Liebe Familie – Teil 4

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Er hatte die kleine Musikerin immer gemocht, seit Jahren, seit diese zarte Freundschaft begonnen hatte, sozusagen über ihre Geige hinweg – und er hatte dagegen angekämpft. Doch nach diesem Tag wusste er nur zu gut, dass aus diesem Gefühl Liebe geworden war.

Es gab niemanden, der ihm so viel bedeutete wie Serena Falkow – auch die Ehe mit Jane war nur etwas Nebensächliches, Kurzlebiges gewesen. Diese Liebe jetzt veränderte alles.

Doch Glück brachte ihm das nicht. Sie mochte wie eine wahre Freundin für ihn gekämpft haben, aber sie war sehr jung. Ihr Einsatz galt nur der Gerechtigkeit, die sie bei Samantha vermisste und sehr streng einforderte.

Falls mehr dahinter steckte, war es seine Sache, die daraus entstehenden Probleme einzuschätzen und alle Schwierigkeiten zu unterbinden. Der Altersunterschied war viel zu groß. Sie wurde gerade mal 19, er war inzwischen 29. Ihr Stiefvater war sein Arbeitgeber. Ihre Eltern würden sich bedanken für einen Freund wie ihn für ihre Tochter – einen reichlich verschuldeten Emporkömmling aus den Slums von Los Angeles. Und es gab noch andere Geheimnisse, die ihn von ihr trennten.

Es tat nicht gerade gut, an jeden Augenblick mit Serena zu denken – wieder und wieder. Es war Unsinn, von einem Mädchen aus solchen völlig anderen sozialen Verhältnissen auch nur zu träumen. Er musste sich von ihr fern halten, sie vergessen – und aufpassen, dass Samanthas gemeine Anspielungen nicht zur Wahrheit wurden.

Auch Serena musste diesen Tag am Abend überdenken. Was hatte Sam gesagt? Ob sie in Fred verliebt war? Das glaubte Rena kaum, solche Gefühle stellte sie sich ganz anders vor.

Allerdings hatte sie sich über die erste Begegnung am Flughafen riesig gefreut. Es war schön gewesen, mit ihm heute über die Natur zu plaudern, über Musik, nachdem die Streitigkeiten beigelegt waren.

Mochte er sie überhaupt? Ab und zu, wenn auch eher selten, hatte sie diesen Eindruck. Zumindest ihre Musik erreichte ihn.

Manchmal dachte sie dennoch, er ertrüge sie wie den Transport von 38 kg Büchern – als quälende Notwendigkeit. Wie gut, dass er den Krach mit Sam nicht gehört hatte. Wie dumm, so auszurasten – und wie traurig …

Sie stand entschlossen auf. Es war höchste Zeit, sich wieder mit Samantha zu vertragen. Das durfte nicht über Nacht zwischen ihnen stehen.

An der Tür rief sie leise: „Sam?“ „Hm?“ „Ich kann nicht schlafen. Ich will mich gern wieder mit dir vertragen. Können wir reden?“ „Gut, dass du … Ich bin schon die ganze Zeit sehr traurig deswegen. Komm doch rein.“ Sie machten sich die Versöhnung gegenseitig so leicht wie möglich.

Eine Etage höher schloss Tom leise die Schlafzimmertür. „Was hast du?“ „Ich war nur nervös wegen Sam und Rena. Sie haben nichts verraten über ihre Auseinandersetzung. Aber ich glaube, sie sind sich wieder einig“, stellte er erleichtert fest.

Leona lachte leise: „Du bist nicht daran gewöhnt. An Streit. Rena streitet sich nie … na, selten mit Zini. Aber Sam ist älter und meint, sie habe das Recht auf ihrer Seite, wenn sie ihren jüngeren Geschwistern sagt, wie alles sein soll. Rena ist aber kein Kind mehr. Sie ist als sehr selbstständiger junger Mensch aus New York gekommen. Sie weiß, was sie will. Allein, ohne Hilfe.“

Ihr Mann seufzte, obwohl er ihr beipflichtete: „Es war eher diese unerträgliche Stimmung im Haus. Gut, dass du nicht da warst.“ „Und mich nicht eingemischt habe? Hätte ich wohl. Ich mag auch nicht, wenn sie sich zanken.“ „Wow, du bist ja richtig hexig.“ „Tom!“

„Was mit einem kleinen Kampf – so zwischen uns Liebenden“, schlug er lustig vor. Leona gluckste und warf ihr Kopfkissen nach ihm: „Niemals!“ „Hallo – du schießt auf mich. Warte, Mädel, warte …“

„Sei bitte noch mal ernst. Wenn Sam und Rena uneins sind, auf wessen Seite stehst du dann, Tom?“ „Auf keiner, Schatz. Ich hoffe, Rena tut das, was richtig ist für sie. Und wenn sie Sam stutzt, diese kleine Angeberin mit ihrem Doktor-Ehemann … Ich gebe gern zu, wie sehr ich Sam nach dem Tod ihrer Eltern verwöhnt habe. Verzogen“, korrigierte er.

