Die Lehren der Zeugen Jehovas

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In Einklang mit Brünings letzter Aussage teilte mir Hans-Jürgen Twisselmann in einem Brief vom 6.2.1996 folgendes mit:

„Russell war, wie ich über eine deutsche Freimaurer-Loge in Erfahrung bringen konnte, nie Freimaurer. Dass er aber beste Kontakte zu Einzelpersonen und Freimaurer-Einrichtungen unterhielt, dürfte unbestritten sein.“

Adventistische Einflüsse

Ein weiterer interessanter Aspekt sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Russells Lehre und dem frühen Adventismus, aus dem er ja hervorgegangen ist. Übernommen wurde zumindest prinzipiell die Schrifthaltung, der Glaube an die göttliche Inspiration der Bibel, wenn auch auf eine eigenwillige Art (dazu später mehr), ferner die Vorstellung von einer inhaltlichen Gleichwertigkeit von Altem und Neuem Testament. Die biblischen Aussagen werden – trotz vordergründig geschichtlichem Denken – nicht in ihrem heilsgeschichtlichen Fortschreiten betrachtet und ernstgenommen, sondern geradezu steinbruchmäßig aus dem Textzusammenhang herausgebrochen und nach eigenen Vorstellungen miteinander kombiniert. Auf die sogenannte Rösselsprung-Methode bei den Zeugen Jehovas werde ich noch ausführlicher eingehen. Die Gleichordnung des Alten Testamentes mit dem Neuen führt zum Beispiel bei den Adventisten zur Sabbat-Heiligung, bei den Zeugen Jehovas zu einem sehr gesetzlichen Denken insgesamt, besonders auffallend etwa in Gestalt des Blut-Verbots.

Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen ist der Versuch, den Termin der Wiederkunft Christi zu berechnen. Nach dem Nichteintreffen der sichtbaren Wiederkunft verlegten sich sowohl adventistische Kreise als auch Russell auf eine unsichtbare Wiederkunft oder Gegenwart Christi.

Gemeinsam ist ferner die Vorstellung, dass der Mensch nicht eine Seele hat, sondern eine Seele ist. Damit hängt die Ablehnung jeder Behauptung einer Unsterblichkeit der Seele zusammen. Da der Mensch als ganzer eine Seele sei, könne er den leiblichen Tod nicht überdauern, sondern sterbe ganz. Nach dem Tod gebe es keine Weiterexistenz. Auferstehung bedeute Neuschaffung. Diese Ganztod-Theorie findet sich heute sowohl bei den Siebenten-Tags-Adventisten als auch bei den Zeugen Jehovas. Eng damit zusammen hängt die Verwerfung der Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen. Die Hölle sei nur das Grab, ein Ort der Ruhe und der Hoffnung, wo weder Bewusstsein noch Empfindung vorhanden sei.

Worin sich Russell von den Adventisten unterscheidet, ist vor allem seine Ablehnung der Lehre von der Dreieinigkeit, aber auch der Sabbat-Heiligung, darüber hinaus manche eigenen Terminberechnungen, nicht zuletzt die Einbeziehung der Cheops-Pyramide in seine Zeitalter-Lehre. Aber die Gemeinsamkeiten mit Ansichten in der adventistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts sind doch auffallend. Von Russells Neuerungen hat nur weniges seinen Tod überlebt. Seine Terminberechnungen wurden von seinen Nachfolgern umgedeutet oder „aktualisiert“, die Berücksichtigung der Cheops-Pyramide wurde fallengelassen. Dietrich Hellmund bemerkt in seiner Dissertation „Geschichte der Zeugen Jehovas“ zu Recht:

„Nun gibt es freilich einige Glaubenslehren, die unverändert oder doch nur mit ganz geringen Korrekturen den Tod des Gründers überdauern und bis heute bei den Zeugen Jehovas vertreten werden: die Seelenlehre, die Höllenlehre, die Ablehnung der Trinitätslehre, die praktische Bevorzugung des Alten Testaments. Im weiteren Sinn wären dazu auch das chronologische Zeitschema (Adams Erschaffung um 4.000 vor Christus), das endzeitliche Bibelverständnis, die Lehre vom Läuterungscharakter des Millenniums, auch das Schriftprinzip zu rechnen. Mit alleiniger Ausnahme der Gotteslehre sind alle diese Anschauungen adventistischen Ursprungs oder durch Adventisten vermittelt.“

