Liebe Familie – Teil 4

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Liebe Familie – Teil 4
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Über das Buch:

„Liebe fragt nicht …“ – das heißt für Leona und Tom, ihre Kinder in allem zu unterstützen und ihnen keine Steine in den Weg zu legen. Serena kommt aus New York zurück und will in Hannover zur Universität, wo Felix bereits seit Jahr und Tag Wirtschaftwissenschaften studiert. Die junge Frau strebt das Lehramt an, auch wenn ihre Familie meint, sie solle sich ihres großen Talents wegen lieber ganz auf Musik konzentrieren.

Ihre langjährigen Freunde Doris und Michael Röttger sind auf der Suche nach ihrer verlorenen Liebe, nicht nur der Kinder wegen. Ihre Tochter Isabell feiert gemeinsam mit Cynthia Falkow einen Ball anlässlich der Volljährigkeit … und Cynthia – Zini – bereitet sich auf ihren künftigen Beruf vor. Traumjob: Erdbeben-Forschung.

Wie sich alles entwickelt, was an kleinen Katastrophen und vielleicht großer Liebe so alles passieren kann, bevor jeder den richtigen Weg findet, beschreibt Ihnen Linda Fischer im 4. Teil der Roman-Reihe „Liebe Familie“.

Impressum:

Liebe Familie – Teil 4: Liebe fragt nicht …

Linda Fischer

Copyright: © 2013 Linda Fischer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-6580-4

Nichts rührte sich auf der Autobahn. Sie saßen mitten im Pfingstverkehr 2005 fest. „Mama, sie landet gleich.“ „Weiß ich auch“, ungeduldig hieb Leona auf das Lenkrad. Tom angelte das Mobiltelefon aus der Tasche. „Wen rufst du an?“ „Fix. Er kann zum Flughafen fahren und Rena sagen, dass wir noch im Stau stehen.“ Doch bei Felix, Leonas ältestem Sohn, meldete sich nur die Mailbox.

„Vielleicht hört er sie bald ab?“ „Vielleicht sitzt er aber auch in einer Vorlesung und hört sie erst heute am späten Abend ab. Sinnlos, auf ihn zu hoffen. Nein, ich rufe Fred an“, entschied Tom und rief die nächste Kurzwahl auf.

„Rena denkt sicher, wir haben sie vergessen“, jammerte Jason auf dem Rücksitz. „Mamas einziges Kind“, neckte Zini frech. Tom schaute über die Schulter und lächelte: „Deine Zunge jedenfalls ist eindeutig ein Erbteil deiner Mutter – das steht mal fest.“ „Vielen Dank“, lachte Zini. „Ja, das ist nur … hallo, Fred. Ich bin’s, Tom. Könntest du uns einen Gefallen tun, oder hast du zu viel Arbeit?“

In Anbetracht der Tatsache, dass Tom Reuenthal jede Menge Geld in die junge Detektei gesteckt hatte und Fred Myers häufig für die Familie arbeitete, sagte er ganz selbstverständlich „ja“ auch zu dieser Aufgabe. Besonders begeistert war er allerdings nicht über die Unterbrechung, obwohl er nur Schreibtischarbeit liegen lassen musste.

Das Flugzeug landete pünktlich, er allerdings kam mit einiger Verspätung an. Nun galt es, Rena in diesem Gewimmel zu finden. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und war nicht ganz sicher, ob die junge Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand, die kleine Serena Falkow sein konnte.

Dieses Mädchen hatte einen flotten Kurzhaarschnitt, die Haarfarbe stimmte allerdings, und sie trug ein extrem kurzes Röckchen. Entsprechend lang wirkten die schlanken Beine. Ihre Füße standen in sehr eleganten Sandaletten. Das sah dem Kind Serena, das er kannte, kaum ähnlich. Doch auf ihrem Rücken hing ziemlich schief ein Violin-Rucksack mit einem Modena-Aufkleber, an den er sich erinnerte.

„Serena Falkow?“ Sie wirbelte bei der Anrede mit einem kleinen Glücksschrei herum, in ihren Augen leuchtete es in reiner Freude auf, als sie erkannte, wer sie ansprach: „Super. Endlich ein Gesicht, das ich kenne. Hei, Fred, bist du der Vorreiter für die Sippe?“ sprudelte sie hervor und umarmte ihn, spontan wie immer. Für einen Augenblick erwiderte er die Umarmung, doch dann bedachte er, dass sie inzwischen erwachsen war und die Stieftochter seines Arbeitgebers.