Leona nickte bedächtig und zog ihn dann doch wieder auf: „Habe ich immer gesagt, Tom.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte schief: „Ja. Du elende Besserwisserin. Trotzdem – viel zu spät für Sam. Rena jedenfalls fordert nichts. Ich höre außerdem dauernd, was du willst: keine überdimensionalen Geschenke. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass Rena wie Dudley Dursley kreischt, wenn es nicht 38 oder 39 Geschenke sind in diesem Jahr.“ Sein Harry-Potter-Zitat brachte Leona zum Kichern.

„Das war schon ein sehr seltsamer Tag. Im Hotel bricht die Software zusammen … Zum Glück hat Sylvia gleich ihren Roswin erreicht, der das dann mit deinem Schwager retten konnte. Rena musste erleben, wie nachlässig Felix ist. Nicht gerade Fix, wie sie ihn nennen. Samantha ist ohne Vorwarnung aufgetaucht …“ „So konnte sie Tessa hüten, während wir im Hotel waren.“ „Und Jason haben wir zu Trautmanns Jan abgeschoben. Meinst du, das ist der Auftakt zu noch mehr Katastrophen und Chaos-Tagen? Was bricht wohl als nächstes über uns herein ...“, dehnte sie. „Vier Töchter sind doch schon Katastrophe genug, oder?“

Erneut lachten sie beide los. „Kennst du Zinis Neuen schon, Tom?“ „Ihren Neuen? Oh, nicht schon wieder“, stöhnte der Mann. Leona zuckte schicksalsergeben mit den Schultern: „Steffen. Fährt viel zu schnell, wenn du mich fragst. Ich mag es gar nicht, wenn unsere Mädchen bei diesen jungen Typen einsteigen, die es für männlich halten, wie der Teufel durch die Gegend zu brettern.“

Ihr Mann dachte nach und hatte jäh den Eindruck, Reifen quietschen zu hören. „Steffen? Ist das der Steffen, an den ich denke? Der bei jedem Anfahren das Grundwasser hoch holt? Na, Mikka Häkkinen ist er nicht.“ „Hält er sich aber für. Oder für einen der Schumacher-Brüder.“ „Gut, dass wenigstens Rena bei einem einsteigt, der ein guter Autofahrer ist. Dass Fix sie vergessen hat … Weißt du, was Zini an ihrer Stelle getan hätte?“

Einen Moment lang sahen sie sich zweifelnd an. „Zini hätte sich einen Chauffeur erflirtet. Ach, mein lieber großer starker Mann, diese Pakete sind so entsetzlich schwer“, flötete Tom. Leona prustete los: „Genau, du verrückter Kerl. Ja, aber Rena schleppt allein und traut sich nicht, Fremde um Hilfe zu bitten. Gut, dass Fred Zeit hatte. Und du, mein großer starker Mann ...“ „Ja?“ „Hast du noch genug Energie nach deinem Arbeitstag für einen Kuss, bevor wir das Licht ausschalten?“ „Mehr als nur das“, lachend umfasste er seine Frau: „Mit Roswin und meinem Schwager an der anderen Seite der Leitung war dieser Arbeitstag gar nicht so schlimm.“

Am Wochenende war es schwül, doch wesentlich wärmer als zuvor. Tom schlug der Familie eine Radtour vor. Er wollte Bewegung und nicht nur mit ihnen im Liegestuhl hängen. Rena stimmte zu, Zini zeigte sich unschlüssig. Ihr Stiefvater trieb sie alle mit übermütigen Neckereien an, und so wurde es ein lustiger Ausflug. Am Abend wollte Leona dann etwas Musik von ihm hören, er sollte es sich nicht zu gemütlich auf dem Sofa machen mit ihr. Er winkte faul ab und behauptete, er sei zu müde.

„Da sind wir ein einziges Mal Rad gefahren. Ich will den schönen freien Abend mit Musik krönen, und du bist zu müde?“ „Männer“, Zini tröstete ihr Mutter: „Mama, wir bitten Rena. Sie kann auch für uns spielen.“

„Ich passe auf euch dumme, unverschämte, nervige Raubtiergruppe auf … den ganzen Tag, spendiere Eis und Cola und sonst was, und jetzt bildet ihr eine Art undankbare Frauensolidarität gegen mich, weil ich müde bin?“ Tom musste nach diesem kleinen gespielten Ausbruch gähnen und lachte dann mit seiner Familie darüber.

