Die Lehren der Zeugen Jehovas

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Drittens beweist es, dass etliche Zeit vor dem Ablauf von 1914 n. Chr. das letzte Glied der göttlich anerkannten Kirche (Herauswahl) Christi, das ´königliche Priestertum`, ´der Leib Christi`, mit dem Haupte verherrlicht sein wird…“

Weitere Ereignisse, die nach Russells Ansicht 1914 eintreffen sollten, sind die Sammlung und geistliche Erneuerung Israels sowie der Höhepunkt der großen „Zeit der Drangsal“, die allerdings „an jenem Zeitpunkt enden wird; und dann werden die Menschen gelernt haben, stille zu sein und zu erkennen, dass Jehova Gott ist, und dass er auf Erden hoch erhöht werden wird“.

Was ist davon im Jahre 1914 eingetroffen? Nichts – außer einer „Drangsal“ in Gestalt des Ersten Weltkrieges, die aber erst vier Jahre später endete und auch nicht mit der „großen Drangsal“ oder „Trübsal“ nach Matthäus 24,21 gleichgesetzt werden kann, denn nach dem Ersten Weltkrieg lief die Weltgeschichte wie gewohnt weiter. Die Sammlung der Juden hat Russell zwar vorausgeahnt (es gab ja seit längerem eine zionistische Bewegung, die darauf hin arbeitete und der Russell nahestand), aber sie traf keineswegs 1914 ein, sondern in den Jahren und Jahrzehnten darauf. Die geistliche Erneuerung Israels, seine Annahme Jesu als Messias, steht zum größten Teil auch heute noch aus. Was sich aber auf keinen Fall verwirklicht hat und doch von Russell und seinen Anhängern so glühend erwartet worden war, ist die Beendigung der Herrschaft der irdischen Nationen und die Aufrichtung des Reiches Jehovas auf Erden an deren Stelle. Von Russells Nachfolgern wurde diese Erwartung deshalb auf die Zeit nach 1914 verschoben, und das Jahr 1914 gilt nun nicht als Ende (wie bei Russell), sondern als Anfang der Erntezeit.

Auffällig ist, dass mit dem Näherrücken des Jahres 1914 Russell selber mit seinen Voraussagen immer vorsichtiger wurde. So beteuerte er im Wachtturm vom 1. Oktober 1907:

„Wir sagen darauf, wie schon so viele Male vorher in den Schriftstudien und im Wachtturm und mündlich und brieflich, dass wir für unsere Berechnungen nie unfehlbare Genauigkeit beansprucht haben; wir haben niemals den Anspruch erhoben, es handle sich dabei um Wissen, oder es sei auf unbestreitbare Beweise, Tatsachen, Erkenntnisse gegründet. Unsere These lautete stets, dass sie auf Glauben gegründet sind.“

Aber dann heißt es im gleichen Artikel, „dass aus dem Glauben an die Chronologie dadurch beinahe ein Wissen um ihre Richtigkeit wird. Verändert man nur eine einzige Jahreszahl, so kommt damit das ganze System der wunderschönen Parallelen aus dem Tritt“.

Was geschah, nachdem das Jahr 1914 ohne Erfüllung der vorausgesagten Ereignisse vorbeigegangen war? In einem 1916 verfassten Vorwort zu seinem Buch „The Time Is At Hand“ gestand Russell seinen Irrtum ein, versuchte ihn aber gleichzeitig zu beschönigen:

„Der Autor gibt zu, dass er in diesem Buch den Gedanken nahelegt, dass des Herrn Heilige erwarten dürfen, am Ende der Zeiten der Nationen bei ihm zu sein in Herrlichkeit. Dies war ein Fehler, den zu machen sehr natürlich war, doch der Herr überwaltete ihn zum Segen seines Volkes. Der Gedanke, dass die Kirche vor Oktober 1914 in Herrlichkeit vereint sein würde, übte zweifellos einen anspornenden und heiligenden Einfluss auf Tausende aus, von denen demgemäß alle den Herrn preisen können, selbst um des Fehlers willen“ (deutsche Ausgabe von 1926, S. 7).