„Deine Familie“, er zögerte und überlegte, ob er sie weiter duzen konnte. Sie war jetzt kein Kind mehr, doch sie hatte auch ihn wie sonst begrüßt. „Sie stehen im Stau. Als Tom anrief, landete gerade der Helikopter. Sie werden sich also noch weiter verspäten. Da sie deinen Bruder nicht erreichten …“ „Hängt er mit einer seiner zahlreichen Freundinnen rum, unser süßer Felix? Oder ist er endlich mal an einer kleben geblieben?“ Sie gnickerte verstohlen.

„Danach solltest du ihn direkt fragen.“ „Himmel, du bist ja immer noch total diskret. Dabei bin ich mir sicher, dass du mehr weißt als wir alle zusammen. Das ist toll, dass du hier bist. Ich m-m-meine …“

Sie geriet ins Stottern und war sich bewusst, wie er ihren Gefühlsausbruch einschätzen würde. Ihre ehrliche Freude würde ihn nur irritieren. Für diesen Begeisterungstaumel brachte er garantiert kein Verständnis auf.

Doch ihr Gestammel brachte ihn auf etwas für ihn Naheliegendes: „Du bist wohl sehr müde, Serena? Ich weiß ja, du kannst im Flugzeug nicht schlafen. Wie war es?“ „Ätzend langweilig. Wenn alle anderen pennen. Ich war so gespannt und aufgeregt, dass ich liebend gern lauthals gesungen hätte. Voll die endlose Nacht. Aber jetzt bin ich hier. Und ich … Ich red‘ dir schon wieder zu viel, hm? Aber ich bin so glücklich. Endlich wieder zu Hause. Ich könnte glatt schreien vor Übermut.“ „Ist schon okay“, sagte er sanft und sah sie forschend an: „Du wirkst frisch trotz deiner langen Nacht.“

Rena kicherte kurz. „Bin ich. Eigentlich wollte ich nicht frisch aussehen. Lieber total scharf. In diesem Outfit. Um Zini zu imponieren, verstehst du? Sie ist so schön – da muss ich ein bisschen mitmachen. Ihr Konkurrenz bieten. Obwohl – so schön wie sie ist sonst keine. Allerdings … bei diesem knappen Rock gucken sie wenigstens ein Mal auf meine Beine, bevor sie ihr sämtliche Aufmerksamkeit schenken. Typisch Kerle, würde sie jetzt sagen. Gott, wie albern und kindisch von mir. Kein Mensch guckt mich an, wenn Zini hier gleich aufkreuzt. Aber im Moment gehe ich so, hoffe ich.“

Er fand sie hübsch und sehr liebenswert mit ihren ehrlichen Worten über das gewählte Outfit. Doch es war nicht seine Sache, ihr das zu sagen. Er sollte nur mit ihr gemeinsam auf die Familie warten. „Okay“, entgegnete er also nur kurz und wortkarg.

„Du hast dich nicht verändert. Immer neutral und loyal. Das ist prima“, sie nahm seinen Arm, zog ihn näher und wisperte: „Tom hat dich doch noch als Bodyguard und Trainer?“ „Ja. Warum?“

Er mochte auch ihr Parfum und staunte über sich selbst. Wie gern hätte er sie noch einmal in den Armen gehalten.

„Arbeitet Papa bald wieder? Ich meine, auf der Bühne?“ „Er ist ja gleich hier, dann kannst du fragen.“ Eigentlich wollte sie wissen, ob er ihren Vater noch immer regelmäßig begleitete, doch sie dachte nicht weiter über diesen Wunsch nach.

„Möchtest du hier auf deine Angehörigen warten – oder möchtest du dich irgendwo hinsetzen?“ Entschlossen übernahm Fred Myers ihren Gepäckwagen und kam damit einige Schritte von ihr weg.

Rena seufzte beinahe, doch sie wusste lange genug, dass dieser Mann den familiären Umgang nicht kannte. Er verhielt sich korrekt, und das musste sie akzeptieren.

„Wir können hier warten. – Erzähl mal: Hast du Probleme mit deiner Arbeit? Jagst du noch immer Diebe auf Bauplätzen?“ „Das kommt vor.“ „Viele Schwarzarbeiter?“

Er lachte über diese Frage und wirkte gleich weniger streng und abweisend: „Ja, Schwarzarbeit ist heutzutage sehr modern. Und bringt was – mir jedenfalls, wenn ich sie erwische. Nette Nächte auf Bauplätzen.“ „Mit diesen … grünen … night vision glasses“, zwinkerte sie. „Und Videokameras und all dem, was du schon an Hilfsmitteln gesehen hast, ja. Bewirbst du dich jetzt gerade um einen Job als Assistent, Serena?“ Seine Belustigung war hörbar. Sie gluckste vor Vergnügen: „Wenn du wen brauchst, der mit seiner Geige zur Nachtjagd aufspielt? Dann gern.“

Nun lachten sie alle beide, entspannt und als Freunde. Das war der Ton, der in der Reuenthal-Falkow-Familie immer herrschte. Auf diese Art neckten sie sich häufig, und Fred hatte im Lauf der Zeit den lockeren und humorvollen Umgangston schätzen gelernt.