Im 1993 veröffentlichten Geschichtsbuch „Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes“ werden die Einflüsse anderer Personen und Gruppierungen, insbesondere der Adventisten, auf Russell offen zugegeben:

„C. T. Russell erkannte dankbar die Hilfe an, die ihm George W. Stetson aus Edinburgh (Pennsylvanien) beim Studium der Heiligen Schrift geleistet hatte … George W. Stetson war … Pfarrer der Adventistisch-Christlichen Kirche … C. T. Russell fühlte sich George Storrs, der etwa 56 Jahre älter war als er, sehr zu Dank verpflichtet. Russell hatte von ihm viel über die Sterblichkeit der Seele gelernt“ (S. 45 f.).

In diesem Zusammenhang wird folgende Selbstaussage Russells zitiert:

„Ich bekenne … dass ich sowohl den Adventisten als auch anderen Denominationen Dank schulde … obgleich mir der Adventismus keine bestimmte Wahrheit erschloss, so war er mir doch behilflich, Irrtümer zu verlernen und mich so für die Wahrheit vorzubereiten“ (ebd., S. 44).

Russells Testament

Wie es nach Russells Tod weitergehen sollte, hatte er 1908 in einem Testament festgelegt, welches nach seinem Tod im Wachtturm vom Februar 1917 erschien. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass dieses Testament so viele Lücken enthielt, dass es von seinem (nicht von ihm bestimmten oder eingesetzten!) Nachfolger Rutherford bequem umfunktioniert werden konnte. Russell hatte folgendes als seinen letzten Willen bestimmt:

„Ich treffe die Anordnung, dass das ganze Werk der Herausgabe des Wachtturms sich in Händen eines Komitees von fünf Brüdern befinden soll, die ich zu großer Sorgfalt und zur Treue gegen die Wahrheit ermahne … Die unten als Mitglieder des Herausgeber-Komitees genannten Brüder (ihre Annahme vorausgesetzt) sind, wie ich annehme, den Lehren der Heiligen Schrift völlig treu, besonders der Lehre vom Lösegeld, der Lehre, dass es keine Annahme bei Gott und keine Errettung zum ewigen Leben gibt, außer durch den Glauben an Christum und Gehorsam gegen sein Wort und den Geist desselben. Wenn einige von den Bestimmten zu irgend einer Zeit sich nicht mehr in Harmonie mit dieser Vorkehrung befinden sollten, so würden sie ihr Gewissen verletzen und darum Sünde begehen, wenn sie trotzdem noch Mitglieder des Herausgeber-Komitees bleiben würden…

Die Namen des Herausgeber-Komitees sind folgende: William E. Page, William E. Van Amburgh, Henry Clay Rockwell, E. W. Brenneisen, F. H. Robison. Die Namen der fünf Brüder, von denen ich annehme, dass sie am besten dazu passen, um freigewordene Stellen beim Herausgeber-Komitee wieder auszufüllen, sind: A. E. Burgeß, Robert Hirsh, Isaak Hoskins, Geo H. Fisher (Scranton), J. F. Rutherford, Dr. John Edgar …

Ich habe schon die Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft mit allen meinen Stimmanteilen begabt, und ich lege diese nun in die Hände von fünf Bevollmächtigten. Es sind folgende: Schwester E. Louise Hamilton, Schwester Almeta M. Nation Robison, Schwester J. G. Herr, Schwester C. Tomlins, Schwester Alice G. James. Diese Bevollmächtigten sollen für Lebenszeit dienen. Im Falle ihres Todes oder von Verzichtleistung sollen Nachfolger gewählt werden von den Direktoren der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft, dem Herausgeber-Komitee und dem Rest der Bevollmächtigten, nachdem sie um göttliche Leitung gebetet haben.“

1916-1942: Die Ära von Joseph Franklin Rutherford

Der Weg zur Macht

Joseph Franklin Rutherford wurde der zweite Präsident der Ernsten Bibelforscher. Der Weg dorthin war allerdings nicht einfach. Wie es dazu kam und welche Neuerungen Rutherford einführte, wollen wir in diesem Kapitel betrachten. Wie ging es nach dem Tod von Charles Taze Russell weiter?

In Russells Testament waren verschiedene Gruppierungen erwähnt worden, welche die Nachfolge Russells gemeinsam antreten sollten. Die Machtfülle, die vorher im Wesentlichen in seiner Person vereinigt war, sollte sich auf drei Gremien aufteilen. Leider waren die Kompetenzen dieser drei Gremien nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Um welche Gremien handelte es sich?