Hier versuchte Russell, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Falschprophezeiungen als „Segen“ hinzustellen. Doch handelte es sich überhaupt um Falsch-Prophezeiungen oder nur um unverbindliche Meinungsäußerungen Russells? Franz Stuhlhofer (1994, S. 83 ff.) nennt drei Kriterien für einen prophetischen Anspruch: 1. die Berufung auf Gott (und nicht auf die eigene Meinung) als Quelle der Voraussagen; 2. die Behauptung, etwas Sicheres oder doch zumindest sehr Wahrscheinliches voraussagen zu können; 3. die öffentliche Bekanntmachung der Voraussagen. Wie Stuhlhofer durch eine detaillierte Quellenanalyse nachgewiesen hat, treffen alle drei Kriterien auf Russell (und seine Nachfolger) zu, auch wenn – meist im Nachhinein, d.h. nach dem Nichteintreffen der Voraussagen – die Wachtturm-Gesellschaft auf unterschiedliche Weise versucht hat, den prophetischen Anspruch abzumildern.

So wird nach einer langen Reihe enttäuschter Erwartungen in den 1985 herausgegebenen „Unterredungen anhand der Schriften“ gesagt: „Jehovas Zeugen behaupten nicht, inspirierte Propheten zu sein. Sie haben Fehler gemacht.“. Doch dann wird dieses Zugeständnis gleich wieder eingeschränkt: „Änderungen des Standpunktes in Bezug auf bestimmte Angelegenheiten sind verhältnismäßig geringfügig gewesen, gemessen an den wichtigen biblischen Wahrheiten, die Jehovas Zeugen erkannt und veröffentlicht haben“ (S. 149).

Die Bibel nennt einen eindeutigen Maßstab, um einen falschen Propheten zu erkennen: „Wenn der Prophet redet in dem Namen des Herrn und es wird nichts daraus und es tritt nicht ein, dann ist das ein Wort, das der Herr nicht geredet hat“ (5. Mose 18, 22). Bei Russells Voraussagen handelt es sich ganz offensichtlich um Falschprophetie – und dennoch hielten nach 1914 viele an seinen Lehren fest oder deuteten einzelne Punkte um. So wird von den heutigen Zeugen Jehovas die Ansicht vertreten, Christus habe 1914 den Satan aus dem Himmel geworfen und dadurch auf Erden den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Aus einer Prophezeiung des Heils, nämlich der Aufrichtung des Reiches Jehovas auf Erden, wurde eine Prophezeiung größten Unheils gemacht und diese damit in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Aussage, welche in einer späteren Schrift der Zeugen Jehovas über falsche Propheten getroffen wurde, findet letztlich in Russell – und nicht nur in diesem – ihre frappierendeste Erfüllung. In dem Buch Das Paradies für die Menschheit durch die Theokratie wiederhergestellt lesen wir auf Seite 355:

„Jehova, der Gott der wahren Propheten, wird alle falschen Propheten in Schande geraten lassen, entweder dadurch, dass er die falsche Voraussage solcher Propheten, die sich dieses Amt selbst anmaßen, nicht erfüllen lässt oder indem er seine eigenen Prophezeiungen auf eine Weise verwirklicht, die zu derjenigen der falschen Propheten im Gegensatz steht. Falsche Propheten werden den Grund für ihre Schande zu verbergen suchen, indem sie verleugnen, wer sie wirklich sind.“

Die Wachtturm-Gesellschaft

Doch wir sind weit vorausgeeilt. Kehren wir in das Jahr 1879 zurück, so finden wir dort drei bedeutende Ereignisse im Leben Russells: den Rückzug von N. H. Barbour, die Hochzeit mit Maria Frances Ackley und die Herausgabe der ersten Nummer der Zeitschrift „Zions Watch Tower and Herald of Christ`s Presence“ („Zions Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“).

Die Gründe für die Trennung von Barbour wurden bereits genannt. Russell zog sich mit seinem beträchtlichen Vermögen von Barbour zurück, der den „Herald“ bis 1903 – drei Jahre vor seinem Tod – weiter edierte. Der Titel der von Russell kurz darauf selbst herausgegebenen Zeitschrift Zions Wachtturm (die erste Ausgabe erschien am 1. Juli 1879) weist auf die glühende Begeisterung für die zionistische Bewegung hin, die von seinem Nachfolger Rutherford nicht mehr geteilt wurde und heute ganz aus dem Blickfeld der Zeugen Jehovas verschwunden ist. Die Bezeichnung „Wachtturm“ ist Habakuk 2, 1 nachempfunden, wo es heißt: „„Hier stehe ich auf meiner Warte und stelle mich auf meinen Turm und schaue und sehe zu, was er mir sagen und antworten werde auf das, was ich ihm vorgehalten habe.“

