 15. Juni 1980. Fast vier Jahre hatte die Organisation gebraucht, um durch ihre ausführenden Organe einzugestehen, dass sie falsch gehandelt und ein volles Jahrzehnt hindurch falsche Erwartungen geweckt hatte. So offen allerdings konnte das in der Verlautbarung nicht gesagt werden, auch wenn es die Wahrheit war. Jeder Entwurf musste für die Körperschaft als Ganzes akzeptabel sein, damit er gedruckt werden konnte. Ich weiß das, denn mir wurde aufgetragen, die Stellungnahme abzufassen“ (Franz 1991, S. 201 ff.).

Doch wir sind weit vorausgeeilt. 1968 wurde das Buch herausgebracht, das in der „missionarischen“ Tätigkeit der Zeugen Jehovas die weiteste Verbreitung erleben sollte: Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt. Schon bis 1974 waren 63 Millionen Exemplare in 81 Sprachen gedruckt. Von der Wachtturm-Gesellschaft wurde es als das am weitesten verbreitete Buch nach der Bibel gepriesen. Das „Wahrheits“-Buch war für neu interessierte Personen gedacht und wurde daher besonders gern an den Haustüren verteilt. Die wesentlichen Lehren der Zeugen Jehovas sind hier in leicht verständlicher Form dargestellt. Wie andere Bücher seit der Präsidentschaft Knorrs ist auch dieses Bändchen anonym erschienen. Das war zu Zeiten Russells und Rutherfords noch nicht der Fall.

Stärkung der Leitenden Körperschaft

Im letzten Stadium der Präsidentschaft Knorrs wurden 1972 und 1975/76 bedeutende organisatorische Reformen durchgeführt – interessanterweise auf Anregung des später ausgeschlossenen Mitglieds der „Leitenden Körperschaft“, Raymond Franz. Knorr hatte Raymond Franz 1965 mit der Konzipierung eines biblischen Nachschlagewerks, einer Art Bibellexikon der Zeugen Jehovas mit dem Titel „Hilfe zum Verständnis der Bibel“ (HVB) beauftragt. Während der mehrjährigen Arbeit an diesem Werk entdeckte Raymond Franz mehr und mehr Abweichungen zwischen Bibel und Wachtturm-Gesellschaft, zunächst organisatorischer Art. Raymond Franz berichtet rückblickend darüber:

„Als ich den Auftrag für die Stichwörter ´älterer Mann` und ´Aufseher` zugeteilt bekam, ergaben die Nachforschungen in der Bibel schon bald ganz klar, daß unser Aufsichtssystem in den Versammlungen nicht dem des 1. Jahrhunderts entsprach. (Bei uns gab es keine Ältestenschaften in den Versammlungen; jede Versammlung hatte nur einen einzigen ´Aufseher`.) Das beunruhigte mich etwas, und ich trug die Erkenntnisse meinem Onkel vor“ (Franz 1991, S. 29).

 

Über seinen Onkel, den Vizepräsidenten Frederick Franz, gelangte Raymonds Entdeckung zu Nathan Homer Knorr, der sich diese nach anfänglichem Zögern zueigen machte und die entsprechenden Reformen veranlasste. Das Geschichtswerk der Zeugen Jehovas berichtet darüber:

„Vom 1. Oktober 1972 an sollten weltweit Änderungen in der Aufsicht über die Versammlungen in Kraft treten. Es würde nicht mehr nur einen Versammlungsdiener oder Aufseher geben. Vielmehr sollten in den Monaten vor dem 1. Oktober 1972 verantwortungsbewusste, reife Männer in jeder Versammlung der Gesellschaft Männer zur Ernennung empfehlen, die als Körperschaft von Ältesten dienen würden… Ein Ältester würde zum Vorsitzenden bestimmt werden, aber alle Ältesten hätten die gleiche Autorität und die gemeinsame Verantwortung, Entscheidungen zu treffen…