Da war zunächst das siebenköpfige Direktorium der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Aber in Konkurrenz zu diesem Direktorium setzte Russell in seinem Testament ein fünfköpfiges Herausgeber-Komitee für die Zeitschrift „Zions Wachtturm“ ein. Mindestens drei der fünf Herausgeber mussten den Artikeln zustimmen, damit sie in „Zions Wachtturm“ erscheinen konnten. Dieses Komitee stand zunächst unabhängig neben dem Direktorium. Hinzu kam als drittes das Gremium der fünf Aktien-Bevollmächtigten, allesamt Damen, die Russell als Verwalterinnen seines Vermögens eingesetzt hatte. Auffallend ist, dass Russell nicht einen Nachfolger eingesetzt hat, sondern immer Gruppen von Nachfolgern, um die Macht und Finanzen möglichst demokratisch zu verteilen. Es sollte also keiner die Alleinherrschaft besitzen.

Das Testament war allerdings – und hier sitzt das Problem – so nicht durchführbar. Die erwähnten fünf Damen hatten das Aktienpaket von 25.000 Stimmen unter insgesamt zirka 150.000 Stimmrechten erhalten. Der Rest verteilte sich auf etwa sechshundert Aktionäre. Nach Russells Tod nun wurde behauptet, mit seinem Heimgang seien auch seine Aktienanteile erloschen. Die Damen ließen sich einschüchtern und verzichteten auf ihre Stimmen, die nun unmittelbar der Wachtturm-Gesellschaft bzw. ihrer Leitung zugute kamen. Dietrich Hellmund vermutet, dass hinter diesem „Meisterstück“ einer Entmachtung wahrscheinlich „der Juristenverstand Rutherfords“ steckte.

Das nächste „Meisterstück“ betraf das Herausgeber-Komitee. Um Mitglied im Herausgeber-Komitee zu werden, musste man in die Bethel-Familie eintreten (das ist die Mitarbeiter-Gemeinschaft in der Brooklyner Wachtturm-Zentrale) und dort für ein Taschengeld arbeiten. Anderweitige berufliche Bindungen waren aufzugeben. Dazu aber war nicht jeder bereit, auch nicht alle von Russell vorgeschlagenen Komitee-Mitglieder. Zwei Kandidaten, William A. Page und E. W. Brenneisen, schieden deshalb von vornherein aus – „Page, weil er seinen Wohnsitz nicht nach Brooklyn verlegen konnte, und Brenneisen … weil er eine weltliche Arbeit annehmen musste, um seine Familie zu ernähren“ (JZ, S. 65). An deren Stelle rückten dann Robert Hirsh und J. F. Rutherford nach. Sie wurden vom Direktorium ausgewählt, das somit eine Vorrangstellung vor dem Herausgeber-Komitee erhielt.

 

Nachdem Rutherford dem siebenköpfigen Direktorium und dessen dreiköpfigem Ausschuss bereits angehört hatte, gelangte er nun auch noch beim Herausgeber-Komitee in die erste Reihe der Macht. Bereits seit Jahren hatte er die juristische Arbeit für die Wachtturm-Gesellschaft vorgenommen und dadurch tiefen Einblick in deren Strukturen erlangt. Dies half ihm beim weiteren Aufstieg. Auf Betreiben Rutherfords kam es immer mehr zu einer Zentralisierung der Leitung, und zwar in seiner Person. So war es kein Wunder, dass er bei der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 auf Anraten des Direktoriums-Mitglieds A. N. Pierson zum Nachfolger Russells und Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt wurde. Diese Wahl wurde aber nicht von allen widerspruchslos hingenommen. Doch bevor wir uns mit den Auseinandersetzungen beschäftigen, werfen wir zuerst einen Blick auf Rutherfords Persönlichkeit.