„Du spielst also noch Geige?“ „Aber klar doch. Ich mag auch Klavierspiel. Und ich singe viel besser als früher. Aber ich liebe meine Geige. Soll ich dir was vorspielen? Gleich?“ „Ich glaube, deine Mutter würde die Aufmerksamkeit eines Willkommenskonzerts nicht sonderlich schätzen.“ „Auch wieder wahr. Dann musst du mir so glauben. Ich kann meine Klassiker. Und Jazz. Und was Altes für Jason“, sie lächelte breit.

„Ja, Jason mit seiner Begeisterung für altes Liedgut“, Fred lächelte auch. „Das hat sich nicht geändert, Serena.“ „Und Zini? Was stellt sie an? Bricht sie Herzen Tag und Nacht? Was wünscht sie sich?“ „Einen Ball – ein Sommerfest mit Ball, wenn sie 18 wird.“ „Kriegt sie das?“ „Tom hat wohl schon resigniert. Sie ist süß, intelligent, lieb. Deine Mama gibt auch schon nach.“ „Da ich in New York immerhin zwei Jahre war, steht ihr auch was zu. Finde ich. Spielst du noch das Kindermädchen für Tessa?“

Für einige Sekunden änderte sich etwas in seinem Blick, doch das schwand schnell wieder. „Manchmal“, sagte er nur, jetzt wieder wortkarg. „Fred, komm – was ist passiert?“ „Nichts.“

Rena krauste die Stirn und überlegte kurz, ob sie sich eine Nachfrage leisten konnte. „Das nehme ich dir nicht ab. Erzähl. Wir haben ja viel telefoniert, wir Familienmenschen, aber über Tessa haben sie mir nichts Besonderes erzählt. 6 bis 7 000 Kilometer sind zu weit weg. Bitte“, flehte sie: „Nur so eine kleine Geschichte aus dem Alltag.“ „Deine Familie war nicht davon angetan. Und ich sollte nicht darüber sprechen.“ „Fred, please. Ich schwatzte keine Geheimnisse weiter.“

Das wusste er. Sie konnte schweigen. Er fühlte sich so von ihr angezogen, dass er dem besser mit dieser für ihn so unrühmlichen Geschichte ein rasches Ende machte. Serena dachte viel zu gut von ihm, also wollte er ihr die Wahrheit erzählen, auch wenn ihn das ihre gute Meinung kostete. Er schilderte ihr kurz das Intermezzo mit dem Schornsteinfeger und Tessas Klettertour danach, selbstverständlich auch Leonas Wut über diese Pflichtverletzung.

 

Rena hörte heiter zu und konnte sich des Lächelns nicht erwehren. Ihre Lippen zuckten vor Belustigung.

„Das war in keiner Weise amüsant, Serena.“ „Nein, glaube ich gern. Aber du hast Tessa sicher eingeschärft, dass sie daran ohne dich nicht mal denken darf.“ „Ja“, er musste sich nicht verteidigen, nicht gegen dieses freundliche Mädchen, das die Geschichte sehr komisch fand.

„Es wär‘ total übel, wenn sie allein kraxelt. Wagt sie aber garantiert nicht. Ich muss zugeben, ich hätte da auch Lust zu – so eine Klettertour an der Wand vom Blockhaus“, sagte sie versonnen. „Falls ich dich jemals an der Wand erwische, werfe ich dich in den Bach“, warnte Fred sie ruhig. „Echt? Hm. Wow. Ich hab‘ voll Angst“, scherzte sie – und sie brachen wieder in Gelächter aus.

Sie fand diese Wartezeit herrlich und seinen Humor großartig. Ihr gefiel es, mit Fred lachend hier zu stehen. Er war sonst der Ernst in Person, und es war hinreißend, seine gute Laune zu erleben. Allzu selten ließ er sich auf solche Alberei ein.

„Rena!“ „Hallo, Rena!“ „Hier sind wir. Endlich!“ „Mein süßes Mädchen!“ Die ganze Familie stürmte auf sie zu. Rena wurde von allen ausgiebig umarmt und herzlich geküsst.

Noch bevor sie alle begrüßt hatte, eilte auch Felix mit großen Schritten durch die Wartehalle. „Schwesterherz, süßes, ich bin so gerast, aber es ging nicht schnell genug. Hab mein Handy gerade erst abgehört“, er küsste sie und sah auf ihr junges Gesicht: „Fast erwachsen siehst du aus, kleiner Spatz.“

Alle redeten durcheinander. Jeder hatte etwas zu sagen. Jason berichtete über den Hubschrauber. Tessa klebte an Rena, saß auf ihrer Hüfte und klammerte sich an die große Schwester. Rena strahlte vor Glück, alle ihre Lieben zu sehen.