Am 4. Dezember 1975 hatte die leitende Körperschaft einstimmig eine der bedeutendsten organisatorischen Änderungen in der neuzeitlichen Geschichte der Zeugen Jehovas gutgeheißen. Ab 1. Januar 1976 war die gesamte Tätigkeit der Watch Tower Society und der Versammlungen der Zeugen Jehovas auf der ganzen Erde der Aufsicht von sechs Komitees der leitenden Körperschaft unterstellt, die sich verschiedener Aufgabenbereiche annahmen. Damit war am 1. Februar 1976 weltweit in allen Zweigbüros der Gesellschaft eine Änderung in Kraft gesetzt worden. Jetzt wurde nicht mehr jedes Zweigbüro von einem einzigen Zweigaufseher beaufsichtigt, sondern es dienten drei oder mehr reife Männer als Zweigkomitee, von denen einer ständiger Koordinator war“ (JZ, S. 106 und 109).

Man könnte sagen, dass das monarchische Führungsprinzip, das noch aus der Zeit Rutherfords übernommen worden war, einem mehr demokratischen Leitungsstil angenähert wurde. Die Macht war nun, auch in der „Leitenden Körperschaft“, auf mehrere Personen verteilt, unter denen der Präsident natürlich nach wie vor großes Gewicht besaß und besitzt. Er leitet die Wachtturm-Gesellschaft nun aber nicht mehr so sehr kraft seines Amtes, sondern stärker durch seine prägende Persönlichkeit.

Nathan Homer Knorr starb am 8. Juni 1977 an einem inoperablen Hirntumor im Alter von 72 Jahren. Zu seinem Nachfolger wurde zwei Wochen später der langjährige Vizepräsident, der 83 Jahre alte Frederick W. Franz gewählt.

1977-1992: Die Ära von Frederick William Franz

Der Ausgestalter der Wachtturm-Lehre

Frederick William Franz leitete die Wachtturm-Gesellschaft von seinem 83. bis 99. Lebensjahr. Doch seine Bedeutung geht weit über diese Epoche hinaus. Bereits zu Knorrs Zeiten galt er als der Denker im Hintergrund, als der Ausgestalter der Wachtturm-Theologie. Viele Artikel im Wachtturm und anderen Schriften stammten aus seiner Feder. Werke wie die „Neue-Welt-Übersetzung“ der Bibel und das Bibellexikon der Zeugen Jehovas gehen maßgeblich auf seine Initiative und Arbeit zurück. Im Gegensatz zu vielen anderen in der Wachtturm-Zentrale, etwa zu Knorr, hatte er das biblische Griechisch an der Universität studiert. Sein Neffe Raymond Franz schrieb über ihn während seiner Präsidentenzeit:

„Fred Franz, der gegenwärtige Präsident, ist wie auch die früheren Präsidenten eine Führerpersönlichkeit, und sein persönlicher Einfluss ist sehr groß, auch wenn das Präsidentenamt durch die Dezentralisierung der Macht in den Jahren 1975-76 buchstäblich aller seiner Befugnisse beraubt wurde… Das gesamte Lehrgebäude, das nach dem Tode Richter Rutherfords im Jahre 1942 aufgebaut wurde, ist praktisch sein Werk… Keines der… Mitglieder der leitenden Körperschaft könnte neue Bibelauslegungen so markant in Worte fassen und durch verzwickte Argumentationsketten untermauern, wie Fred Franz es getan hat“ (Franz 1991, S. 328).

Frederick William Franz war am 12. September 1893 in Covington/Kentucky geboren worden. Als er sechs Jahre alt war, zogen seine Eltern, die zur presbyterianischen Kirche gehörten, nach Cincinnati um. Dort beendete er 1911 die High-School und studierte anschließend an der Universität Cincinnati Geisteswissenschaften, unter anderem Bibelgriechisch, weil er presbyterianischer Prediger werden wollte. Seine Leistungen waren so gut, dass er für ein Rhodes-Stipendium ausgewählt wurde, das ihm den Weg an die berühmte englische Universität Oxford ermöglichte. Aber Franz beschritt diesen Weg nicht…