Joseph Franklin Rutherford wurde am 8. November 1869 auf einer Farm in Morgan County/Missouri geboren. Seine Eltern waren Baptisten. Mit 16 Jahren besuchte er ein College, um Rechtswissenschaften zu studieren. Mit 20 Jahren fungierte er bereits als Protokollführer für die Gerichte des 14. Gerichtsbezirks in Missouri. 1892 wurde er als Rechtsanwalt in Missouri zugelassen. Er eröffnete eine Praxis in Boonville und wurde Prozessanwalt der Firma Draffen und Wright. Später war er als Staatsanwalt und vertretungsweise auch als Sonderrichter am Gericht des achten Gerichtsbezirks von Missouri tätig. Von dieser Tätigkeit als Sonderrichter her wandte er den Titel „Richter“ auf sich an. Von seinen Anhängern wurde er – nicht ganz korrekt – als „Richter Rutherford“ bezeichnet, ähnlich wie Russell den Titel „Pastor“ für sich in Anspruch nahm. Als Jurist war Rutherford so erfolgreich, dass er ermächtigt wurde, Rechtsfälle vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington D. C. zu führen. Von 1909 bis zu seinem Tod fungierte er als Staatsanwalt in New York, zum Teil noch neben seiner Präsidentschaft der Wachtturm-Gesellschaft her.

1894 hatte Rutherford von zwei Anhängerinnen Russells an der Haustür drei Bände der „Schriftstudien“ (damals noch „Millennial Dawn“) erhalten, was sein Interesse an dieser Bewegung weckte, doch sollte es bis zu seiner „Taufe“ noch bis zum Jahre 1906 dauern. Seit 1907 schließlich war er als Rechtberater der Wachtturm-Gesellschaft tätig, wobei er den zunehmend kränklicher werdenden Russell auch „theologisch“ bei Auftritten und Disputen vertrat. Als Rechtswahrer aller Angelegenheiten der Wachtturm-Gesellschaft besaß er die höchste juristische Gewalt und war schon längst de facto Vertreter Russells, auch wenn er nachher unter den Komitee-Mitgliedern nur in zweiter Reihe genannt wurde.

Ein Beispiel, wie skrupellos und gerissen Rutherford vorgehen konnte, macht ein Vorfall aus dem Jahre 1915 deutlich, das Hellmund erwähnt. J. H. Troy war ein baptistischer Prediger aus Südkalifornien. Er forderte Russell zu einer öffentlichen Diskussion heraus. Russell führte öfter Diskussionen mit Vertretern der Kirchen. Diesmal aber war er gesundheitlich verhindert. Rutherford nahm stellvertretend die Herausforderung an. Nun war 1915 ein ziemlich schwieriges Jahr für die Ernsten Bibelforscher. Die Voraussagen für das Jahr 1914 waren nicht eingetroffen. Troy hatte also alle Trümpfe in seiner Hand.

Aber Rutherford gab sich nicht verloren. Er einigte sich mit Troy schriftlich darauf, dass jeder tausend Dollar als Garantie dafür hinterlegen solle, dass man nicht über persönliche Dinge diskutiere. Man durfte Russell nicht mit Schmutz bewerfen, was etwa wegen seiner Ehe häufig in der Öffentlichkeit geschah. Troy ging darauf ein in der Meinung, man könne dann wirklich sachlich diskutieren.

Nun aber bestellte Rutherford Troy drei Minuten vor Beginn der Diskussion in den Nebenraum des Saales und erinnerte ihn daran, „dass wir uns kraft einer Garantie von 1.000 Dollar verpflichtet haben, davon Abstand zu nehmen, Personen anzugreifen“. Darauf fragte Troy: „Ja, darf ich Russell nicht einmal erwähnen?“, worauf Rutherford antwortete: „Nein, sonst sind sie ihre 1.000 Dollar los.“ Troy war nun völlig verunsichert und wirkte in der Diskussion farblos und blass. Die gescheiterten Terminberechnungen Russells konnten nicht mehr ins Feld geführt werden.

Der Umgang mit der 1914-Krise

Als Rutherford Präsident der Wachtturm-Gesellschaft geworden war, hatte er drei Aufgaben zu erfüllen: Erstens musste er Reformen organisatorischer Art durchführen, vor allem die Werbearbeit neu beleben. Die Ernsten Bibelforscher hatten ja durch die Enttäuschung von 1914 und die Skandale um Russell schwere Rückschläge erlitten. Zweitens – und das hängt eng mit dem ersten Punkt zusammen – musste er die Vergangenheit bewältigen, vor allem die unglaubwürdig gewordenen Zeitprophezeiungen „korrigieren“ und auch den Personenkult, der sich um Russell gebildet hatte, modifizieren – das heißt: ihn von Russell wegnehmen und auf die Wachtturm-Gesellschaft übertragen, die mehr und mehr von Rutherford repräsentiert wurde. Drittens musste er mit menschlichen Problemen, vor allem mit Mitarbeitern und Konkurrenten fertig werden. Es existierten Mitkonkurrenten um das höchste Amt der Gesellschaft, und Rutherfords Präsidentschaft war anfangs keineswegs unangefochten. Diese Kämpfe dauerten ungefähr ein Jahr lang sehr vehement an.