„Es ist schon halb zehn. Okay. Du hast meine Erlaubnis, ins Bett zu gehen, wenn du Mama fragst und ein netter Junge bist“, zwinkerte Zini.

„Ins Bett? Gute Idee. Komm, Leo“, er grinste geradezu anzüglich, rollte dazu mit den Augen, und die Mädchen kicherten. „Thomas!“ rief Leona. „Nicht vor den Kindern“, setzte Zini betont vornehm dazu und lachte quietschend: „Oh, Mama, du bist immer so witzig.“

„Ich war immer der Meinung, ihr Kinder solltet …“ fing Leona sehr korrekt an. Tom warf sich quer über das Sofa zu ihr, fiel fast herunter und fing dennoch an, sie zu küssen, wo immer er sie erwischen konnte. „Ich meine auch ganz viel“, murmelte er: „Und hoffe auf noch mehr!“ Die Mädchen prusteten erneut los.

„Jetzt hör mal auf mit der Alberei“, Leona kicherte ähnlich übermütig wie ihre Kinder. „Du bist einfach herrlich“, Tom tastete über ihren Arm. „Hör auf“, sie versuchte, sich zu befreien. Ihr Mann verlor endgültig das Gleichgewicht und rutschte vom Sofa. Doch das hinderte ihn nicht. Er zerrte sie zu sich herunter: „Komm, Liebste, komm.“

Leona lachte schallend und konnte sich nicht länger halten. Kichernd und hilflos lag auch sie auf dem Boden, halb auf Tom. Zini zog einen Sessel weg, damit sie mehr Platz hatten: „Na – blaue Flecken?“ „Nein, noch nicht. Und gleich liege ich besser“, Tom zog Leona etwas höher.

Sie kämpfte dagegen an, prustend und vergnügt, stemmte beide Hände gegen seine Schultern, bekam sich aber kaum ein vor Lachen. „Ich kann nicht mehr“, gluckste sie und gab auf. Tom grinste, küsste sie heftig, half ihr dann aber hoch. Zini, Rena und auch Leona mussten sich Lachtränen abwischen.

„Jedenfalls ist er jetzt wach, Mama.“ „Hellwach“, Tom blinzelte: „Aber in Wahrheit total müde.“ „Okay, dann geh ruhig. Ich komme gleich nach“, versprach seine Frau: „Gute Nacht, Schatz.“ „Komm nicht zu spät, Süße.“ Er kniff ein Auge zu.

Rena und Zini kicherten noch, als sie allein im Wohnzimmer saßen. „Das ist total rührend. Er ist wirklich in Mama verliebt.“ „Ja, und sie in ihn. Passiert so was öfter, Zini?“

Einen Moment lang runzelte die Jüngere die Stirn und dachte darüber nach. „Nein. Nicht sehr oft. Mama arbeitet viel. Tom ist auf Reisen. Er muss im September in die Schweiz, geht im Juli auf Tour in Queensland … Und wir sind ja nicht immer dabei wie jetzt am 3. Juni in Hannover. Eigentlich haben sie nicht viel Zeit füreinander – wir sind ja auch noch dabei … Du kennst doch Mama.“ „Ja. Wie sagtest du: Nicht vor den Kindern.“ Sie juchzten schon wieder. Es dauerte eine Weile, bis dieser Kicheranfall endete.

 

„Du, Zini, kann ich dich was fragen?“ „Klar.“ „Warst du schon mal so verliebt wie die beiden?“ „Ich? Nee. Nie. Nein. Das ist zu schwierig, denke ich.“ „Ja. Vielleicht. Und ich mag sowieso nicht, wenn mich wer anfasst. Seit …“, sie überlegte.

Zini nickte verständnisvoll und dachte auch darüber nach. Ihre Schwester war anders als sie, kam eher nach der zurückhaltenden Mama und wich Berührungen aus. Dabei ging sie mit Eltern und Geschwistern liebevoll um. Innerhalb der Familie war sie sanft und zärtlich.

„Seit diesem Rodrigo, Rena? Ist es immer noch wegen dem?“ „Das auch. Aber nicht nur der. Diese Schuljungen da in New York … mit ihren dicken, feuchten Fingern“, Rena schüttelte sich vor Widerwillen: „Ich will nicht von einem Fremden geküsst werden. Ich kann nicht so albern wie Mama und Tom.“ „Das nennt man Vorspiel“, Zini blinzelte heiter.

Rena verschlug diese Erwiderung glatt die Sprache. Doch sie nickte schließlich überzeugt. So schätzte sie die spontane Alberei der Eltern ebenfalls ein.

