Die Lehren der Zeugen Jehovas

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E. v. Süsskind resümiert:

„Die Passagen, die falsch übersetzt wurden, betreffen ausnahmslos Prophezeiungen, die sich auf das für 1918 erwartete Ende der Christenheit durch Aktionen der Arbeiter und Sozialisten, auf das für 1920 angekündigte Ende der Republiken und der Arbeiterschaft sowie auf die in dieser Zeit angeblich zunehmende Anarchie beziehen“ (S. 73).

Spaltungen

Wie kam es nun zur Entmachtung der für Rutherford unangenehmen Direktoren und anderen Oppositionellen? Hier war für Rutherford seine juristische Erfahrung hilfreich. Er fand formaljuristische Begründungen für deren Amtsenthebung. In einem Gespräch zwischen Rutherford und den vier widerspenstigen Direktoren wird seine Vorgehensweise deutlich. Rutherford sagte:

„Es ist euch entgangen, Brüder, … dass ihr alle vier Mitglieder der pennsylvanischen Körperschaft seid. Die Satzungen dieser Körperschaft besagen, dass ihr im Staate Pennsylvania gewählt werden müsst. Seid ihr dort gewählt worden?

Nein, antworteten sie.

Ihr wurdet im Staate New York gewählt. Wollt ihr nun streng sachlich werden, dann sage ich euch streng sachlich, dass ihr vor allem keine legalen Mitglieder der Körperschaft seid“ (zitiert nach Gebhard 1970, S. 105).

Hinzu kam, dass Rutherford ein Gesetz rückwirkend anwandte, das die jährliche Wiederwahl der Direktoren forderte. Da aber eine solche jährliche Wiederwahl nicht erfolgt war, sondern Russell die Direktoren auf Lebenszeit eingesetzt hatte, seien sie – so behauptete Rutherford – keine rechtmäßigen Mitglieder des Direktoriums. Johnson seinerseits bestritt, dass ein solches Gesetz rückwirkend angewandt werden könne, und fragte, ob dann nicht auch Rutherford zu Unrecht zum Präsidenten gewählt worden sei.

Nichtsdestotrotz konnte Rutherford aufgrund solcher formaler Versäumnisse die vier Direktoren entmachten. Nach ihrer Entlassung nahmen vier Männer seines Vertrauens ihre Stelle ein. Bei dieser Säuberungsaktion schlossen sich mehrere Dutzend leitende Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft den Oppositionellen an und mussten ebenfalls gehen. Auch in vielen Gemeinden kam es zu Unruhen und vielerorts auch zu Spaltungen.

Über Rutherfords Vorgehensweise bei der „Säuberungsaktion“ berichtet Johnson aus seiner Sicht folgendes:

„Er (Rutherford) befahl mir, das Bethel am gleichen Tag zu verlassen, die vier Direktoren sollten am folgenden Montag gehen. Meine respektvolle, oft wiederholte Bitte, vor der Familie eine Erklärung abgeben zu dürfen, wurde nicht erfüllt… Bruder Hirsch bat darum, einen Brief von Bruder Pierson vorlesen zu dürfen, in dem dieser schrieb, dass er Rutherfords Ausschluss der vier Brüder vom Direktorium nicht billigte und dass er treu zu dem alten Direktionsausschuss hielte. J. F. R. schrie förmlich, dass Bruder Johnsons ´Falschheit` daran schuld wäre, dass dieser Brief geschrieben wurde… Noch zorniger befahl er mir unter Androhung von gerichtlichen Schritten, das Bethel zu verlassen. Ich antwortete, dass ich den Direktionsausschuss wegen dieser Entscheidung angerufen hätte; und da ich den Ausschuss als amtierend betrachtete, wobei dieser das Recht habe, bei der Berufung Entscheidungen zu treffen, wartete ich nun auf diese Entscheidung; wenn mir der Ausschuss befehlen sollte, das Bethel zu verlassen, würde ich dies sofort tun. Auf diese Erwiderung hin verlor Rutherford alle Selbstbeherrschung. Um seinen Befehl durchzusetzen, stürzte er sich auf mich und schrie: ´Du verlässt dieses Haus`. Er packte mich am Arm, so dass ich fast hingefallen wäre“ (zitiert nach Rogerson 1969, S. 49).