Das erste war die organisatorische Reform und Belebung der Werbearbeit. Rutherford erhöhte die Zahl der sogenannten „Pilgerbrüder“, Kolporteure und Pioniere, die als Missionare oder Zeitschriften-Verteiler dienten, sehr stark. Die bisher nur lose miteinander verbundenen Versammlungen oder „Ekklesias“ wurden zentralisiert und mit Dienstanweisungen aus der Brooklyner Zentrale versehen. Große Kongresse wurden veranstaltet. Die gesamte Organisation wurde gestrafft. Dies führte zu einem riesigen Anwachsen der „Bibelforscher“-Bewegung unter Rutherford und seinen Nachfolgern.

Das zweite war die Vergangenheitsbewältigung. Das Schrifttum Russells musste umgedeutet werden. Die nicht erfüllten Prophezeiungen waren auszutilgen oder zu aktualisieren. Wenn man von den Original-Fassungen Russells ausgeht, muss man hier von Fälschungen sprechen. Beispiele hierfür werden wir noch kennenlernen. Ein weiterer Kunstgriff Rutherfords war die Herausgabe von Band 7 der Schriftstudien. Aufzeichnungen, die Russell hinterlassen hatte, wurden von Rutherfords Mitarbeitern George H. Fisher und Clayton J. Woodworth zusammengestellt, aktualisiert und erweitert. Vieles wurde vermutlich völlig neu geschrieben. Der Titel dieses Bandes lautete Das vollendete Geheimnis. Die Kelter des Zornes Gottes und der Fall Babylons (1917).

In den Bänden 1 bis 6 der Schriftstudien wurden beispielsweise die Jahreszahlen teilweise verändert. Einige Beispiele möchte ich hier zitieren. Ich nenne Unterschiede zwischen der Auflage von 1914 und der Neuauflage von 1926 des Bandes Dein Königreich komme. In diesem Band setzt Russell die biblische Chronologie parallel zu den Maßen der Cheops-Pyramide und führt im Jahr 1914 aus:

„Diese Berechnung zeigt das Jahr 1874 n. Chr. an, als den Anfang der Periode der Trübsal markierend; denn 1542 v. Chr. plus 1874 n. Chr. macht 3416 Jahre. So bezeugt die Pyramide, dass der Schluss des Jahres 1874 der chronologische Anfang der Zeit der Trübsal war“ (S. 327).

In der Neuausgabe von 1926 heißt es hingegen:

„Diese Berechnung zeigt das Jahr 1915 n. Chr., als den Anfang der Zeit der Drangsal bezeichnend, an; denn 1542 v. Chr. und 1915 n. Chr. geben 3457 Jahre. So bezeugt die Pyramide, dass der Schluss des Jahres 1914 der chronologische Anfang der Zeit der Drangsal war“ (S. 316 f.).

Während in der Ausgabe von 1914 die zugrunde gelegten Maße der Cheops-Pyramide 3416 Zoll betragen haben sollen, haben sie in der Neuauflage 3457 Zoll erreicht. Die Pyramide müsste also in dieser Zeit um 41 Zoll gewachsen sein – ein absurder Gedanke, der dazu herhalten muss, die nicht eingetroffenen Voraussagen Russells zu verbergen.

Ein weiteres Beispiel finden wir auf Seite 296 desselben Buches. In der Ausgabe von 1914 schrieb Russell:

„… Die prophetischen Marksteine … haben uns gezeigt, dass wir seit 1873 im siebenten Jahrtausend leben; dass das Lehn der Herrschaft der Heiden, ´die Zeiten der Nationen`, mit dem Jahre 1894 ausläuft…“

1926 hörte sich die gleiche Stelle so an:

„… Die prophetischen Marksteine… haben uns gezeigt, dass wir seit 1873 im siebten Jahrtausend leben; dass das Lehen der Herrschaft der Heiden, ´die Zeiten der Nationen`, mit dem Jahre 1914 ausläuft…“

An anderen Stellen ließ Rutherford die Jahreszahlen nicht ändern, sondern ließ sie einfach weg, indem er sie durch eine unbestimmte Zeitangabe ersetzte. Hieß es beispielsweise in der Ausgabe von 1914 noch, „dass die Befreiung der Heiligen etwas vor 1914 stattfinden wird“, so wurde dies 1926 dahingehend geändert, „dass die Befreiung der Heiligen sehr bald nach Schluss der Ernte stattfinden wird“ (S. 214).