„Weiß ich. Ich mag es aber nicht. Für mich. Wie Oma sagen würde: Ringelpiez mit Anfassen – igitt! Darum hatte ich immer nur George als guten Freund in New York. Ist super, wenn einer Mädchen nicht gleich an die Wäsche geht.“

„Aber du kannst doch nicht nur homosexuelle Männer als deine Freunde haben. Du siehst doch – Mama und Tom – das ist cool. Die sind lieb und lustig und … Erinnerst du dich noch, ob sie mit unserem Papa auch so gespielt hat?“

Bedauernd verneinte Rena: „Nicht so genau. Und das kann man Eltern ja nicht fragen. Tom … spielt immer mit ihr. Ich glaube, Papa hatte nicht so viel Zeit für Spielereien. Und mit Tom hat sie schon immer Witze gerissen.“ „Ja, und er singt für sie.“ „Nicht heute Abend.“ „Vielleicht gerade jetzt.“ „Das glaub‘ ich nun weniger.“ Sie kicherten wieder.

***

Ende Mai, während Tom mit Fred trainierte, bekamen die Mädchen Besuch vom Schulorchester. Sie spielen, tanzten und sangen. Rena und Zini genossen es, besonders Rena, die ihre alten Bekannten lange nicht gesehen hatte. Es war herrlich, mit ihren Schulfreunden auf der Terrasse das Wiedersehen bei Musik und Tanz zu feiern.

Musik im eigenen Garten interessierte naturgemäß auch Tom. Er kannte die meisten der ehemaligen Mitschüler von Rena und plauderte in einer Trainingspause mit ihnen. Er amüsierte sich ebenso köstlich wie ihre Schulfreunde, als Rena eine neue Sängerin nachmachte, Annett Louisan: „Die Nacht war lang und ich 'n bisschen breit“, sie spielte die Rolle perfekt.

Die anderen baten um mehr, als sie aufhörte. „Ich bin erst ein paar Tage zu Hause. Ich kann nicht alle ihre Lieder.“ „Improvisation ist das halbe Leben. Komm, hier ist ein Text von ihr, sing es vom Blatt.“ „Wie ihr wollt.“ Sie sah nur einen Moment auf die Noten, dann nickte sie den Musikern vom Schulorchester lachend zu.

Da es ihr viel Spaß machte, übernahm sie die Rolle der Sängerin nur zu gern wieder: „Kauf mir 'n Ring, schmeiß 'n Fest. Mach mir 'n Kind, bau mir 'n Nest – bevor dieser Rausch wieder nachlässt ...“

Dazu tanzte sie mit Nico und war glücklich über die Anerkennung aller. Nico schwang sie herum und stellte sie am Ende des Liedes auf der Balustrade ab, die rund um die Terrasse verlief. Er hielt ihre Hand, um ihr Halt zu geben, und Rena bedankte sich lachend mit einem Knicks auf ihrem schmalen Laufsteg für den Applaus.

„Super!“ „Du hast es voll drauf.“ „Zu dumm, dass du nicht mehr im Orchester bist, Rena.“ „Du musst zurück zu uns kommen.“ So riefen sie durcheinander. Rena lächelte geschmeichelt: „Vielleicht – in 10 Jahren. Dann aber als Lehrerin.“

„Ich habe Getränke für alle“, Zini servierte. „Hurra, hurra, Schönheit.“ Auch die Jüngere wurde bejubelt. Die Neckereien und Albernheiten setzten sich fort.

Da sie auch etwas trinken wollte, hüpfte die junge Sängerin von der steinernen Balustrade und landete direkt neben Fred. Er wirkte grimmig. „Hat es dir nicht gefallen?“ „Nicht mein Stil.“

Rena schaute ihn fragend an, verblüfft über so viel Kälte. Doch dann lächelte sie. „Ja, stimmt, du magst Klassik lieber. Ich mag alles“, sie wandte sich dem Orchester zu: „Leute, wie ist es mit Rap? Meine afroamerikanischen Freunde haben mir ein paar Dinge beigebracht, besonders Dizzie. Vanessa, Simone, ihr mögt doch Rap?“ „Nico auch.“ „Stellt eure Gläser hin. Jetzt legen wir richtig los.“

Tom verabschiedete sich: „Rap brauche ich heute nicht, Training ist wichtiger. Komm, Fred, wir machen weiter.“

Er ahnte, wie erleichtert sein Trainer war, von den jungen Leuten fort zu kommen. Mit so viel Leichtsinn und Jugend konnte der sichtlich nichts anfangen. Allerdings wusste nicht mal Tom, was sich unter der Oberfläche abspielte – Fred folgte ihm mit stoischer Ruhe und gab sich keine Blöße.