Daraufhin verließ Johnson die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft. Doch die Oppositionellen gaben sich noch nicht geschlagen. Rutherford hatte den entlassenen Direktoren ehrenvolle, aber einflusslose Posten als „Pilgerbrüder“ angeboten, um sein Gesicht zu wahren. Dieses Angebot wurde von diesen selbstverständlich abgelehnt. Sie schürten weithin Unruhe. Im Sommer 1917 waren die meisten Versammlungen weltweit gespalten. In dieser Zeit des Machtkampfes erfolgte die entscheidende Umstrukturierung der Wachtturm-Gesellschaft, die vorher und nachher nicht in diesem Maße vorgenommen worden war.

Noch zweimal versuchten die Gegner Rutherfords, das Ruder an sich zu reißen, doch ohne Erfolg. Bei der Hauptversammlung im August 1917 in Boston übernahm Rutherford die Diskussionsleitung und überging einfach die Wortmeldungen seiner Opponenten. Bei der Körperschaftsversammlung der Pennsylvania-Gesellschaft im Januar 1918 hatte Rutherford schon längst die Kontrolle über die Medien seiner Organisation übernommen und die meisten Mitglieder für sich gewonnen. Kein Opponent wurde in den Direktionsausschuss gewählt. Die Sache war entschieden.

Der Zerfall war nun nicht mehr aufzuhalten. Die Opposition organisierte sich neu, berief ein „Siebener-Komitee“, gab ein eigenes Mitteilungsblatt „The Herald of Christ`s Kingdom“ heraus und führte am 26. 3. 1918 ein eigenes Gedächtnismahl durch, welches die Spaltung endgültig besiegelte. Die Oppositionellen betrachteten sich als die Bewahrer der reinen Lehre Russells und nannten sich zunächst „Dawn Bible Students Association“ („Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“). Rutherford und die Seinen galten als Abgefallene, die sich das materielle Erbe Russells angeeignet hatten 1918/19 zählten die „Ernsten Bibelforscher“ ca. 18.000 Anhänger. Zu den Oppositionellen dürften sich damals schätzungsweise rund 4.000 Menschen gerechnet haben. Doch die Einheit der Oppositionellen war von kurzer Dauer. Dietrich Hellmund berichtet über ihr weiteres Schicksal:

„Das Ende der oppositionellen Einheitsfront kam bald. Anlässlich ihrer Hauptversammlung 1918 kam es zu allerlei Misshelligkeiten. Johnson überwarf sich mit den vier Ex-Direktoren und machte ein eigenes Hauptbüro in Philadelphia auf. Das ist der Anfang der Laymen`s Home Bible Student`s Movement. Ihr stand er bis zum Tode als ´der Erde großer Hoherpriester` vor. Der verbliebene Rest konnte seinerseits auch keinen Frieden untereinander halten und zerfiel bald in eine Unzahl kleiner und kleinster Sekten… Das endgültige Schicksal der Opposition ist Selbstzerfleischung.“

Gefangenschaft

Bald trat für die „Ernsten Bibelforscher“ ein weiteres dramatisches Ereignis ein. Seit dem 6. April 1917 befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Kriegszustand. Gemäß ihrer Weltanschauung galten Rutherford und seine Freunde als radikale Pazifisten – oder richtiger: als „Neutralisten“ ohne Parteinahme für eine bestimmte Kriegspartei. Ihre Lehre war in ihren Auswirkungen jedoch höchst politisch, weil die Wachtturm-Gesellschaft beanspruchte, das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern. Alle anderen politischen und kirchlichen Systeme wurden faktisch abgelehnt. Diese Ansicht wurde später zwar abgemildert, aber in der Zeit des Ersten Weltkriegs wurde sie noch mit voller Vehemenz vertreten – bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.

Deshalb mussten die Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern schwere Verfolgungen erleiden, etwa während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland oder in kommunistischen Diktaturen. Aber auch in demokratischen Staaten wie den USA galt ihre Position gegenüber dem Staat als unerwünscht – vor allem in Krisensituationen wie dem Ersten Weltkrieg, wo es darum ging, möglichst jeden Mann für dem Kampf zu mobilisieren.