Die zunächst monatlich, seit 1892 vierzehntäglich erscheinende Zeitschrift wurde am Anfang in einer Auflage von sechstausend Exemplaren gedruckt. Heute (1996) liegt die Auflage, wie schon erwähnt, bei ca. 19 Millionen. Der Name hat mehrmals gewechselt: Zunächst hieß das Blatt „Zions Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“, ab 1909 nur noch „Der Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“. Im Jahr 1939 „hob man die Tatsache, dass Christus bereits als König im Himmel regierte, stärker hervor“ (JZ, S. 724). Ab dem 1. Januar dieses Jahres nannte man die Zeitschrift daher „Der Wachtturm und Verkündiger des Königreiches Christi“. Am 1. März 1939 schließlich erhielt sie den noch heute gültigen Titel „Der Wachtturm verkündigt Gottes Königreich“.

Im Zusammenhang mit der Herausgabe dieser Zeitschrift ab 1879 entstanden die ersten Gemeinden. Es waren Zusammenschlüsse von Wachtturm-Lesern an den einzelnen Orten, die nach kongregationalistischem Vorbild lose miteinander verbunden waren. Eine straffe zentralistische Leitung wie bei der heutigen Wachtturm-Gesellschaft bestand in der Anfangszeit noch nicht.

Russell freilich galt als der geistliche Leiter und verehrte Prophet der aufkeimenden neuen Bewegung. Die ersten Gruppen nannten sich zunächst „Klassen“ oder „Ekklesias“ (griech. „Gemeinden“), später dann „Versammlungen“.

1881 nun wurde in Pittsburgh die Zions Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania („Zions Wachtturm Bibel-und Traktat-Gesellschaft von Pennsylvanien“) gegründet. Im Dezember 1884 wurde sie behördlich registriert. Dieses Datum wird von verschiedenen Autoren (z. B. Hoekema 1972, S. 11) als offizieller Beginn der Bewegung der (späteren) Zeugen Jehovas gewertet. Die Wachtturm-Gesellschaft war eine Aktiengesellschaft, eine Geschäftsfirma, in der jeder Mitglied werden konnte, der sich Anteilscheine im Wert von je 10 Dollar erwarb. Russell war ihr Präsident auf Lebenszeit, seine Frau Sekretärin und Schatzmeisterin. Neben und unter ihnen fungierten ferner sieben leitende Direktoren. Diese Gesellschaft druckte eine Fülle von Traktaten, Flugschriften und Büchern, die überwiegend von der Hand Russells stammten. Beiträge für den „Wachtturm“ schrieben außerdem in der Anfangszeit A. D. Jones, J. H. Paton, H. B. Rice, W. I. Mann, Russells Frau und andere. Ganz im Stil eines Geschäftsunternehmens wurden Kolporteure angestellt, welche die Schriften unter der Bevölkerung vertrieben. Der Haus-zu-Haus-Dienst der einzelnen Anhänger, wie wir ihn heute kennen, war damals jedoch noch nicht in seiner als geradezu heilsnotwendig angesehenen und verpflichtenden Form vorhanden.

 

Der Charakter einer Geschäftsfirma wurde von Russell offiziell zugegeben. So stellte er in seinen „Schriftstudien“ jeweils im Anhang seine Gesellschaft mit folgenden Worten vor: „Wacht-Turm Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Das ist der Name einer Geschäftsfirma, die sich mit der Herausgabe von wichtigen religiösen Büchern und Zeitschriften und anderen nützlichen Hilfsmitteln zum Bibelstudium befasst“ (vgl. Twisselmann 1995, S. 16).

Es sollte bis zum Jahr 1944 dauern, dass das Aktienwesen abgeschafft und als unvereinbar mit der „theokratischen Ordnung“ bezeichnet wurde (vgl. ebd., S. 21 f.). Dennoch erwirtschaftet die Wachtturm-Gesellschaft weiterhin hohe Gewinne, die freilich – soweit erkennbar – alle dem weiteren Aufbau der Organisation zugute kommen. Über die heutige finanzielle Struktur des „Wirtschaftsunternehmens Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft“ (WTG) schreibt Klaus-Dieter Pape:

„Die Einkünfte kommen aus Spenden, aber in viel größerem Umfang aus den Subskriptionsrechten, die die WTG-Inc. von den einzelnen Länderorganisationen verlangt. Die Beträge für diese Rechte sind aber in Wirklichkeit der Gewinn, den die einzelnen Länder aus den Buchverkäufen erzielen und dann an das Hauptbüro in New York überweisen … Bei den Länderorganisationen ist zu unterscheiden, ob sie eine Corporation nach amerikanischem Recht sind, wie der Länderzweig in der Schweiz, oder ein gemeinnütziger Verein, wie in Deutschland … Selbst ein gemeinnütziger Verein kann z. B. über Spenden oder wirtschaftliche Aktivitäten, wie Buch- oder Zeitschriftenverkauf Gewinn machen. Das ist erlaubt. Sie müssen nur dem Zweck der Satzung entsprechen und demgemäß verwendet werden“ (Informationen Nr. 2 der „Christlichen Dienste“, ACV, Mai 1994, S. 2 f.).

Doch zurück zu Russell. Sein Hauptwerk waren die unter der Bezeichnung Schriftstudien(bis 1904: „Millennial Dawn“ – „Millennium-Tagesanbruch“) bekanntgewordenen sechs Bücher mit den programmatischen Titeln: „Der (göttliche) Plan der Zeitalter“ (1886), „Die Zeit ist herbeigekommen“ (1889), „Dein Königreich komme!“ (1890), „Der Tag der Rache“ (später: „Der Krieg von Harmagedon“) (1897), „Die Versöhnung von Gott und dem Menschen“ (1899), „Die neue Schöpfung“ (1904). Der siebte Band „Das vollendete Geheimnis“, der 1917 posthum erschien, stammt in seiner vorliegenden Form zum großen Teil nicht von Russell (dazu unten mehr). Die sechs ersten Bände erreichten allein bis zum Todesjahr Russells, 1916, eine Auflage von zusammen ungefähr 16 Millionen Exemplaren, zumindest nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft.

Um die Jahrhundertwende war die Zahl der Anhänger Russells bei etwa 2. 500 angekommen. Heute (2019) gibt es weltweit ca. 8,5 Millionen Zeugen Jehovas. In Deutschland fassten Russells Anhänger seit 1903 Fuß, als der erste „Pilgrim“, Otto Koetitz, von Wuppertal-Elberfeld aus mit seiner Missionstätigkeit begann. Die Zahl der in Deutschland lebenden Zeugen Jehovas beträgt heute über 170.000. Russells Botschaft hat also, wenn auch in manchen Punkten wesentlich verändert, eine enorme Ausbreitung erfahren.

Streitigkeiten und Skandale

Diesem äußeren Erfolg stehen die Schattenseiten in seinem Leben gegenüber. Wir wenden uns nun den Streitigkeiten mit ehemaligen Anhängern, mit seiner Frau und seinen Gegnern zu.

Bereits in den Jahren nach 1892 gab es Auseinandersetzungen mit vier führenden Mitgliedern der Wachtturm-Gesellschaft (E. Bryan, S. D. Rogers, J. B. Adamson und O. v. Zech), die an Lehrpunkten Russells Kritik übten und ihm vorwarfen, er habe zuviel Einfluss. Dieser antwortete mit der heftigen Broschüre Aufdeckung einer Verschwörung (1894).

1911 wandten sich der Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, J. H. Giesey, sein Privatsekretär A. E. Williamson und der Zweigstellenleiter E. C. Hennings aus ähnlichen Gründen gegen ihn. Sie kritisierten seinen dogmatisch-autoritären Führungsstil und behaupteten, er habe „Schwestern gestreichelt“. Russell reagierte maßlos, indem er ihre Abspaltung von ihm mit der Abspaltung von Christus gleichsetzte:

„Nebeneinander, in denselben Gemeinschaften mit den demütigen, gläubigen, geweihten Heiligen – in denselben kleinen Versammlungen zusammen mit denen, welche aus der Knechtschaft Babylons entflohen sind, in denselben Haushaltungen und oft an demselben Tisch des Herrn ist eine Klasse von Personen entwickelt worden, welche eigenliebig (selbstsüchtig) sind, habsüchtig (nach Ehre und Ansehen und Ruhm bei Menschen), prahlerisch … hochmütig … Da sie sich nicht dem Haupt des Leibes , Christo Jesu, unterwerfen, streben sie danach, selbst das Haupt neuer Parteien zu werden“ („Wachtturm“ 1911, S. 42 ff.).