Ab Mitte der zwanziger Jahre ging man dann einfach dazu über, Russells Schriften nicht mehr zu drucken. Zu groß war die Zahl der falschen Voraussagen und veränderten Lehren. Die Parallelsetzung von biblischer Chronologie und Cheops-Pyramide ließ man ebenso fallen wie Russells Chronologie überhaupt und sein Gemeindeverständnis. Manche Umdeutung kam durchaus einer Neuprägung von Lehren gleich.

Rutherford contra Johnson

Als drittes betrachten wir etwas näher den Kampf um die Vormachtstellung in der Wachtturm-Gesellschaft nach Russells Tod. Rutherford galt als kontaktarmer und argwöhnischer Vorgesetzter, der undurchschaubar war und sehr brutal mit Gegnern umgehen konnte. Er nahm das Recht für sich in Anspruch, Glaubenswahrheiten in letzter Instanz zu formulieren. Wurde Pastor Russell von seinen Anhängern geliebt, so wurde Richter Rutherford von ihnen gefürchtet. Die Wachtturm-Gesellschaft spricht heute offen davon. So hat sie in ihrem Geschichtswerk „Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes“ Auszüge aus einem Brief eines „Dieners Jehovas“ aus Kanada abgedruckt, der deutlich die Unterschiede zwischen Russell und Rutherford zum Ausdruck bringt. In diesem Brief an Rutherford heißt es:

„Lieber Bruder, verstehe das, was ich Dir schreibe, jetzt nicht falsch. Deine Art unterscheidet sich von der Art unseres lieben Bruders Russell wie Tag und Nacht. Viele, ach, unsagbar viele mochten Bruder Russell wegen seiner Persönlichkeit, seiner Art und vieler anderer Dinge; kaum einer lehnte sich gegen ihn auf. So mancher nahm die Wahrheit nur an, weil Bruder Russell es sagte… Aber deine Art, Bruder Rutherford, lässt sich mit der von Bruder Russell nicht vergleichen. Selbst dein Aussehen ist anders. Dafür kannst du nichts… Es wurde Dir in die Wiege gelegt, und du hattest keine andere Wahl… Seitdem du über die Angelegenheiten der Gesellschaft gesetzt bist, wurdest Du von den Brüdern ungerechtfertigterweise kritisiert und aufs böswilligste verleumdet… Früher neigten wir alle dazu, eher das Geschöpf als den Schöpfer zu verehren. Das blieb dem Herrn nicht verborgen. Deshalb setzte er jemand an die Spitze, das heißt, er übertrug jemand die Verantwortung für das Erntewerk, der eine ganz andere Art hatte“ (S. 625 f.).

Welche Konflikte waren es nun, die auf dem Weg zu Rutherfords Machtergreifung auszufechten waren? An der Spitze der Opposition stand Paul S. L. Johnson. Dieser, ein früherer lutherischer Pastor, war seit 1903 Mitglied der „Ernsten Bibelforscher“. Als hervorragender Redner und Mann mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein, war er für Rutherford ein ebenbürtiger Gegner. Kurz vor seinem Tod hatte Russell Johnson dazu bestimmt, nach England zu gehen, um die überseeischen Verbindungen zu bewahren und zu festigen. Im November 1916 entsandte ihn die Wachtturm-Gesellschaft – mit zahlreichen Vollmachten ausgestattet – nach Großbritannien. Dort handelte er sehr selbständig, setzte zwei leitende Bibelforscher (H. J. Shearn und W. Craeford) ab und versuchte, das englische Einflussgebiet von Rutherford und der Brooklyner Führung unabhängig zu machen, etwa indem er das Londoner Bankkonto der Wachtturm-Gesellschaft sperren ließ. Johnson betrachtete sich als Nachfolger Russells. Er behauptete, der Mantel Pastor Russells sei auf ihn gefallen wie zur Zeit des Propheten Elia.