Die jungen Orchester-Musiker hatten alles mit für ein Grillfest. Das erlaubte ihnen Tom gern. Nach dem Essen räumten sie auf und verabschiedeten sich fröhlich von ihm und den Falkow-Schwestern. Die meisten wollten nach Hannover, wo der Kirchentag eröffnet wurde. Zini war mit Isabell, Ricky und Steffen verabredet. Sie zogen in die Diskothek. Rena hatte keine Lust, als fünftes Rad am Wagen mit ihnen zu gehen. Sie holte ihr Rad.

„Morgen sollen 32 Grad werden, da gurke ich lieber heute durch die Gegend“, erklärte sie Tom: „Jason und Tessa spielen in der Sandkiste. Die brauchen mich nicht.“ „Gut. Viel Spaß“, antwortete ihr Stiefvater freundlich. Sie nickte.

„Wohin willst du?“ fragte Fred, ohne noch länger zu zögern. „Das kannst du eine junge Dame nicht fragen“, lachte Tom. Rena stimmte in sein Lachen ein: „Und du darfst auf keinen Fall über meine Heimlichkeiten reden, liebster Papa.“

„Serena, ich erwarte eine Antwort: Wo willst du hin?“ „Weg“, erwiderte sie kurz, und da Tom schmunzelte, zwinkerte sie ihm zu und fand diesen Machtkampf eher komisch und zum Kichern. „Serena!“

Sie legte den Kopf schräg: „Du musst an deinem Deutsch dringend arbeiten. Wie wäre es mit einem: Bitte?“ „Wohin willst du?“ Jedes Wort kam mit Nachdruck, doch sie wiederholte nur: „Weg.“ „Du erzählst jetzt, wohin du willst, Serena“, die Stimme war eisig. „Nein“, trotzte sie und wandte ihm den Rücken, sprang auf ihr Fahrrad und trat hastig los.

„Du lässt das zu?“ Fred sah Tom verärgert an. „Sie ist erwachsen. Hast du das übersehen? Sie ist keine 15 mehr. Sie fährt oft mit ihrem Rad ins Dorf oder mal im Wald spazieren, trifft Gäste … Sie kommt nicht immer früh nach Hause, aber das ist nicht meine Sache. Und deine auch nicht“, Tom war noch immer belustigt. Fred schwieg.

Missmutig radelte Rena die Straße entlang. Sie mochte so nicht gefragt werden. Allerdings imponierte ihr durchaus, wie unbeeindruckt Fred bei der Sache blieb. Er versuchte immer, die ganze Familie zu behüten.

Während sie um den See radelte, schwand der Ärger. Sie war sowieso lieber freundlich. Vielleicht sollte sie Eis mitbringen, um die Stimmung zu verbessern. An der Eisdiele jedoch vergaß sie ihre Pläne schnell wieder, weil sie einen alten Bekannten traf, der ihr ein neues Auto vorführte.

An diesem Abend war es warm genug, um auf der Terrasse zu essen. „Wo steckt die Raubtiergruppe?“ wollte Leona wissen. „Jason wäscht Hände, mit Tessa.“ „Und der Rest, Jungs?“ „Zini in der Disse, Rena radelt.“ „Jetzt noch? Hat sie dein Handy mit?“ „Nein.“ „Hat sie gesagt, dass sie nicht zum Abendessen da ist?“ „Nein. Aber sie hat sich mit Fred gestritten – insofern …“

Der schaute hoch: „Wir waren uns vielleicht nicht einig, aber das bedeutet nicht, sie müsste absolut …“ „Moment – ihr zankt euch schon wieder? Ich dachte, mit diesem Blödsinn sei endgültig Schluss? Sie ist nicht mehr 15“, tadelte Leona. Fred schwieg. Nicht mehr 15 – das war sein größtes Problem, und er machte sich Sorgen um das Mädchen. Er hoffte, sie käme bald heim.

Doch Rena blieb aus. Während ihre Eltern das gelassen hinnahmen, wurde Fred immer unruhiger. Er kannte sie gut genug – das Wörtchen „bitte“ am Ende der Frage hätte ihr garantiert genügt, seinem allzu schroffen Befehlston zum Trotz, und sie hätte ihm bereitwillig gesagt, wohin sie wollte. Weshalb hatte er dieses Friedensangebot nicht angenommen?

Falscher Stolz, überlegte er, ging ehrlich mit sich ins Gericht, und sah besorgt zu Leona. Wie sollte er ihr eingestehen, wieder einmal seine Pflichten ihren Kindern gegenüber versäumt zu haben – und das aus Gründen, die er ihr keinesfalls erklären konnte?

„Wenn ihr noch mehr Sportpläne aushecken wollt – passt da ein Glas Wein zu? Oder nur Wasser, Fred?“ „Für mich bitte nur Wasser. Ich muss ja bald fahren. – Macht ihr euch gar keine Sorgen um Serena?“ Seine Unruhe wuchs.