Hinzu kamen die peinlichen Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Ehefrau seit der Mitte der 90er Jahre sowie mit seinen kirchlichen Gegnern. Maria Frances Russell, geb. Ackley, fühlte sich – wie ihr Mann – als eine prophetische Persönlichkeit und ihm ebenbürtig. Sie verlangte breites Mitspracherecht und Mitautorschaft bei der Gestaltung des Wachtturms. 1896 entzog Charles Taze Russell ihr die Mitherausgeberschaft. Daraufhin verließ sie ihn im Jahre 1897. Sechs Jahre lebten sie getrennt, bis Maria 1903 die Scheidungsklage einreichte und es 1906 nach langwierigen Verhandlungen und großem Aufsehen in der Öffentlichkeit zur Scheidung kam (laut Hellmund, o S.; und Hutten 1982, S. 82). Nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft hingegen lautete das „1908“ verkündete Urteil „nicht auf Ehescheidung“, sondern „auf Trennung von Tisch und Bett sowie auf Zahlung von Unterhalt“ (JZ, S. 645). Russells Ehe war jedenfalls total gescheitert. Seine Frau äußerte über ihn unter anderem, er sei nicht nur der „gute Knecht“ nach Matthäus 24, 45-51, als der er von seinen Anhängern bezeichnet wurde, sondern auch der unnütze Knecht – und sie müsse deshalb seine Stelle einnehmen. Sie warf ihm „Egoismus, Herrschsucht und ein unsauberes Verhalten im Umgang mit anderen Frauen“ vor (vgl. Stroup 1945, S. 9 ff.; Metzger 1953, S. 65 f.; Hutten 1982, S. 82).

Auch mit der „Geistlichkeit“ oder den Religionisten, wie Russell die Vertreter der Kirchen abfällig nannte, führte er viele Auseinandersetzungen. Nachdem er sich anfangs mit seiner Kirchenkritik noch zurückgehalten hatte und daher sogar in manchen Kirchen predigen durfte, änderte sich dies zunehmend in den achtziger Jahren, als er einen schärferen Ton anschlug. 1881 verkündete er, dass die nominelle Kirche von dem unsichtbar gegenwärtigen Christus 1878 verworfen worden sei. Nun fühlte er sich berufen, die wahren Anhänger Jehovas aus den Kirchen herauszuführen. Diese Angriffe blieben nicht ohne Antwort. Insbesondere sein selbstangemaßter Status als „Pastor“ wurde kritisch hinterfragt, so etwa von dem Baptistenpastor J. J. Ross.

1912 hatte Ross eine Schrift mit dem herausfordernden Titel Einige Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell veröffentlicht, die zu einem Gerichtsprozess Anlass gab. Ross kennzeichnet darin Russells System als „unvernünftig, unwissenschaftlich, unbiblisch, antichristlich und eine bedauernswerte Verkehrung des Evangeliums von Gottes geliebtem Sohn“ (S. 7). Ferner warf er Russell im Blick auf seine selbstangemaßte Position vor: „„Er hat niemals eine höhere Schule besucht, weiß vergleichsweise nichts über Philosophie, systematische oder historische Theologie und ist ein totaler Ignorant hinsichtlich der alten Sprachen“ (S. 3 f.).

1913 fand in Ontario der Prozess zwischen Ross und Russell statt, den Russell verlor. Nach diesem Prozess schrieb Ross noch eine Schrift mit dem Titel:Einige Tatsachen und noch mehr Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell. Darin berichtet Ross über Einzelheiten dieses Prozesses, die ein denkbar schlechtes Licht auf Russells Charakter werfen. So hat Russell nachweislich Falschaussagen hinsichtlich seiner Ordination und Sprachkenntnisse gemacht.

Beispielsweise fragte ihn Rechtsanwalt Staunton: „Kennen Sie das griechische Alphabet?“ Russell antwortete: „Oh ja.“ Als Staunton ihn jedoch aufforderte, einige griechische Buchstaben vorzulesen, musste er zugeben, mit der griechischen Sprache doch nicht vertraut zu sein. Ähnlich lief ein Kreuzverhör in Bezug auf Russells angebliche Ordination ab. Nachdem er zunächst unter Eid versucht hatte, seine Ordination zu behaupten, musste er schließlich zugeben, „niemals von einem Bischof, Geistlichen, Presbyterium, Konzil oder einer entsprechenden Körperschaft ordiniert“ worden zu sein.