Eine maßlose Polemik gegen Staat und Kirchen fand sich nun in dem gerade 1917 veröffentlichten Band 7 der Schriftstudien. Dort wurde beispielsweise immer wieder betont, sämtliche irdischen Reiche würden 1917 oder 1918 ihr Ende finden. Am 28. Februar 1918 sagte Rutherford in einem öffentlichen Vortrag in Los Angeles:

„Als Klasse sind die Geistlichen gemäß der Schrift von allen Menschen auf der Erde die verwerflichsten wegen des großen Krieges, der die Menschheit jetzt plagt. 1.500 Jahre lang haben sie dem Volk die satanische Lehre des Gottesgnadentums der Könige beigebracht. Sie haben Politik und Religion, Kirche und Staat vermischt, haben sich als illoyal gegenüber ihrem von Gott verliehenen Vorrecht erwiesen, die Botschaft vom messianischen Königreich zu verkündigen, und haben sich dazu hergegeben, die Herrscher in ihrem Glauben zu bestärken, dass der König von Gottes Gnaden regiert und daher alles, was er tut, richtig ist.“

Unter Rutherfords Leitung war die Wachtturm-Gesellschaft bestrebt, „der ganzen Welt die Unrechtmäßigkeit der religiösen Systeme und ihre unheilige Verbindung mit den verderbten Regierungen der gegenwärtigen bösen Ordnung der Dinge zu zeigen“ (JZ, S. 648).

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die Ernsten Bibelforscher genau beobachten. John Lord O`Brian, Sonderbeauftragter des Justizministers in Kriegsangelegenheiten, übernahm persönlich das Sammeln von Beweismaterial gegen sie. Am 7. Mai 1918 schließlich wurde der Haftbefehl gegen Joseph Franklin Rutherford und sieben seiner engsten Mitarbeiter erlassen. Die Anklage lautete auf Verschwörung als Verletzung des Spionagegesetzes, Anstiftung zum Ungehorsam und zur Verweigerung der Dienstpflicht in den Streitkräften der USA.

Im Sommer 1918 wurden J. F. Rutherford, W. E. Van Amburgh, A. H. Macmillan, R. J. Martin, F. H. Robison, C. J. Woodworth und G. H. Fisher zu je viermal 20 Jahren und G. DeCecca zu viermal 10 Jahren Haft verurteilt und im Gefängnis von Atlanta/Georgia eingesperrt. Die heutigen Zeugen Jehovas weisen darauf hin, dass damit diese Männer „zu härteren Strafen verurteilt“ wurden „als der Mörder, dessen Schüsse den Ersten Weltkrieg auslösten“ (JZ, S. 653). Warum diese Härte der Strafe? Richter Harland B. Howe sagte vor der Urteilsverkündung:

 

„Nach Meinung des Gerichts stellt die religiöse Propaganda, für die diese Angeklagten energisch eingetreten sind und die sie im ganzen Land sowie unter unseren Verbündeten betrieben haben, eine größere Gefahr dar als eine ganze deutsche Division … Sie haben nicht nur die Rechtsvertreter der Regierung und den Nachrichtendienst der USA in Frage gestellt, sondern auch alle Diener der Kirchen angegriffen. Die Bestrafung sollte daher sehr streng sein“ (zitiert nach Macmillan 1957, S. 99).

Es war ein großes Glück für die Eingekerkerten, dass der Erste Weltkrieg bald zuende ging. Mit dem Ende des Krieges ließ auch das Kriegsfieber nach. Man dachte nun milder über die Verurteilten und ließ sie bereits am 25. März 1919 gegen eine Kaution frei, noch bevor eine Petition mit 700.000 Unterschriften der Regierung überreicht werden konnte, welche ihre Anhänger gesammelt hatten.

Während der Gefangenschaft Rutherfords hatte am 4. Januar 1919 eine Körperschaftsversammlung der Wachtturm-Gesellschaft in Pittsburgh/Pennsylvania stattgefunden. Dort war Rutherford mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident bestätigt worden. Offensichtlich hatte seine Abwesenheit, Gefangenschaft und Opferbereitschaft seine Popularität weiter erhöht. Die Chance, welche seine Gegner gewittert hatten, ihn in seiner Abwesenheit zu entmachten, zerschellte nun vollends an der ständig gewachsenen Zahl seiner Anhänger.