Während des Studiums – im Jahre 1913 – hatte ihm sein Bruder Albert nämlich eine Broschüre des „Ernsten Bibelforschers“ John Edgar mit dem Titel Wo sind die Toten? zu lesen gegeben, die ihn begeisterte. Danach beschäftigte er sich mit Russells „Schriftstudien“. Diese Lektüre sollte seinen Weg total verändern. Franz trat aus der Presbyterianischen Kirche aus und schloss sich den „Ernsten Bibelforschern“ an. Am 30.11.1913 empfing er deren „Taufe“. Im Mai 1914 verließ er die Universität und wurde Kolporteur der Wachtturm-Organisation. Dieser Organisation ist er 80 Jahre lang (!) auf sämtlichen Stufen der Macht treu geblieben. 1920 kam er in die Zentrale der Macht nach Brooklyn und arbeitete lange Zeit in deren Hauptbüro mit. 1945 wurde er zum Vizepräsidenten, 1977 dann zum Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt.

Frederick Franz contra Raymond Franz

Aus der Präsidentenzeit Franz` gibt es wenig Außergewöhnliches zu berichten. Die Organisation wuchs weiter. Zwischen 1977 und 1992 wurden über 29.000 neue Versammlungen weltweit gegründet. Die Mitgliederzahl erhöhte sich in diesem Zeitraum auf ca. 4,5 Millionen „Königreichsverkündiger“. Ein Rückschlag erfolgte lediglich um 1980 herum, als sich – unter Leitung ausgerechnet seines schon mehrmals erwähnten Neffen Raymond Franz – eine Oppositionsgruppe im New Yorker Bethel und darüber hinaus bildete, die viele verunsicherte. Etwa 350 Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft aus den unterschiedlichen Ebenen der Macht wurden damals aus dem Bethel entfernt oder erklärten freiwillig ihr Ausscheiden. An vielen Orten kam es zu Unruhe und Spaltungen. In mehreren Wachtturm-Artikeln musste damals beruhigend und besänftigend auf die „Königreichsverkündiger“ eingewirkt werden. Im Geschichtswerk der Zeugen Jehovas kann diese Bedrohung nicht verschwiegen werden:

„In den Jahren bis 1980 versuchten einige, die sich über Jahre an der Tätigkeit der Zeugen Jehovas beteiligt und zum Teil in führenden Stellungen in der Organisation gedient hatten, auf verschiedene Weise, Spaltungen zu verursachen und dem Werk der Zeugen Jehovas Widerstand zu leisten. Damit das Volk Jehovas gegen den Einfluss Abtrünniger gewappnet wäre, brachte Der Wachtturm Artikel wie ´Bleibe fest im Glauben` (1. November 1980), `Das unauffällige Einführen verderblicher Sekten` (15. Dezember 1983) und `Widerstehe der Abtrünnigkeit, halte an der Wahrheit fest!` (1. Juli 1983)“ (JZ, S. 111).

Dabei hatten die „Abtrünnigen“ nichts anderes entdeckt, als dass die Lehre und Organisation der Wachtturm-Gesellschaft in wesentlichen Punkten nicht mit der biblischen Botschaft übereinstimmt. Eine Diskussion über solche Erkenntnisse war aber nicht möglich, sondern man bestrafte die Abtrünnigen mit dem „Gemeinschaftsentzug“. Raymond Franz hat in seinem Buch „Der Gewissenskonflikt“ ausführlich über die Auseinandersetzungen in den siebziger und achtziger Jahren berichtet. Er resümiert:

„Ende 1979 war ich am Scheideweg angelangt. Fast 40 Jahre lang hatte ich hauptberuflich im Dienst der Organisation gestanden, sie von ganz unten bis ganz oben durchlaufen. Die letzten 15 Jahre war ich in der Weltzentrale tätig gewesen, darunter neun Jahre als Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas weltweit. Diese letzten neun Jahre waren die entscheidenden. In dieser Zeit holte die Realität meine Illusionen ein… Langsam wurde mir klar, dass ich mein Leben großenteils auf nichts anderes gegründet hatte als genau dies, einen Mythos… Alle Veränderung in mir erwuchs aus der Einsicht, dass ich die Bibel aus einer total sektiererischen Sicht heraus gesehen hatte“ (Franz 1991, S. 215).