Russells Selbstverständnis und Werk

Obwohl Russells Skandale in der Öffentlichkeit nicht mehr zu verbergen waren, nahm trotzdem seine Anhängerschaft ständig zu, angefeuert von dem immer näher rückenden magischen Termin 1914. So konnte man 1909 die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft vergrößern und nach Brooklyn/New York verlegen, wo sie sich noch heute befindet. Russell hat in den Jahren vor 1914 seine Vortrags- und Reisetätigkeit ständig gesteigert. Es wird behauptet, er sei in seinem Leben mehr als 1,6 Millionen Kilometer gereist, habe ca. 30.000 Predigten gehalten und viele davon Woche für Woche an ungefähr 3.000 Zeitungen in Amerika, Kanada und Europa geschickt, wo sie – allerdings oft als Annonce – dann zum Teil auch veröffentlicht wurden (vgl. Jehovah`s Witnesses in the Divine Purpose, 1959, S. 50). An anderer Stelle heißt es, er habe „Bücher geschrieben, die insgesamt über 50.000 Seiten ausmachten“ und „oft 1.000 Briefe im Monat diktiert“ (Jahrbuch 1977, S. 77).

Dass Russell ein sehr engagierter und zu seiner Zeit weithin bekannter Mann war, sei unbestritten, doch dürften derartige Zahlenangaben eher legendarischen Wert besitzen. Franz Stuhlhofer (1994, S. 46 ff.) hat beispielsweise die Seitenzahlen sämtlicher von Russell verfassten Bücher und Artikel addiert und ist zum Ergebnis gelangt, „dass die Behauptung von Russells 50.000 Buchseiten um ein Vielfaches übertreibt“ (ebd., S. 51; vgl. auch die Kritik bei Martin/Klann 1985, S. 15 ff.).

Einen großen Bekanntheitsgrad sicherte der Bewegung das große Photodrama der Schöpfung, das 1912 konzipiert und im Januar 1914 in New York uraufgeführt wurde. Neueste technische Möglichkeiten, eine Kombination von Filmen und Lichtbildern, die man mit Musik- und Sprechplatten synchronisierte, kamen in zahlreichen Städten der USA zum Einsatz. Bis Ende 1914 sollen über 9 Millionen Menschen dieses „Photodrama der Schöpfung“ gesehen haben. In ihm wurde der gesamte biblische Heilsplan, wie Russell ihn verstand und erklärte, in einer insgesamt achtstündigen Vorführung dargeboten. Es wurden Lichtbilder vorgeführt vom Urnebel bis zur Schlacht von Harmagedon und dem Ende des Tausendjährigen Reiches.

Russell äußerte über sein Hauptwerk, die sechsbändigen Schriftstudien, sie seien unerlässlich zum Verständnis der Heiligen Schrift. Wenn jemand die „Schriftstudien“, nachdem er sie zehn Jahre lang gelesen hat und mit ihnen vertraut geworden ist, weglegt und ignoriert und nur zur Bibel greift, „so wird er – das zeigt unsere Erfahrung -, auch wenn er die Bibel zehn Jahre lang verstanden hätte, binnen zwei Jahren in die Finsternis gehen. Wenn er andererseits nur die Schriftstudien mit ihren Bibelzitaten gelesen hat und keine Seite der Bibel als solche, so würde er am Ende von zwei Jahren noch im Lichte sein, da er das Licht der Schrift besäße“ („Wachtturm“ vom Dezember 1910, S. 218 f.). Russell hat sein Werk also der Heiligen Schrift übergeordnet. Wie zeitbedingt allerdings sein Werk war und wie sehr er sich auch in diesem Punkt geirrt hatte, zeigt die Tatsache, dass die Zeugen Jehovas schon sehr bald (etwa ab Mitte der 20er Jahre) die Schriftstudien nicht mehr druckten – aus leicht verständlichen Gründen (nicht eingetroffene Terminberechnungen und ähnliches).