Von den Ernsten Bibelforschern zu den Zeugen Jehovas

Als Rutherford aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, begann er sofort mit der Neustrukturierung der Wachtturm-Bewegung. Ein entscheidender Markstein hierfür war der Kongress im September 1919 in Cedar Point/Ohio. Die Bibelforscher sollten ermutigt und zu Taten angespornt werden. Eine neue Zeitschrift, die bei diesem Kongress vorgestellt wurde, trug den programmatischen Titel The Golden Age („Das Goldene Zeitalter“; ab 1937 „Trost“, seit 1946 „Erwachet!“).

1920 veröffentlichte Rutherford eine Schrift mit dem aufsehenerregenden Titel Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben. In dieser Schrift sagte er für 1925 die „Vollendung aller Dinge“ voraus, insbesondere „die Rückkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie der glaubenstreuen Propheten des Alten Bundes“ auf die Erde (S. 80). Rutherford schrieb:

„Auf das zuvor dargelegte Argument gestützt, dass also die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt, zu Ende geht und daher verschwindet, und dass die neue Ordnung hereinbricht, und dass das Jahr 1925 die Auferweckung der treuen Überwinder des alten Bundes und den Beginn der Wiederherstellung markiert, ist es vernünftig zu schließen, dass Millionen jetzt auf Erden lebender Menschen im Jahre 1925 noch auf Erden sein werden. Sodann auf die Verheißungen, die in dem Worte Gottes niedergelegt sind, gestützt, müssen wir zu dem positiven und unbestreitbaren Schluss kommen, dass Millionen jetzt Lebender nie sterben werden“ (S. 88).

Als auch diese Prophezeiung auf das Jahr 1925 nicht eintraf, sagte Rutherford : „Ich habe mich lächerlich gemacht“ (engl. Originaltext: „I know I made an ass of myself“) („Wachtturm“ vom 25.12.1984, S. 26; zitiert nach: Franz 1991, S. 136). 1925 wird in „Wachtturm-Kreisen“ ähnlich wie 1914 als „Jahr der Prüfung“ bezeichnet – aus leicht erkennbaren Gründen. Rutherford selber verzichtete von da an auf ähnliche Festlegungen – was nicht ausschloss, dass seine Nachfolger später seinen Fehler wiederholten.

Unter den zahlreichen Neuerungen, die Rutherford einführte, war die grundlegende Verpflichtung jedes Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Errichtung eigener Rundfunk-Stationen, die Abschaffung vieler als „heidnisch“ geltender Bräuche und Feste (Kreuzsymbol, Weihnachten, Ostern, Geburtstag u.a.) und vor allem die Propagierung der immer sektiererische Züge annehmenden Bibelforscher als das neue Heilsvolk der „Zeugen Jehovas“, das nun an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes Israel, aber auch der christlichen Kirchen treten sollte. Unter Rutherford erlangten die Zeugen Jehovas im Wesentlichen ihr heutiges Gepräge.

1931 fand der entscheidende Kongress in Columbus/Ohio statt, der die neue Richtung bestimmen sollte. Auf diesem Kongress wurde die Wachtturm-Gesellschaft von Rutherford zur endzeitlichen Heilsgemeinde erhoben. Hier nahm sie den Namen „Jehovas Zeugen“ an, und zwar in Anlehnung an Jesaja 43, 10-12, wo es heißt:“Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich`s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein Heiland. Ich habe es verkündigt und habe euch geholfen und hab`s euch sagen lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott.“

Auf die Einladung zu diesem Kongress hatte Rutherford ohne weitere Erklärung zwei geheimnisvolle Großbuchstaben drucken lassen: JW. Erst auf dem Kongress wurde das Geheimnis gelüftet. In seinem von Zehntausenden mit donnerndem Applaus aufgenommenen Vortrag verkündete er den neuen Namen „Jehovahs Witnesses“ („Jehovas Zeugen“). Nachdem in einer Resolution alle anderen Namen („Ernste Bibelforscher“, „Russelliten“ etc.) als ungenügend bezeichnet worden waren, hieß es weiter:

„… dass wir, erkauft durch das teure Blut unsres Herrn und Erlösers, gerechtfertigt und gezeugt durch Jehova Gott und berufen zu seinem Königreiche, ohne Zaudern erklären, dass wir Jehova Gott und seinem Königreiche untertan und ergeben sind; dass wir Knechte Jehovas sind, beauftragt, in seinem Namen und seinem Gebot gehorchend, ein Werk zu tun, das Zeugnis Jesu Christi zu überbringen und den Menschen bekanntzumachen, dass Jehova der wahre und allmächtige Gott ist; weshalb wir mit Freuden den Namen, den der Mund des Herrn genannt hat, annehmen und wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: Jehovas Zeugen (Jesaja 43:10-12 …)“ (JZ, S. 156).