„Die ist an Brot gewöhnt, die kommt bald. Vermutlich hat sie Bekannte getroffen“, meinte Tom. „Blödsinn, Sorgen – sie kann gut radeln. Und sie kennt sich hier aus. Aber ein neues Mobiltelefon sollte sie sich besorgen, das stimmt schon. – Hört mal, da kommt wer.“ Leona hatte die Ruhe weg.

Zini konnte ihnen zumindest berichten, dass sie Rena im Dorf kurz gesehen hatte. „Die ist jubelnd in ein Auto geklettert, das ich nicht kannte“, erzählte sie. „Wer war der Besitzer?“ „Keine Ahnung, habe ich nicht drauf geachtet“, Zini zuckte mit den Schultern: „Ein irres rotes Cabrio. Das war ein geiler Flitzer. Ich glaube, sie kannte den Mann.“ Das Auto hatte sie offenbar weitaus mehr interessiert als der Fahrer.

„Wir müssen die Polizei anrufen“, sagte Fred sofort. „Quatsch“, Leona lächelte: „Wenn sie freiwillig eingestiegen ist, wusste sie garantiert, wer es war. Nun mach mal nicht die Pferde scheu. Bleib ruhig.“ Doch das konnte er nicht.

Glücklicherweise kreuzte Rena schon fünf Minuten später auf. „Hei, Leute.“ „Dann können wir uns den Anruf bei der Polizei ja schenken“, schmunzelte Tom. „Ach, ward ihr in Sorge? Ich wollte schon vor Stunden mit Eis kommen, aber dann habe ich Bernd Wolff getroffen, der ein neues Cabrio ausfuhr – und dann … es war ja so schön warm …“ „Bernd? Der ist ein netter Kerl.“

Alle kannten sie den Inhaber der Autowerkstatt. Er war einmal mit Leonas Halbschwester Regina verheiratet gewesen, aber schon seit Jahren geschieden. Danach hatte seine Ex-Frau sich einen Job als Krankenschwester bei „Ärzte ohne Grenzen“ gesucht und den Kontakt mit der Familie abgebrochen, da Leona sich weigerte, Bernd Wolff zu schneiden.

„Er hat eine Neue. Die hat das Auto gekauft und war fünf Mal bei Bernd, weil sie immer was an der Bestellung ändern wollte. Vorgeblich. Sie wollte ihn treffen. Sie war auch mit – eine echt nette Frau“, Rena schwärmte von der schönen Fahrt im offenen Wagen.

Fred stand auf und ging zum Pavillon. Er hatte mehr als genug gehört. Es ging dem fröhlichen Mädchen hervorragend – das genügte vorläufig. Weiter zuhören, ohne aufzubrausen wegen ihrer Gedankenlosigkeit, konnte er kaum.

„Ist doch witzig, dass unser Onkel auf so klischeehafte Art an eine neue Frau kommt.“ „Sagst du neuerdings Onkel Bernd?“ „Nee. Haben wir ja nie gemacht. Wir waren am Steinhuder Meer und haben Aal gegessen. Es war so schön. Mit dem Cabrio. Ein Traumauto. Entschuldige, Mama, dass ihr so lange warten musstet“, sie umarmte ihre Mutter, und Leona lächelte.

„Fred wollte tatsächlich schon die Polizei alarmieren“, wiederholte Tom. „Wieso?“ Rena guckte erstaunt. Ihre Familie erklärte es ihr.

Rena schüttelte den Kopf: „Er kann doch nicht annehmen, dass mich wer mitten im Dorf entführt. Außerdem bin ich nur Toms Stieftochter, da bezahlt er nichts für mich.“ Tom lachte: „Süße, ich würde bezahlen.“

„Aber … ich bin 19. Fast. Ich bin erwachsen und …“ „Ja, und du wohnst hier im Haus mit einem Promi. Möglich wäre es – wozu hätten wir sonst Fred engagiert? Schatz, du kannst nicht einfach wortlos stundenlang verschwinden.“ Selbst dieser leise Tadel störte Rena.

„Aber du hast doch selbst gehört, wie er mich angeschnauzt hat!“ verteidigte sie sich. „Ich habe auch deine Unfreundlichkeiten gehört. Ihr nehmt euch nichts. Nein, guck mich nicht so traurig an. Fred hat für seine Unhöflichkeit heute zahlen müssen. Er war deinetwegen sehr beunruhigt. Also ist es wohl an dir, ihn um Verzeihung zu bitten.“ „Damit er mich gleich wieder nieder macht?“ „Das musst du dann eben aushalten“, mischte sich Zini ein.