Worum ging es in den Schriftstudien? In Band 1 („Der göttliche Plan der Zeitalter“) gibt Russell einen grundlegenden Überblick über sein System. Er behandelt die Frage nach Gott, dem Verständnis der Bibel, dem Lösegeld und Wesen Christi sowie – anhand einer Zeitalter-Karte – dem Ablauf der Heilszeitordnungen. Er möchte im Leser den Glauben an Gott sowie an die Bibel als göttlich inspirierte Offenbarung befestigen, um darauf aufbauend den Heilsplan zu entfalten. In Band 2 („Die Zeit ist herbeigekommen“) geht es ausführlich um „Zeit und Zeitpunkte“, eine „vollständige Bibelchronologie“. Band 3 („Dein Königreich komme!“) untersucht daran anknüpfend die prophetischen Zeitabschnitte im Buch Daniel und in der Offenbarung des Johannes, ferner die Frage nach dem Schicksal Israels und die Zeitberechnung anhand der Maße der Cheops-Pyramide. Band 4 („Der Tag der Rache“) handelt von der „Auflösung der gegenwärtigen Ordnung der Dinge“. Band 5 („Die Versöhnung des Menschen mit Gott“) entfaltet ausführlich Russells Auffassung vom Loskaufopfer Jesu Christi, verstanden als engelhaftes Geistwesen, nicht als zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit. Band 6 („Die neue Schöpfung“) schließlich beschreibt die Schöpfungswoche nach 1. Mose 1 f., die „Herauswahl“ der Gemeinde sowie deren Organisation, Gebräuche, Zeremonien, Pflichten und Hoffnungen.

 

Zu Russells Lebensstil existieren sehr unterschiedliche Äußerungen. Die einen sagen, er hätte einfach und bescheiden im New Yorker „Bethel“ gelebt und viele Jahre nur ein Taschengeld bezogen. Die anderen behaupten, er hätte sämtliche Aktien-Anteile der Wachtturm-Gesellschaft besessen. Was ist wahr?

Tatsache ist, dass er das gesamte Vermögen seines väterlichen Betriebs für die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft sowie für Firmen, die mit dieser kooperierten (z. B. die „Tower Publishing Company“, welche der Wachtturm-Gesellschaft Papier lieferte), eingesetzt hat. Er verkaufte das blühende Textilunternehmen für eine Viertelmillion Dollar und investierte dieses Geld in die Wachtturm-Tätigkeit (vgl. Twisselmann 1995, S. 47.59). Im Ehescheidungs-Prozess bezeichnete er sich als arm und wollte nichts bezahlen, aber das Gericht stellte fest, dass er Geld besaß und bestrafte ihn wegen Hinterziehung. Damals wurde festgestellt, dass Russell die Kontrolle über eine Gesellschaft, eben die Wachtturm-Gesellschaft, in Händen hielt, in der er den größten Teil des Kapitals besaß (vgl. Martin 1985, S. 39 f.).

Was soll man daraus folgern? Russell war keineswegs arm, aber es ist durchaus möglich, dass er selber im Alltag bescheiden lebte. Dass er über große Kapitalmengen verfügen konnte, geht deutlich aus seinem Testament hervor, mit dem wir uns weiter unten beschäftigen.

Um Russell wurde schon zu Lebzeiten von vielen seiner Anhänger ein Personenkult betrieben. Ein ausgeprägtes endzeitliches Sendungsbewusstsein war ihm zueigen. Er nahm an, dass sich am Ende der Tage das Licht der Wahrheit immer mehr erhellt und ein vollerer Zugang zu den göttlichen Geheimnissen möglich ist. Er selber, Russell, sei der Empfänger dieses Lichtes. Er verglich sich mit dem „klugen und treuen Knecht“ in Matthäus 24, 45-51 und Lukas 12, 41-46. Von seinen Anhängern wurde er als „der Sendbote der Gemeinde von Laodizäa“ nach Offenbarung 3, 14-22 bezeichnet, so etwa in dem posthum herausgegebenen Band 7 der Schriftstudien (siehe unten). Russell wurde dort in eine Linie mit Paulus, Johannes, Arius, Waldus, Wiclif und Luther gestellt, welche die anderen Gemeinden in Offenbarung 2 f. repräsentieren sollten. Auffallend ist, dass in dieser Liste neben Aposteln und großen Männern der Kirchengeschichte auch der als Ketzer verurteilte Arius erscheint. Warum dies so ist, werden wir bei der Untersuchung der Gotteslehre und Christologie der Zeugen Jehovas betrachten.

Russell starb bei einer seiner zahlreichen Reisen, und zwar am 31. Oktober 1916 in einem Eisenbahnwagen in der Nähe von Pampa/ Texas. Eine Autokolonne von über hundert Wagen, ein Meer von Blumen sowie 17 Grabreden prägten seine Bestattung in New York.