 

In dieser schwierigen Lage sah Rutherford – nach dem misslungenen Versuch, Johnson abzusetzen – keinen anderen Ausweg, als diesen nach New York zurückzurufen, um ihn besser unter Kontrolle zu haben. Freilich holte er sich damit die Opposition ins eigene Haus. Ein von der Wachtturm-Gesellschaft einberufener Untersuchungsausschuss kam zum Ergebnis, dass Johnsons Verhalten in England berechtigt war. Innerhalb kurzer Zeit zog er vier der sieben leitenden Direktoren der Wachtturm-Gesellschaft auf seine Seite. Die Macht lag ja seit der Entmachtung der anderen Gremien in der Hand des Direktoriums, zu welchem Rutherford selber gehörte. Somit standen vom führenden Gremium nur zwei Männer auf Rutherfords Seite, nämlich sein Vizepräsident A. N. Pierson und sein Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh. Die anderen hielten zu Johnson.

Rutherford war nicht mehr in der Lage, bei Abstimmungen seinen Willen durchzusetzen. Andererseits war er Präsident und konnte nicht abgesetzt werden, weil das Präsidenten-Amt auf Lebenszeit vermittelt worden war. Somit war eine gewisse Patt-Situation eingetreten. Jede Partei versuchte, die andere aus dem „Bethel“ zu drängen oder sie zumindest zu entmachten. Die auf Johnsons Seite stehenden Direktoren verfolgten den Gedanken, die Stellung des Präsidenten dem Direktionsausschuss unterzuordnen. Er sollte nur noch die Befugnisse eines Beraters besitzen. Daraufhin ging Rutherford in die Offensive.

Er brachte Band 7 der Schriftstudien heraus. Am 17. Juli 1917 wurde im Brooklyner Bethel der Band mit dem Titel The Finished Mystery (Das vollendete Geheimnis) freigegeben. Die Freigabe dieses Buches führte zu einer fünfstündigen heftigen Debatte zwischen den verfeindeten Parteien, deren Konflikt nun offen zutage trat, und schließlich zum Bruch. Johnson und seine Anhänger warfen Rutherford Umdeutungen der Lehre Russells, neue Jahresberechnungen (etwa auf 1918) sowie seinen übergroßen Machtanspruch vor.

Aus der Sicht der heutigen Zeugen Jehovas stellt sich die Person Johnsons folgendermaßen dar:

„Da er sich als eine wichtige Persönlichkeit betrachtete, behauptete er in Ansprachen und Briefen, seine Tätigkeit sei in der Bibel von Esra, Nehemia und Mordechai vorgeschattet worden. Er beanspruchte, der in Jesu Gleichnis aus Matthäus 20,8 erwähnte Verwalter (oder Beauftragte) zu sein. Er versuchte, die Verfügungsgewalt über das Geld der Gesellschaft zu bekommen, und strengte deshalb vor dem Hohen Gerichtshof in London einen Prozess an.

Als dieser Versuch vereitelt wurde, ging er zurück nach New York. Dort buhlte er um die Unterstützung bestimmter Personen, die im Vorstand der Gesellschaft waren. Diejenigen, die er auf seine Seite ziehen konnte, versuchten durch eine Resolution durchzusetzen, dass die Geschäftsordnung der Gesellschaft, die den Präsidenten ermächtigte, alle Angelegenheiten zu regeln, außer Kraft gesetzt würde. Sie wollten, dass alle Entscheidungsgewalt bei ihnen liege. Bruder Rutherford unternahm rechtliche Schritte, um die Interessen der Gesellschaft zu schützen, und alle, die deren Tätigkeit behindern wollten, wurden aufgefordert, das Bethelheim zu verlassen“ (JZ, S. 627). Welche „rechtlichen Schritte“ es waren, die Rutherford vornahm, werden wir weiter unten betrachten.

Das vollendete Geheimnis

Hier bewegt uns zunächst die Frage, worum es in dem umstrittenen Band 7 der Schriftstudien mit dem Titel „Das vollendete Geheimnis“ ging. Als erstes springt der Personenkult um Charles Taze Russell ins Auge. Der Band ist als Kommentar zu den biblischen Büchern Hoheslied, Hesekiel und Offenbarung konzipiert. Es handelt sich allerdings nicht um einen Kommentar im üblichen Sinne, sondern um eine Bibeldeutung von der Sicht der „Ernsten Bibelforscher“ her. So wird Russell mit dem Propheten Hesekiel verglichen, der Russell vorbildlich dargestellt habe. Weissagungen Hesekiels werden so ausgelegt, dass sie Hinweise auf die spätere Tätigkeit Russells seien, so etwa die Tempel-Prophezeiungen. Russell hatte zwar ein großes Selbstbewusstsein besessen, aber wenn er dieses selber geschrieben hätte, wie es die fingierte Autorschaft dieses Bandes nahelegt, hätte er größenwahnsinnig sein müssen.