Fred Myers tippte Tom auf die Schulter: „Ich gehe dann. Gute Fahrt.“ „Danke dir. Wir sehen uns nächste Woche zum Training?“ „Ja. Mach’s gut.“

Er ging ohne weiteren Abschied. Es war schwerer denn je für ihn, diese glückliche Familie zu sehen und ihre Freude über die Heimkehr von Rena, die Zini gerade noch einmal um den Hals fiel: „Endlich wieder zusammen. Ich glaube, dich habe ich besonders vermisst.“ „Du siehst scharf aus in diesem Teil!“ „Ja, und überleg mal, was ich alles im Koffer habe – für euch alle.“ „American chewing gum“, brüllte Jason lautstark. Die ganze deutsch-amerikanische Familie lachte über diesen Ausbruch.

„Wo ist Fred?“ Rena schaute sich um. „Zurück an seine Arbeit.“ „Ach. Schade. Aua, Felix, nicht so grob. Warum ziehst du an meinen Haaren?“ „Die sind ja ultrakurz, Rena.“ „Ja, total praktisch. Ich bin damit in fünf Minuten durch – inklusive Dusche“, lachte sie: „Denn Zini braucht Stunden im Bad, und da muss ich mich wenigstens beeilen.“ Ihre Familie lachte. „Wenn man schon die Schönheit der Familie ist, muss man auch was dafür tun, es zu bleiben“, tat Zini vornehm, gluckste dann aber vergnügt wie alle anderen.

„Was machen wir Pfingsten? Hast du Zeit, Mama?“ „Ich habe Zeit, Renalein. Felix arbeitet nämlich mit. Bist du müde, mein Schatz?“ „Nö. Wieso?“ „Weil mir dein Vater erzählt hat, dass du singst und dass …“ Leona stockte: „Ich meine, Tom hat gesagt“, fing sie neu an und brach verlegen wieder ab, als Jason und Felix schallend lachten.

Ihr Mann umfasste sie herzlich: „Liebe, sie ist so begabt, das kommt auch von ihrem Großvater.“ „Klar. Aber du bist mein Musik-Papa, Tom. Ist schon in Ordnung so, Mama. Soll ich singen? Mache ich gern. Wir bitten Oma und Opa dazu, wenn ihr wollt, und alle unsere Freunde. Ich habe doch mit Tom gesungen, als er in Boston und New York Aufnahmen hatte. Wir sind gut zusammen, Papa Tom, oder?“ „Mehr als nur gut.“

Über Pfingsten erlebte die ganze Familie, wie viel Rena gelernt hatte. Dass sie in Hannover studieren wollte, um Lehrerin zu werden, fanden sie eher seltsam. Denn nun erkannten alle, was Tom schon seit Jahren wusste: Ihre Begabung war mehr als ausreichend für eine Bühnenkarriere. Sie konnte singen! Rena jedoch wehrte das Lob bescheiden ab. Sie kannte ganz andere Talente inzwischen.

„Das ist doch gar nichts. Meine Freundin Mary singt Opern und hat einen göttlichen Sopran. Die solltet ihr hören. Und George tanzt viel besser als ich, er studiert nämlich Ballett.“

„Lade sie zu Weihnachten ein“, schlug Leona impulsiv vor. „Darf ich? Danke, Mama. Du wirst sie lieben. Die sind so zauberhaft. Sie sind ja beide älter als ich, aber wir sind richtig gute Freunde.“ „Wunderbar. – Und jetzt wollen wir noch mal deine Puccini-Variationen hören.“ „Gern“, das Mädchen strahlte vor Freude.

Zum ersten Mal war auch ihre stillste Tochter schön und konnte tatsächlich mit Zini konkurrieren, dachte Leona stolz. Sie erkannte deutlich, wie dieses bisher so scheue Kind selbstbewusst und glücklich auflebte. Die Zeit in New York hatte das Zuviel an Schüchternheit erfolgreich vertrieben. Die Entscheidung, Rena zwei Jahre im Ausland zu gönnen, war richtig gewesen. Das begriff ihre Mutter schon in diesen ersten Tagen voller Freude.