Beziehungen zur Freimaurerei

Einige Fragen im Zusammenhang mit der Biographie Russells sind noch ausführlicher zu betrachten. Die erste Frage lautet: War Russell Freimaurer oder zumindest für freimaurerisches Denken offen? Besonders der ehemalige Zeuge Jehovas Erich Brüning hat sich der Untersuchung dieser Frage gewidmet. In seinem Buch 3 Systeme. Was verbindet Freimaurer, New Age und Jehovas Zeugen? (1994 b) zitiert er ausführlich aus einer Rede, die Russell 1913 vor Freimaurern, Ernsten Bibelforschern und Zuhörern verschiedener Denominationen gehalten hat. Diese Tempelansprache ist erschienen im „International Biblestudents Souvenir, Convention Report 1913“, S. 359 ff. Daraus einige Auszüge. Russell sagte:

„Ich freue mich, die besondere Gelegenheit zu haben, einiges über Dinge zu sagen, in denen wir mit unseren freimaurerischen Freunden übereinstimmen, denn wir befinden uns hier in einem Gebäude, das der Freimaurerei geweiht ist. Und auch wir sind Freimaurer. Ich bin ein freier Freimaurer. Ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer, wenn ich das in voller Länge ausführen darf … Ich glaube, wir alle sind es. Aber nicht gerade im Stil unserer freimaurerischen Brüder… Tatsächlich sind einige meiner besten Freunde Freimaurer, und ich schätze es, dass es einige wertvolle Wahrheiten gibt, die unsere freimaurerischen Freunde besitzen.“

Im Folgenden führt Russell aus, dass Jesus Christus „der große Meister unseres Hohen Ordens der Freien und anerkannten Freimaurerei“ und Begründer des Tempels sei. Punkt für Punkt vergleicht Russell die Gemeinde mit einem freimaurerischen Tempel. Schließlich meint er:

„Ihr wisst, dass man in Freimaurerorden von Stufe zu Stufe fortschreitet und dabei mehr und mehr lernt. So gibt es denn Freimaurer im 32. Grad, die viel mehr wissen als die im 14. und 16. Grad… So ist es auch im geistlichen Tempel. Der Apostel drängt uns, höher zu steigen. Er sagt, wir sollen in der Gnade und in der Erkenntnis wachsen und dem Herrn charakterlich ähnlicher werden, ihm, dem großen Hauptbefehlshaber, dem großartigen Hohenpriester unserer Berufung, dem größten aller Tempelritter“ (zit. nach Brüning, 1994 b, S. 62 ff.).

Solche Äußerungen dürften heutigen Zeugen Jehovas weitgehend unbekannt sein. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass Russell entweder selber Freimaurer war oder deren Gedankengut zumindest nicht ablehnte. Eine wichtige Gemeinsamkeit lag sicherlich darin, dass sowohl Freimaurer als auch Russell die göttliche Wesensart Jesu Christi im Sinne der Trinität bestritten. Ferner versuchte Russell, abseits von den Dogmen der Kirchen eine neue Religion zu gründen. Freimaurerisches Gedankengut kommt nicht nur in der zitierten Tempelansprache Russells zum Ausdruck, sondern auch in der von ihm häufig gewählten Symbolik der Pyramide, welche ein wichtiges Symbol der Freimaurerei darstellt. Man denke etwa an den dritten Band der Schriftstudien, wo ein ganzes Kapitel der Pyramide von Gizeh gewidmet ist. Später haben die Zeugen Jehovas Russells Pyramidenlehre fallen gelassen, wie sie auch offiziell nichts mit Russells freimaurerischen Ambitionen zu tun haben wollen. Dennoch stellt dieser Einfluss eine bedeutende Größe der Anfangszeit war, welche sich nicht leugnen lässt.

Ob Russell Mitglied einer Freimaurer-Loge war – darüber gehen die Ansichten auseinander. Brüning selber äußert sich widersprüchlich. Einerseits schreibt er:

„Über Russells Zugehörigkeit zu einer Loge weist das Drei-Punkt-Symbol vor seinem Namen in dem Freimaurerverzeichnis in ´Lady Queenborough` hin“ (ebd., S. 68).

Andererseits meint er:

„Es muss hier nicht polemisiert werden, ob Russell initiierter Freimaurer war oder nicht. Seine Weltanschauung, die Verehrung freimaurerischer Embleme, die Anwendung freimaurerischen Vokabulars und Umdeutung biblischen Gedankenguts in freimaurerische ´Theologie` dürften zur Beurteilung der Grundhaltung Russells genügen. Man spricht hier auch von ´Maurer ohne Schurz`“ (ebd.).