Und dann wurde mit aller Bestimmtheit ausgeführt:

„Als Jehovas Zeugen ist unser einziger und ausschließlicher Wunsch, seinen Geboten völlig gehorsam zu sein; bekanntzumachen, dass er der allein wahre und allmächtige Gott ist; dass sein Wort wahr und dass sein Name aller Lehre und allen Ruhmes würdig ist; dass Christus Gottes König ist, den er auf seinen Thron der Vollmacht gesetzt hat; dass sein Königreich nun gekommen ist und wir im Gehorsam gegen die Gebote des Herrn diese gute Kunde als Bekenntnis oder Zeugnis den Nationen bekanntmachen müssen und die Herrscher und das Volk über Satans grausame und bedrückende Organisation, besonders unter Hinweis auf die ´Christenheit`, den gräulichsten Teil seiner sichtbaren Organisation, aufklären und ihnen Gottes Vorhaben, die satanische Organisation binnen kurzem zu zermalmen, ankündigen müssen, nach welchem großen Zerstörungswerk Christus, der König, den gehorsamen Menschen der Erde rasch Frieden, Wohlfahrt, Freiheit und Gesundheit, Glück und ewiges Leben bringen wird; dass Gottes Königreich die Hoffnung der Welt ist, außer der es keine andre Hoffnung gibt, und dass diese Botschaft durch die überbracht werden muss, die als Jehovas Zeugen kenntlich gemacht worden sind“ (JZ, S. 157).

Mit dem Kongress von Columbus im Jahre 1931 war die Selbstverabsolutierung der Gruppe um Rutherford zu ihrem Höhepunkt gelangt. Der Sektencharakter, der sich vor allem in der Exklusiv-Setzung der eigenen Gruppe oder Position zeigt, trat spätestens von da an in kaum zu überbietender Deutlichkeit hervor. So gelten die „Zeugen Jehovas“ bis heute als Paradebeispiel einer Sekte. Der Sektenexperte Kurt Hutten schreibt in seinem Standardwerk Seher, Grübler, Enthusiasten:

„Die darin ausgesprochene Selbstverabsolutierung war mit einer schroffen Verwerfung aller anderen christlichen Gemeinschaften verbunden. Zu Russells Zeiten war die Bezeichnung ´Bibelforscher` eingeführt worden als Ausweis dafür, dass man eine überdenominationelle Bewegung sein wolle. Es wurde betont, ´dass wir nicht sektiererisch sind – dass wir alle als Brüder und Glieder der Kirche, der Kirche Christi, der Kirche Gottes anerkennen, welche die volle Weihung zur Selbstaufopferung beweisen und in den Fußstapfen unseres Erlösers nachfolgen`. Rutherford machte Schluss mit solchen gesamtkirchlichen Gefühlen. Er zerriss das Band. So bekam die Organisation die typischen Züge der Sekte“ (Hutten 1982, S. 87 f.).

Der Umgang mit totalitären Systemen

In Rutherfords Präsidentenzeit fielen harte Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und anderen totalitären Systemen. Allein in Deutschland gingen während der Hitler-Diktatur ca. 6.000 Wachtturm-Anhänger für ihre Überzeugung in die Gefängnisse und Konzentrationslager. Etwa 1.000 von ihnen fanden dort den Tod (vgl. „Wachtturm“ vom 1.7.1979, S. 8).Trotz dieser bewundernswert konsequenten Haltung der einzelnen Zeugen Jehovas darf nicht übersehen werden, dass das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft anfangs ambivalent war. In einem Schreiben der deutschen Wachtturm-Zentrale an den „sehr verehrten“ Reichskanzler Adolf Hitler vom Juni 1933, der 1994 im deutschen und amerikanischen „Jahrbuch“ der Wachtturm-Gesellschaft abgedruckt wurde und somit offiziellen Charakter besaß (vgl. ACV 4/94, S. 16), hatte es u.a. geheißen:

„Das Brooklyner Präsidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen. Diese zwei Zeitschriften ´The Watch Tower` und ´Bible Student` waren die beiden einzigen Zeitschriften Amerikas, die eine Kriegspropaganda gegen Deutschland verweigerten und darum während des Krieges in Amerika auch verboten und unterdrückt wurden. In gleicher Weise hat sich das Präsidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten nicht nur geweigert, an der Gräuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigefügten Erklärung unterstrichen wird durch den Hinweis, dass die Kreise, welche diese Gräuelpropaganda in Amerika leiteten (Geschäftsjuden und Katholiken), dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Präsidiums sind. Durch diese und andere in der Erklärung enthaltenen Feststellungen soll die Zurückweisung der Verleumdung, Bibelforscher würden durch die Juden unterstützt, erfolgen…

Weiter wurde auf dieser Konferenz der fünftausend Delegierten – wie in der Erklärung ausgedrückt – festgestellt, dass die Bibelforscher Deutschlands für dieselben hohen ethischen Ziele und Ideale kämpfen, welche die nationale Regierung des Deutschen Reiches bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu Gott proklamierte, nämlich: Ehrlichkeit des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer! Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass in dem Verhältnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Regierung des Deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen, sondern dass im Gegenteil – bezüglich der rein religiösen, unpolitischen Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher – zu sagen ist, dass diese in völliger Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des Deutschen Reiches sind“ (zitiert nach dem bei Twisselmann 1995, S. 276 ff., abgedruckten Faksimile des Original-Briefes).

Die Abgrenzung gegen „die Juden“ fällt zeitlich auffallenderweise mit deren Substitution durch die Zeugen Jehovas als dem“neuen Heilsvolk“ in den Jahren ab 1931 zusammen. Erst nachdem der Versuch, sich mit der nationalsozialistischen Regierung einvernehmlich zu arrangieren, fehlgeschlagen war und die Schikanen und Verfolgungen der Zeugen Jehovas nicht aufhörten, schlug die Brooklyner Zentrale härtere Töne an. So stellte Rutherford der deutschen Reichsregierung 1934 ein Ultimatum:

„Falls bis zum 24. März 1934 auf dieses ernstliche Begehren keine Antwort erfolgt und von Seiten Ihrer Regierung nichts getan wird, um den oben erwähnten Zeugen Jehovas in Deutschland Erleichterung zu gewähren, dann wird Gottes Volk in anderen Ländern, unter allen Nationen der Erde, mit der Veröffentlichung der Tatsachen über Deutschlands ungerechte Behandlung von Christen beginnen“ (ebd., S. 148).

Ein halbes Jahr später schloss sich eine noch härtere Drohung, an Hitlers Adresse gerichtet, an:

 

„Sie und Ihre Regierung haben sich der schlimmsten Verfolgungen an Gottes geweihtem Volk in Deutschland schuldig gemacht und werden deshalb, bei verharrendem pharaonischen Trotzen, das Gericht des Allmächtigen über sich bringen“ (zit. nach Garbe 1993, S. 122).

Das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft in der Anfangszeit der Hitler-Diktatur kommentiert Klaus-Dieter Pape wie folgt:

„Die WTG … hat in einer Konfliktsituation mit einem totalitären Regime versucht, durch Anpassung an dieses Regime das Funktionieren der Organisation zu ermöglichen. Allein diese Tatsache ist aus heutiger Sicht nicht unbedingt zu kritisieren. Dies ist menschlich verständlich. Auf jeden Fall muss aber kritisiert werden, dass die WTG, um dieses Ziel zu erreichen, andere Menschen übel diffamiert hat. Die ´Erklärung` und der Brief an Hitler zeigen dies ausführlich. Hinzu kommt noch der Umstand, dass die WTG heute so tut, als ob sie so etwas nie getan hätte und sie die am meisten Verfolgten unter Hitler waren. Dass die ZJ unter dem Regime zu leiden hatten und auch ZJ in Konzentrationslagern gestorben sind – darunter mein Großvater – darf nicht geleugnet werden. Jedoch muss der Umgang mit der Geschichte ehrlich sein, wenn man sich moralisch auf ein so hohes Ross setzt, wie es die WTG tut. Vor allem ist es allerhöchste Zeit, sich bei den jüdischen Opfern des Hitler-Regimes wegen den üblen Verleumdungen von 1933 … zu entschuldigen“ (ACV 4/94, S. 17).