„Wann kommt eigentlich dein Paket mit den Büchern aus New York?“ „Das kann ich am Freitag vom Flugplatz abholen. Hilfst du mir, Felix?“ „Klar doch.“ „Ja, das sagst du jetzt. Wie oft habe ich schon vergeblich auf dich gewartet? Schreib es dir lieber gleich auf, Fix.“

Ihr Bruder winkte lachend ab: „Ich bin jetzt älter und vergesse meine Geschwister nicht mehr so leicht. Komm, Jason, eine schnelle Runde Fußball, ja?“ „Gute Idee – spielt ihr alle mit?“ Das taten die Geschwister, und bald ging es sehr lustig zu auf der Wiese, wo sie sich alle tummelten. Selbst Großvater Winfried machte mit. Das Gelächter brandete oft auf unter den großen Bäumen.

Am Abend nach dem Essen musste Rena wieder für alle spielen. Jason bestand auf etwas Altem, und sie fing an mit „Pennies from heaven“. Tom sang sofort mit. Es entwickelte sich ein strahlender Konzertabend rund um den Flügel für die ganze Familie.

Es regnete am Pfingstsonntag, doch Rena wollte unbedingt einen Spaziergang machen. Tom entschied sich, sie zu begleiten. Leona arbeitete im Hotel. Zini warf einen Blick aus dem Fenster und meinte, sie wolle lieber ihre jüngeren Geschwister hüten. Felix lachte darüber – er fuhr auf jeden Fall mit seiner Mutter zum Hotel.

„Blumen, Rena?“ „Ja. Ich wollte nämlich eigentlich zum Friedhof. Willst du wirklich mit mir gehen, Tom?“ „Ja. Es ist gut, dass du an deinen Vater denkst, Spatz.“ „Oft. Wenn du meinst …“ „Du bringst jetzt deine Maiglöckchen an Papas Grab. Und ich komme mit. Ich bin öfter dort, als du denkst, und nicht immer mit deiner Mutter. Dennis war mein Vetter. Und Freund.“

Vor dem großen Stein stand schon ein Blumenstrauß. Tom holte eine kleine Vase für Renas Maiglöckchen. Sie ordnete sie und übernahm dann wieder ihren Schirm. Nach einigen stillen Minuten gingen sie weiter.

„Ich habe gute Erinnerungen. Aber ich weiß längst nicht mehr alles, Tom. Ich will ja meinen Papa nicht vergessen, aber das ist …“ „Du warst erst 11, Schatz.“ „Es sind fast acht Jahre. Ich bin manchmal traurig, wenn ich …“ Sie sah in Toms ernstes Gesicht und fragte sich, was er wohl fühlte, wenn sie über ihren geliebten Vater Dennis Falkow sprach.

„Es regnet zu viel für den Flieder“, sagte sie schließlich still. Tom nahm ihren Arm: „Ja, er wird schon braun. Schade. Dein Vater hat Flieder geliebt, wusstest du das?“ „Nein. Flieder riecht nach Sommer. Es gibt sogar Lieder über Flieder.“ „Ja. Komm, mein Mädchen, ich weiß, wie schwer das ist. Ich habe meinen Vater auch verloren. Allerdings war er wesentlich älter als deiner.“

„Danke“, sie umarmte den Stiefvater: „Ich wollte nicht traurig sein. Und jetzt bist du’s auch. Wir schwärmen dir von unserem Vater vor … Nicht gerade rücksichtsvoll. Eher gedankenlos.“ „Schatz, er war dein Vater.“ „Und jetzt haben wir dich“, sie gab ihrem Ersatzpapa einen herzlichen Kuss und ahnte nicht, wie viel mehr als alle Worte diese liebevolle Geste tröstete. Tom fühlte sich glücklich. Die Kinder des Vetters gehörten längst auch zu ihm – und es war gut, das zu wissen.

„Wir lieben dich alle, Tom. Wir lieben dich so sehr. Als unseren Vater.“ „Und ich liebe euch alle, meine Kinder. Sie behaupten immer, dass du mein Herzenskind bist. Das ist wohl wahr. – Soll ich dir helfen, dich an deinen Vater besser zu erinnern?“ „Vielleicht sollte ich lieber bei Mama bei Gelegenheit mal nachfragen.“ „Aber ich habe Abenteuer mit Dennis und Mats erlebt, von denen deine Mama nichts weiß.“

„Abenteuer?“ Rena riss die Augen auf und hörte gespannt zu, was ihr Stiefvater erzählte. „Wir waren segeln. In Stockholm – auf dem Mälar. Und ein Sturm zog auf. Dein Vater hat aufgepasst, alter Hamburger Seehase, der er war – wir sind nicht verunglückt. Mats ist auch ein hervorragender Segler. Das war … geil“, die braunen Augen leuchteten wie Gold. Er konnte sich noch immer für das Erlebnis begeistern. „Dir hat die Gefahr wohl gefallen?“ „Sehr. Nicht Mats mit seinem kranken Rücken oder deinem vernünftigen Papa, aber ich hab’s großartig gefunden.“