Zweitens enthält der Band 7 eine grundsätzliche scharfe Polemik gegen das traditionelle Christentum und seine Geistlichen, die sogenannten Religionisten, insbesondere gegen die römisch-katholische Kirche und das Papsttum. Trotz der besonderen Aversion der „Ernsten Bibelforscher“ gegen Rom wird aber das Christentum generell, nicht nur der römische Katholizismus, als „Babylon“ bezeichnet. Alle außer den „Ernsten Bibelforschern“ gelten den Autoren von Band 7 als „Babylon“, als vom Glauben abgefallene Hure.

Ein typisches Beispiel für die maßlose Polemik liefert die Auslegung von Offenbarung 9,18, wo von apokalyptischen Rossen die Rede ist, „aus deren Mäulern Feuer und Rauch und Schwefel ging“. Die Autoren von Band 7 kommentieren diese Stelle (allegorisch) so:

„Eine genaue Prüfung des Vorstehenden führt zu dem Schluss, dass die verschiedenen Kirchensysteme von Kahlköpfen gegründet sein müssen, und dass, da der Rauch keinen Ausweg durch die Kopfhaut finden konnte, er natürlicher Weise aus ihrem Munde (´aus ihren Mäulern`, wie es in Vers 17 heißt) hervorkommen musste!“ (S. 215).

Als weiteres Beispiel zitiere ich die Auslegung von Offenbarung 18,4:

„Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel: Eine andere himmlische Botschaft durch die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft, die Organisation, welche Pastor Russell persönlich gründete, um das Erntewerk durchzuführen“ (S. 370).

Im Unterschied zu den traditionellen Kirchen wird die Wachtturm-Gesellschaft in den positivsten Farben völlig unkritisch ausgemalt.

Das dritte, was auffällt, ist die Einführung neuer Jahreszahlen in Band 7, insbesondere das Datum 1918. Die „vierzigjährige Erntezeit“ bis zum Beginn der „Trübsal“ war von Russell aufgrund sogenannter „Parallelen der Heilszeitordnungen“ zwischen urchristlicher Zeit (ca. 30-70 n. Chr.) und Endzeit (1874-1914) behauptet worden. Nun fügten Rutherford und seine Mitarbeiter im 1917 veröffentlichten Band dreieinhalb Jahre zu diesen 40 Jahren hinzu und gelangten so zum Frühjahr 1918 als neuem, unmittelbar bevorstehendem Termin für das Eintreten der Bedrängnis und des „Falles Babylons“, also der Christenheit außerhalb der „Ernsten Bibelforscher“. Begründet wird dies damit, dass zwar 70 n. Chr. Jerusalem von den Römern zerstört worden sei, aber erst 73 n. Chr. der jüdische Aufstand niedergeschlagen wurde – also mit der parallelen Heilszeitordnung.

So wird in der Auslegung von Offenbarung 3,14 ausgeführt, die „Laodizäa-Epoche“ reiche „vom Herbst 1874 bis zum Frühling 1918, dreieinhalb Jahre der Vorbereitung und 40 Jahre Erntezeit“. Alles deute darauf hin, „dass der Frühling 1918 ein noch größeres Maß von Bedrängnis über die Christenheit bringen wird, als dies im Herbst des Jahres 1914 der Fall war“ (S. 65 und 69). Das Jahr 1918 brachte allerdings nicht „ein noch größeres Maß von Bedrängnis“, sondern das Ende des Ersten Weltkriegs und – zumindest für einige Jahre – Frieden. Auch hier war eine angemaßte Prophetie in das Gegenteil umgeschlagen.

Ebenfalls wegen der nicht eingetroffenen Prophezeiungen wurden in einer späteren deutschen Ausgabe von „Das vollendete Geheimnis“ manche Passagen aus dem amerikanischen Original falsch übersetzt. Eckhard von Süsskind hat in seiner sehr gründlichen Quellen-Untersuchung Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft die Änderung oder Relativierung der Jahresangaben nachgewiesen, welche in der deutschen Ausgabe von „The Finished Mystery“ im Jahre 1925 vorgenommen wurde. An einigen Stellen wurde das Jahr 1918 einfach ausgelassen.