 

Dieser Einwurf ließ Rena auffahren: „Aber du ärgerst ihn ständig! Und du entschuldigst dich nie dafür!“ „Ja, daran ist er gewöhnt. Du bist Madame Balance, die liebe. Ich bin frech. Außerdem hast du mit deiner Geige eh einen Stein im Brett bei ihm. Nun geh schon.“ „Wer’s glaubt“, zweifelte Rena.

„Geh jetzt. Bevor er nach Hause fährt. Den Kopf wird’s nicht kosten, Rena. Wenn du viel länger zögerst, wird es dir an einem anderen Tag noch schwerer fallen“, empfahl Leona sanft. „Och nee“, maulte ihre Tochter, seufzte dann jedoch und erhob sich notgedrungen zu ihrem Canossa-Gang.

Sie wollte nicht um Verzeihung bitten wie ein gedemütigtes Kind. Worte waren ein Problem – bei ihren Eltern nützte eine Umarmung. Ihre Mutter hatte nicht geschimpft, nachdem Rena sie in den Arm genommen hatte, auch Tom war gelassen geblieben. So leicht kam sie bei Fred nicht aus der Sache heraus. Langsam ging sie auf ihn zu.

Er saß reglos auf den Stufen zum Pavillon, den Kopf auf den verschränkten Armen. Ihre Schritte raschelten im Gras, doch er rührte sich nicht.

Plötzlich erinnerte sie sich an eine Nacht, in der er in dieser Haltung auf der Treppe in seinem Haus gesessen hatte, nach einem furchtbaren Zusammenstoß mit Felix vor einigen Jahren, resigniert und unglücklich. Damals hatte er ihren Trost schroff zurück gewiesen. Nun war sie diejenige, die falsch gehandelt hatte.

Sie blieb stehen und wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Erst jetzt ging ihr auf, was sie mit ihrem Trotz ausgelöst hatte. Er sah es als seine Pflichtverletzung an, weil sie mit unbekanntem Ziel verschwunden war. Was Fred jetzt leise sagte, machte ihr das schmerzlich bewusst: „Ich muss den Job hier aufgeben. Ich kann euch nicht mehr kontrollieren.“

Wie viel mehr in diesen wenigen Worten lag, ahnte sie nicht. Aber sie wusste, wie abhängig er von der Arbeit als Toms Trainer war, denn große Einnahmen aus der Detektei hatte er noch nicht. Das hatte ihr Stiefvater ihrer Mutter gesagt am Abend nach der erzwungenen Rechnungsprüfung – sie hatte es gehört und sich gefreut, dass Tom Fred durch das erhöhte Trainingspensum finanziell unterstützte.

„Nein. Nein, musst du nicht. Bitte, Fred.“ Sie setzte sich neben ihn auf die hölzernen Stufen und legte ihm eine Hand auf den Arm: „Bitte. Ich weiß nicht, weshalb ich so rebellisch war. Vielleicht weil Zini Steffen hat und Isa Ricky und ich mit sollte und sie nicht zusammen erleben wollte und mich drüber ärgerte. Ich habe einen Fehler gemacht, es einfach an dir ausgelassen – und das war falsch.“

Frederick Myers hob den Kopf und sah sie einen Moment lang an: „Nein. Nett von dir, aber so war es nicht. Ich bin einfach nicht der Richtige, um auf dich aufzupassen“, er musste Worte finden, die sein übermächtiges Interesse an ihrem Wohlbefinden nicht verrieten.

„Das stimmt nicht. Ohne dich würde ich nicht mal merken, was falsch war. Ich vergesse oft, dass Tom ein Promi ist. Er musste es mir jetzt gerade eben auch noch mal sagen. Deshalb haben wir dich als Bodyguard. Mama vergisst es auch und lässt das Tor offen. Du sagst so oft, sie sei leichtsinnig.“

„Sie lernt es“, erwiderte er kühl und spürte die Wärme der kleinen Hand auf seinem Arm: „Es ist nicht nur das, Serena. Du bist – mit oder ohne das Geld deines Stiefvaters ein … interessantes Objekt. Eine junge Frau, allein unterwegs, ein Fremder bittet dich in sein Auto – das kann mehr sein als nur eine Spazierfahrt.“

Das Mädchen erschauderte und zog die Hand weg. „Nein.“ „So naiv bist du nicht mehr, Serena.“ „Nein. Nein, das stimmt nicht. Ich bin nicht schön. Keiner interessiert sich für mich. Für meine Musik vielleicht. Aber ohne die Musik schaut mich kein Mensch an. So war es immer. Zini ist schön, aber ich …“

„Schön?“ unterbrach er sie schroff: „Du bist jung, du bist nett, du bist weiblich. Das reicht. Und was meinst du damit, dass dich niemand anschaut? Das ganze Schulorchester hat dich angestarrt. Mit diesem Charme. Das war ein Vielfaches von dem, was Zini …“ Er hielt inne. Das hier ging zu weit. Vorschriften durfte er ihr nicht machen, aber Komplimente erst recht nicht.