Er beschrieb das „Abenteuer“ noch ausführlicher. Da es damals gut gegangen war, konnte Rena über die launige Beschreibung lachen, vor allem, als Tom lässig endete: „Ich kann schwimmen, es war Land in Sicht, wir hatten Schwimmwesten – also eigentlich gar nicht gefährlich.“ Rena kicherte: „Nö, nur Spaß. Segeln im Sturm …“

Es war wunderbar, etwas zu hören aus einer Zeit, von der sie nichts wusste. Sie liebte die Geschichten aus der Jugend ihrer Großmutter. Oft fragte sie nach. Als einziges der Kinder war sie an Geschichte interessiert und nutzte jede Möglichkeit, Zeitgeschichte und neue Geschichte von den Zeitzeugen in ihrer Familie zu erfragen. Sie lernte dabei, ohne wirklich zu lernen, behauptete sie.

***

„Ich fahre demnächst nach Australien“, sagte Tom heiter nach einem langen Telefonat. Leona rümpfte die Nase: „Ohne mich?“

Ihr Mann hörte gar nicht so genau hin, was sie einwarf, sondern sprach einfach weiter, da ihm die ganze Familie zuhörte: „Nach Queensland. 14 Tage im Juli. David Blanasi spielt mit seinen Aborigine-Freunden was ein und will mich dabei haben.“ „Wow! Wie aufregend! Fantastisch“, rief Rena. Tom lachte zwar darüber, aber das Glück über diese Bitte war ihm mehr als deutlich anzuhören: „Ist nur Arbeit, mein Schatz. Kein Segeltörn.“

„Was ist das denn für’n Spruch?“ fragte Felix dazwischen. Rena winkte ab: „Nur ein Witz. – Erzähl schon, Tom. Wo geht ihr hin?“ „Wir haben die Erlaubnis, auf Aborigine-Eigentum zu filmen. David hat ja jede Menge Verwandte dort und …“

Er redete und redete, und alle sahen ihm die Freude an, den Freund wieder einmal zu treffen. Von diesem Sommer an machte David Blanasi die Tournee nicht mehr mit. Tom zog allein los – mit Mädchen-Chor und Orchester. Er hatte die „Jazz goes Didgeridoo“-Touren seit 2001 geschätzt, doch David hatte eigene Pläne, und auch Tom hatte massenhaft neue Ideen. Dennoch freuten sie sich beide darauf, die Zusammenarbeit mit einem anderen Projekt fortzusetzen.

Am Mittwoch rückte Fred mitsamt Laptop an. Da Tom Geld in seiner Firma stecken hatte, wollte er Rechenschaft ablegen. Tom guckte eher angewidert: „Ich kann sowieso nicht richtig rechnen. Das weiß doch jeder.“ „Der Computer rechnet für dich. Du sollst sehen, wie ich mit deinem Geld umgehe. Es ist Zeit für die Kassenprüfung.“ Fred blieb dabei. Sein Gegenüber stöhnte: „Wenn ich absolut muss.“ „Du musst wissen, was aus diesem Kredit wird.“

Rena schaute zu ihnen. Dort wurde sie nicht gebraucht. Also erkundigte sie sich: „Und was mache ich? Ich habe gerade keine Aufgabe. Kann ich dir helfen, Zini?“ „Nichts da – verboten!“ „Jason?“ „Ich bin schon fertig. – Papa, kann ich zu Ruben fahren? Wir wollen Fußball auf dem Schulhof spielen.“ „Ja, meinetwegen.“ „Dann ruf ich da mal eben an …“

„Nimm dir die Gitarre und üb. Rodrigo“, empfahl Tom. Fred Myers blickte auf. Er kannte diesen Namen – im Zusammenhang mit Serena und der Gitarre. Sie guckte fragend zurück, weil er ihr so schnell einen Blick zuwarf, und ahnte jäh, dass er die Situation missverstand.

„Der nicht. Es ist das Concierto d’Aranjuez. Von Joaquin Rodrigo. Nur Musik, Fred. Passt zum Frühling. Ziemlich schwer, weil ich das ewig nicht mehr gespielt habe.“ „Du könntest ja eine frühlingshafte Schalmei auspacken“, kicherte Zini. „Was auspacken?“ Jason legte auf. Er hatte den Rest gehört und guckte erstaunt zu den Schwestern. Keine antwortete, sie lächelten sich verschmitzt zu.

Rena drehte sich zu Tom um. Der lehnte ab: „Dein Vortrag.“ Sie zwinkerte: „Ja, vielleicht. Zini – erklär Schalmei.“ „Keine Ahnung. Ich kenne nur das Frühlingslied. Es tönen die Lieder. Da kommt eine Schalmei drin vor.“ „Sing“, kommandierte Rena. Zini wirkte verunsichert, begann aber. Tom und Rena setzten nacheinander ein bei dem Kanon.