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Zeugen Jehovas auch in zahlreichen anderen totalitären Statten Verfolgungen erleiden mussten, nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in der damaligen Sowjetunion und anderen Ostblock-Staaten (z. B. in der „DDR“) sowie in dem afrikanischen Staat Malawi. In mehreren Ländern dauern die Verfolgungen heute noch an. Aber auch unter demokratischen Regierungen stehen die Wachtturm-Anhänger- etwa wegen ihrer Verweigerung des Wehr- und Zivildienstes, des Fahnengrußes und von Bluttransfusionen – in mancherlei Konflikten (vgl. JZ, S. 678 ff.; Hutten 1982, S. 121 ff.).

Resümee eines Lebens

1938 gilt als das Jahr, in dem Rutherford seine „Reformen“ abgeschlossen hat: „Das kongregationalistische Prinzip war endgültig überwunden, der Einfluss der Ältesten beseitigt, die Organisation war straff ´theokratisch` durchgebildet. Es wurde offiziell der Grundsatz angenommen, ´dass die Gesellschaft der sichtbare Vertreter des Herrn auf Erden ist`. Der Zentralismus war nun perfekt“ (Obst o. J., S. 276). „Die Theokratische Organisation gleicht einer riesigen Propagandamaschine, die so konstruiert ist, dass alle Energien einheitlich und rationell auf die ´Verkündigung` konzentriert sind. Ein Rad greift ins andere, und alle Räder sind durch Transmissionen mit der Spitze verbunden, so dass sie sich drehen, wie die Spitze es will“ (Hutten 1982, S. 114).

Doch allzu lange konnte sich Rutherford über seinen Erfolg nicht freuen. Am 8. Januar 1942 starb er im Alter von 72 Jahren an Dickdarmkrebs, und zwar in seinem Haus „Beth Sharim“ („Haus der Fürsten“) in San Diego/Kalifornien, das er für die erwarteten Erzväter Abraham, Isaak und Jakob erworben hatte. Einige Jahre nach Rutherfords Tod hat die Wachtturm-Gesellschaft „Beth Sharim“ verkauft. Was Rutherfords Familienverhältnisse betrifft, so schweigen die Quellen zumeist. Der Grund könnte darin liegen, was der ehemalige führende Zeuge Jehovas Raymond Franz mit folgenden dürren Worten erwähnt:

„Seit vielen Jahren war er (Rutherford) von seiner Frau (Mary) getrennt gewesen, die ebenfalls bei den Zeugen war und krank und gebrechlich in Kalifornien lebte. Sein einziger Sohn (Malcolm) zeigte kein Interesse an der Religion des Vaters, als er erwachsen war“ (Franz 1991, S. 22).

Auch Leonard und Marjorie Chretien weisen auf diesen Tatbestand hin:

„Wie seinen Vorgänger, C. T. Russell, verließ auch Richter Rutherford seine Frau. Mary und ihr Sohn Malcolm zogen nach Los Angeles/Kalifornien um… Faktoren für ihre Entfremdung waren ihre schwache Gesundheit, sein cholerisches und selbstgerechtes Temperament und ganz offensichtlich die Tatsache, dass er ein ernster Fall eines Alkoholikers war“ (Chretien 1988, S. 48; Übersetzung: L. G.).

Rutherford hat 18 Bücher und 32 Broschüren geschrieben und dadurch die überholten Schriften Russells „ersetzt“ (vgl. Hutten 1982, S. 89). Die heutige Wachtturm-“Theologie“ hat er wesentlich geprägt. Dennoch erging es ihm schließlich wie seinem Vorgänger: Seine Bücher werden heute von der Wachtturm-Gesellschaft kaum noch gedruckt. Alle Veröffentlichungen, die freilich auf Rutherfords (und zum Teil auch Russells) Gedankengut aufbauen, erscheinen anonym. Verantwortlich für diesen neuen Stil ist Rutherfords Nachfolger: Nathan Homer Knorr.