Welches waren welche die falschen Lehren, welche die „Leitende Körperschaft“ unter Führung seines Onkels Frederick Franz ihm zur Last legte? Es handelt sich um folgende Punkte:

„1. Jehova hat heute keine Organisation auf Erden, und die leitende Körperschaft wird nicht von Jehova geleitet.

2. Jeder, der seit den Tagen Christi (33 u. Z.) getauft wurde und bis zum Ende noch getauft werden wird, soll auch himmlische Hoffnung haben …

3. Die Vorkehrung der Klasse eines ´treuen und verständigen Sklaven`, bestehend aus den Gesalbten und der leitenden Körperschaft aus ihren Reihen, zur Leitung von Jehovas Volk hat keine biblische Grundlage…

4. Es gibt heute keine zwei Klassen, eine himmlische und eine irdische…

5. Die in Offb. 7:14 und 14:1 genannte Zahl von 144.000 ist symbolisch zu verstehen und darf nicht buchstäblich genommen werden…

6. Wir leben heute nicht in einer besonderen Zeit der ´letzten Tage`, sondern die ´letzten Tage` begannen vor 1900 Jahren im Jahre 33 u. Z. …

7. Bei 1914 handelt es sich nicht um ein gesichertes Datum. Jesus Christus wurde damals nicht inthronisiert, sondern herrscht seit 33 u. Z. in seinem Königreich. Die Gegenwart Christi (parousia) hat noch nicht begonnen, sondern liegt in der Zukunft…“ (Franz 1991, S. 254).

Auf viele der hier angesprochenen Lehren werde ich im weiteren Verlauf der Darstellung ausführlicher eingehen.

Am 22. Dezember 1992 starb Frederick William Franz hochbetagt im Alter von 99 Jahren. Er hatte sich von seinem Neffen nicht korrigieren lassen. Im Geschichtswerk der Zeugen Jehovas heißt es über ihn:

„Sein Ruf als bedeutender Bibelgelehrter und seine unermüdliche Arbeit zur Förderung der Königreichsinteressen haben ihm das Vertrauen und die loyale Unterstützung der Zeugen Jehovas überall eingetragen“ (JZ, S. 109).

1992-2000: Die Ära von Milton G. Henschel

Zum neuen Präsidenten wurde nach Franz` Tod Milton G. Henschel gewählt. Henschel gehörte vorher schon mehrere Jahrzehnte lang zum Vorstand der Wachtturm-Gesellschaft und hatte bereits Knorr als dessen Sekretär auf Dienstreisen begleitet, sich jedoch zeitweise mit ihm überworfen. Mit Henschel wurde erstmals ein Mann zum Präsidenten berufen, der (zwangsläufig) nach 1914 geboren ist.

Milton G. Henschel kam am 9. August 1920 in Ponoma/New Jersey zur Welt. Seine Eltern und Großeltern gehörten den „Ernsten Bibelforschern“ an, so dass er in deren Tradition „hineingeboren“ wurde. 1934 wurde er „getauft“ und trat bald darauf in das Brooklyner Bethel ein. Dort übernahm er – außer der zeitweiligen Tätigkeit als Knorrs Sekretär – Aufgaben in der Verwaltung sowie im Dienst- und Veröffentlichungs-Komitee. Bevor er 1992 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er die Oberaufsicht über die zahlreichen Druckereien der Wachtturm-Gesellschaft inne.

In die Präsidentschaft Henschels fällt die Notwendigkeit gravierender Veränderungen, insbesondere im Blick auf das Datum 1914 und das Aussterben der damals lebenden Generation. Diese Änderung, die im Jahre 1995 erfolgte (vgl. den Teil „Letzte Dinge“), dürfte Henschel, der bei Abstimmungen in der „Leitenden Körperschaft“ immer als Bewahrer des Status quo galt (vgl. Franz 1991, S. 105), nicht leicht gefallen sein, aber sie war unausweichlich.