 

„Der Frühling kehrt wieder“, es klang wie ein Spiel. „Es spielet der Hirte auf seiner Schalmei“, die Melodie hörte sich fröhlich an. „Tiralalalalala lala ...“ Fred hörte dem munteren Intermezzo lächelnd zu.

„Damit wissen wir aber immer noch nicht, was eine Schalmei nun ist“, erinnerte Tom sie schließlich. „Eine Art Flöte?“ riet Zini. „Ein altes Holzblasinstrument aus dem Mittelalter“, wusste Rena. „Und später aus Blech. Ein Instrument, das zu den Martinshörnern zählt“, ergänzte Tom. „Damit soll ich also mein Concierto spielen?“ kicherte Rena: „Weißt du, was ich haben möchte, Tom? Eine Harfe. Eine große Konzertharfe. Aber Mama erwürgt mich, wenn wir eine riesige Harfe ins Haus schleppen. Eine Schalmei ginge. Die könnte ich heimlich im hintersten Schrankeckchen verstecken“, scherzte sie und guckte verdutzt, als Fred lachte.

„Ja, ja, unsere beiden Musiker. Das waren traurige Weihnachten, als Rena ihr Schlagzeug bekam, Fred“, erzählte Zini und kicherte. „Traurig? Deine Mutter hat es überlebt – und die beiden Musiker wohl auch“, spöttelte er und wechselte einen heiteren Blick mit Rena, die eifrig nickte. Doch dann fiel ihm auf, dass er sich ins Familienleben einmischte.

Ernst wandte er sich an Tom: „Wir müssen arbeiten. Du musst jetzt endlich meine Abrechnungen durchsehen. Und wir müssen einen Plan für dein Training aufstellen, bevor du nach Australien reist“, die Stimme klang hart und kalt: „Auch deine Kinder haben ihre Aufgaben.“

„Himmel, du bringst echt Zucht und Ordnung ins Haus“, alberte Zini. Fred wollte sich nicht auf ihre Frechheiten einlassen und überhörte den Einwurf. Seine Fröhlichkeit schien vergangen. Tom schmunzelte jedoch: „Freche Göre.“ Zini kiekste vergnügt.

Ihre Schwester holte sich die Noten und überflog sie, bevor sie die Gitarre aus dem Kasten packte. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihr war es ein Rätsel, wie Übermut und Gelächter so leicht erstickt werden konnten, wie sie fast stritten von einer Sekunde auf die nächste. In einem Augenblick lächelte Fred sie an, im nächsten stauchte er alle zurecht. Sie starrte auf die Noten, ohne etwas zu sehen. Es war ungerecht – er hatte immerhin als erster gelacht, froh und leichtherzig wie selten.

„Da ich jeden Dienstag und Donnerstag im Sonnigen Garten arbeite, bleiben uns Montag, Mittwoch und Freitag für das Training. Nicht nur am Vormittag, fürchte ich. David ist etliches jünger, und seine Freunde sind garantiert gut trainiert. Könntest du zwischendurch auch mal einen ganzen Tag erübrigen? Mittwochs?“ „Ja.“ „Dann steht’s fest. Vom Frühstück bis zum Abendessen darfst du mich quälen. Was ist mit dem Honorar?“ „Da es mehr als gewöhnlich sein wird und ich mit der Detektei wohl Aufträge ablehnen muss … und bei intensivem Training auch mal mit blauen Flecken rechnen – 50 Euro pro Stunde.“ „Okay.“ „Das war ein Witz, Tom. Das ist zu viel.“ „Nein. Und deine Anreise bezahle ich auch, vergiss das nicht, wenn du die Rechnung schreibst.“

Sie sprachen Englisch, doch die Kinder folgten mühelos. „Du verdienst gut“, meinte Jason. „Das geht dich nichts an“, entgegnete Fred scharf. „Aber wir profitieren auch alle davon. Wenn ich eine Pause brauche, schicke ich Fred zum Kindergarten, Tessa abholen“, neckte Tom. „Wie du mich in der bezahlten Zeit einsetzt, spielt keine Rolle“, erwiderte Fred trocken. Alle lachten, als Jason „Fußball“ murmelte.