Rena öffnete den Mund zum Widerspruch, doch dann fragte sie mit leisem Staunen: „Was meinst du damit? Ein Vielfaches von dem, was Zini …“ „Du mit diesem albernen, erotischen Liedchen und Getanze nach Annett Louisan. Ihr mögt es lustig finden, aber daran zweifele ich, wenn ich diese Texte höre.“ „Aber das war doch nur eine Bühnenshow. Ich bin nicht wie in dem Lied. Ich könnte so nicht handeln.“

Da er eisern schwieg, fuhr sie schließlich fort: „Fred, bitte – du kannst nicht annehmen, dass ich mit mehreren Jungs auf einmal ausgehe. Nie. Könnte ich nicht. Das weißt du“, sie verlegte sich aufs Betteln. „Heute habe ich erkannt, dass ich nichts von dir weiß, Serena.“

Damit erschreckte er sie noch mehr. „Aber … ich bin immer ehrlich zu dir.“ „Sorry, Serena. Nach dem Tag heute bezweifele ich das.“ „Warum? Ich lüge nie.“

Es machte sie traurig, wenn sie jemand für unehrlich hielt. Sein Schweigen sagte alles. Sie zögerte. Als er aufstand, blieb sie sitzen und schaute unglücklich zu ihm hoch.

Ihre Entschuldigung war ehrlich gemeint: „Ich bedaure es jetzt wirklich sehr, wenn ich dir Probleme bei deiner Arbeit mache. Ich habe darüber echt nicht nachgedacht. Ich war nur sauer … irgendwie. Oder allein … Ach, ich weiß nicht.“

Nachdenklich sah er sie an. „Steh auf. Es ist zu feucht, um dort länger zu sitzen. Ich werde dafür bezahlt, euch zu schützen, und wenn ich meinen Job nicht kann, ist das nicht dein Fehler. Steh jetzt bitte auf.“

Ob es die Bitte war oder seine Selbstkritik, wusste sie nicht, doch sie streckte beide Hände aus, um sich hochziehen zu lassen. Er reagierte ganz automatisch auf die Geste und trat dann zwei Schritte zurück: „Komm jetzt. Deine Eltern warten. Und ich muss nach Hause.“ „Aber du sagst deinen Job hier bei uns nicht auf, oder? Ich … erzähle dir zukünftig immer, wohin ich gehe. Und wie lange. Und ich kaufe mir gleich Morgen eine deutsche Telefonkarte für mein Handy.“

Eigentlich wollte er so genau gar nicht wissen, was sie tat, doch ihr liebenswürdiger Appell rührte ihn. Vermutlich sollte sie jemand in die Arme nehmen und festhalten, damit sie nicht mehr weglaufen konnte. Sie wirkte so süß und unschuldig – aber sie konnte auch ganz anders auftreten. Andererseits fiel es ihm schwer, auf dieses liebe Mädchen böse zu sein.

„Wenn du nicht gut zu mir bist, kann ich diese Nacht nicht schlafen“, dramatisierte Rena. Er lachte unwillkürlich. „Du übertreibst, Kind“, sagte er jedoch und wünschte sich, er dürfte sie küssen, bis sie sich ergab.

Rena lächelte sofort und stellte fest: „Wenn du lachst, bist du nicht mehr sauer. Sehr gut“, sie fasste nach seinem Arm und hakte sich ein. Fred befreite sich schnell: „Lass mich in Ruhe. Ich bin nicht dein Bruder, ich bin nur bei deinen Eltern angestellt.“ „Ja, okay. Ich bin froh, dass wir wieder Freunde sind.“

Das sagte sie im Vorbeigehen auch ihren Eltern und Zini, bevor sie im Haus verschwand. Fred verabschiedete sich.

***

Da Rena im Hotel jobbte, trafen sie sich das nächste Mal erst während des Balls in Hannover, wo Tom singen musste, am 3. Juni. Fred hatte diesmal fünf Familienmitglieder zu beschützen. Einfach war es nicht, die Familie und die Umgebung im Auge zu behalten, schon gar nicht in dieser Menge.

Leona grinste darüber: „Er nimmt seinen Job tatsächlich richtig ernst. Als ob uns hier wer überfiele.“ „Er hält die Journaille unseren drei jungen Leuten fern.“ „Ja, schon. Aber die kennen sich inzwischen auch aus. Wie gut, dass Jace und Tessa bei Oma und Opa übernachten … Sonst würde er vollends … Kannst du ihm nicht sagen, dass er sich amüsieren darf? Und sich zu uns setzen soll?“ „Mach nur, Leo.“