„An einem Mittwoch müsst ihr pausieren. Rena hat am 8. Juni Geburtstag. Ist dieses Jahr ein Mittwoch.“ „Dann komme ich in der Woche an einem anderen Tag“, entschied Fred sofort. „Das sind noch zwei Wochen. Wir finden eine passende Zeit.“

„Vielleicht solltest du trotzdem kommen. Die Familie kann Hilfe brauchen. Du kannst die Zwerge hüten. Sorry, Jace. Wir trainieren dann eben nur am Vormittag, und am Nachmittag kriegst du Kaffee und Kuchen. – Wenn du damit einverstanden bist, Rena?“ „Ja, sicher, Tom. – Es war sehr nett von dir, neulich zum Flughafen zu kommen. Ich muss also auch nett sein“, sagte sie vorsichtig, an Fred gewandt.

Frederick Myers sah das Mädchen an. Für den Moment fand er keine Worte. Schließlich entgegnete er ruhig: „Tom hat mich darum gebeten, da sie sich durch den Stau und den Autounfall auf der Autobahn verspäteten und auch noch die Landung des Hubschraubers abzuwarten hatten, außerdem bezahlt er mich gut genug, um auch Sonderwünsche erfüllt zu bekommen. Ich hätte wohl kaum ablehnen können.“

Trotz dieser deutlichen Zurückweisung blieb Rena freundlich: „Es war trotzdem eine nette Geste. Ich habe mich gefreut, dass du da warst und mit mir auf meine Familie gewartet hast. Und ich würde mich auch freuen, wenn du hier ein Stück Kuchen mit uns isst.“ Sie wartete ernst auf die Antwort.

Nach Toms Einladung und ihren freundlichen Worten war eine Ablehnung unmöglich. Er wollte sie nicht kränken. Doch seine Zustimmung kam eher unwillig. Er wusste zu gut, wie Geburtstage in Deutschland und zudem in dieser herzenswarmen Familie abliefen. Es war ärgerlich, kein eindeutiges und klares „Nein“ hinbekommen zu haben. Also zuckte er betont gleichgültig mit den Schultern und tat es mit einem reichlich nachlässigen „Okay“ ab.

„Und ich brauche auch kein Geschenk. Ich freue mich über Gäste. Von Rachel und Aaron habe ich gelernt, wie anders Geburtstage in Amerika sind.“ Er schaute sie schweigend an und wusste nicht recht, welche Reaktion sie erwartete. Also fuhr sie entschlossen und mit einem Augenzwinkern fort: „Ich freue mich, wenn du Kuchen isst. Und Mama ist sicher einverstanden mit Apfelkuchen. Vielleicht tröstet dich das, nachdem wir dich so überrollt haben.“

Sie sprühte geradezu vor Charme mit ihrem Lächeln. „Überrollt?“ „Aber klar. Weil wir so überaus nett zu dir sind und du keinen Rückzug hinkriegen konntest“, neckte Rena. Zini gluckste: „Vergiss es, Rena. Fred reagiert nicht mal auf meinen Glanz, und du bist im Flirten eine Null.“ „Ich flirte nie. Ich sage nur, dass wir alle super-duper-ober-riesig-nett sind.“

„Und wenn du nicht mal ein Geschenk willst und er sich durch den Kuchen futtern kann, spart er sogar“, wandte Jason vernünftig ein. „Schluss jetzt. Er kommt also. Und jetzt arbeiten wir“, beendete Tom die Diskussion. Jason warf ihm einen nervösen Seitenblick zu und verschwand lieber. Zini verzog das Gesicht.

Rena unterdrückte ein Kichern. Sie fand es saukomisch, wie energisch ausgerechnet ein ruhiger und zurückhaltender Mann wie Tom alle zur Ordnung rief, und das mit wenigen Worten. Sie biss sich auf die Lippen und schaute zu Fred. Auch er kämpfte gegen das Lachen an, weil Zini stocksteif auf ihrem Stuhl saß und sich bemühte, ihren Stiefvater nicht weiter zu ärgern.

Auch Tom fiel das auf. „Rena – das Konzert?“ Er zwinkerte ihr lächelnd zu. „Ja, schon dabei“, entgegnete sie und kämpfte weiter gegen den Reiz an, herzhaft zu lachen. Es war lustig, zwei Komplizen gegen ihre jüngeren Geschwister zu haben. Zini stand langsam auf und verzog sich, noch immer fast übertrieben vorsichtig. Rena begann mit ihrem Musikstück und kam so über die Lachlust hinweg.

Als Tom seinen Kalender holte, saßen Fred und Rena für einen Moment allein im Wohnzimmer. „Gefällt dir das Rodrigo-Konzert?“ „Ja.“ „Das war der 2. Satz aus dem Concierto d’Aranjuez. Hast du das schon mal gehört?“ „Nein. Wer war dieser Rodrigo?“ „Er war blind. Als er drei Jahre alt war, wurde er blind. Hör mal, diese Stelle, so leicht, so zart, so romantisch“, sie spielte einige Takte und schaute wieder hoch.