Liebe Familie 8

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Liebe Familie 8
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Über das Buch:

Während Leona und Tom Reuenthal schon an ihre nächste Trennung wegen der bevorstehenden Europa-Tournee denken müssen, arbeitet Felix Falkow noch immer in Schweden an seiner Doktorarbeit. Der junge Mann will unbedingt bei seiner Mutter im Hotel „Sonniger Garten“ arbeiten und freut sich sehr darauf, bald wieder in Deutschland zu sein.

Rena Falkow bereitet sich auf die nächste Tournee vor, ihr Studium neigt sich dem Ende zu. Außerdem gelingt es ihrem Mann Frederick Myers, weniger gefährdet zu arbeiten. Das eröffnet neue Perspektiven für die Familienplanung.

Das und noch mehr erwartet Sie diesmal in Linda Fischers Roman-Reihe „Liebe Familie“. Denn schließlich hat auch Cynthia – genannt „Zini“ – einiges vor. Sie will ihr Studium verkürzen und schnell in die Forschung einsteigen. Auch Jason und Tessa gehen ihren Weg.

Impressum:

Liebe Familie – Teil 8: Alles auf Anfang

Linda Fischer

Copyright: © 2015 Linda Fischer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-7865-3

Handlungsorte und Personen

Hotel „Sonniger Garten“ in einem kleinen Ort in Niedersachsen

Leona Reuenthal, Besitzerin des Hotels

Thomas Reuenthal, genannt Tom, ihr 2. Mann, Sänger „Phil Williams“, Deutsch-Amerikaner

Dennis Falkow, ihr 1. Mann, verstorben 1997

Die Kinder

Felix Anton Falkow, adoptiert von Leona und Dennis, erwirbt gerade Doktor-Titel

Anissa Serena Falkow, genannt Rena, studiert Musik, Englisch und Geschichte auf Lehramt

- Frederick Gabriel Myers, Renas Mann, führt Detektei in Hannover, US-Amerikaner, leitet für Tom die Tournee und übernimmt Sicherheit

Cynthia Falkow, genannt Zini, studiert Geologie in Berlin, Hauptziel Erdbebenforschung

Samantha Reuenthal, genannt Sam, Toms Adoptivtochter, Fotografin

- Markus Reuenthal, ihr Mann, unterrichtet Literatur an englischer Universität

Jason Reuenthal, genannt Jace, Toms Sohn

Tessa Nadine Reuenthal, Tochter von Leona und Tom

Hotelangestellte und Freunde

Marion Roske, Rezeption

- vertreten von Frau Herder, Aushilfe

Sylvia Hauke, Restaurantchefin

- Roswin Kober, ihr Lebensgefährte

Yu-Lan Vogelsang, Mitarbeiterin im Restaurant

- Volker Vogelsang, ihr Mann, Förster und Schulfreund von Tom

- Nadja und Tabea, beider Kinder, befreundet mit den Falkow- und Reuenthal-Kindern

Helgard Hermans-Nathmann, Küchenchefin und hauptamtliche Köchin

- Rüdiger Nathmann, ihr Mann

Stefan Linacker, Konditor

Olivia Trautmann, Hausdame

Jörn Trautmann, ihr Mann, Hausmeister

- Jan-Oliver Trautmann, ihr Sohn, verliebt in Tabea Vogelsang

Doris Röttger, Zimmerservice

- Michael Röttger, ihr Mann, Journalist, führt das „Dorfblatt“ – die Ortszeitung

- Michael Dennis Röttger, ihr Sohn, Soldat

- Isabell Röttger, ihre Tochter, Freundin und „Zwilling“ von Zini

Rosalba Inez, Barfrau und Rezeptionistin

Valentina Harms, Sekretärin

- Edzard Harms, ihr Mann, Landwirt

Silvia Holzschuh, Verkäuferin im Wellness-Lädchen des Hotels

- Uwe Holzschuh, ihr Mann, Polizeibeamter

Außerdem Hotelgäste wie Lena und Martin Stöcks, Florestan Schröder oder Gloria …

Verwandte der Familie Falkow-Reuenthal, weitere Freunde und Bekannte

Monika und Winfried Sebald, Leonas Eltern

Elisabeth Schmöck, Toms Ex-Frau

Ferdinande und Rüdiger Schmöck, deren Eltern in Hamburg

Fiete und Gesine, Fischlieferanten des Hotels in Hamburg

Olaf Bastius, Polizist in München

In Schweden

Mats Kristiansson, Ex-Schwager von Leona und Dennis, Hotelbesitzer, Stockholm

- Liv Kristiansson, seine Frau

- Lorena und Astrid, beider Töchter

Maria Kristiansson, Mutter von Mats

Hans Mjölsson, Sicherheitschef der Sigvald-Hotelkette

Viktor Halvorson, ehemals Bodyguard, arbeitet jetzt für Sigvald-Hotelkette

In den USA

Allison Reuenthal, Toms Mutter, lebt bei Napa, führt Weingut der Familie

Jennifer May Cowin-Reuenthal, genannt Jenny, Toms älteste Schwester

Ingrid Lorraine Walsh-McPherson, genannt Lorry, Toms 2. Schwester

Barbara Catherine Johnson, genannt Kitty, Toms 3. Schwester

Tobias Nick Reuenthal, genannt Nicky, Toms kleiner Bruder

Simon Miller, Bruder von Allison Reuenthal

Kendra Caroline „Casey“ Sysmanek, Leiterin des Weingutes der Familie Reuenthal

- John, ihr Mann, Sheriff in Napa

- Opal, studiert Weinbau, Rafael und Jacob, ihre Kinder

James „Jim“ Fitzwilliam Lester, Geologe und Erdbebenforscher

Jane Myers, 2001 verstorbene 1. Frau von Fred Myers

Rachel und Aaron Goldstein, Freunde von Tom, Renas ehemalige Gasteltern in New York

Mary Robinson, Sopranistin, Freundin von Rena

George Paginsky, Balletttänzer, Freund von Rena

Renas afroamerikanische Jazz-Band aus New York:

- Timmy Smith, Schlagzeug

- Ron Weethley, Kontrabass

- Cal Dizzie Bones, Klarinette und Gitarre

Benjamin, Sybil, ihre Tochter Rosie und deren Grandma in Washington, Freunde von Felix

Im niedersächsischen Dorf rund ums Hotel

Oskar Hirbisch, evangelischer Pastor im Ruhestand

Albrecht Bicknäse, Pastor

Nicole Tarrach, Freundin der Falkow-Schwestern, Medizinstudentin

Kristina Kyrkanson, Freundin der Falkow-Schwestern, Gemeindeschwester

Daniela Proll, Schwester von Markus Reuenthal

- Eltern Proll leben bei Dresden

Ruben Düster, Freund von Jason Reuenthal

- Hannah Düster, seine Schwester

- Mascha und Johannes Düster, deren Eltern

Richard „Ricky“ Müller, Ex von Zini, zusammen mit Isabell Röttger

Torsten Wölz, Dozent und Freund von Zini

Irene Wölz, Schwester von Torsten, Freundin von Zini

Anna, Mitschülerin von Tessa

Hannes Birkanger, Schüler einer Klasse über Tessa

- Johannes Birkanger, sein Vater

Nico, ehemaliger Mitschüler der Falkow-Schwestern

Stefan Weichsel, Autobesitzer

Herr Altmeister, Verwaltung des Baumarktes

In Hannover

Günter Fitzmann, Angestellter der Detektei von Fred Myers, später Partner

- Helene Videra, seine Freundin

Lisbeth Grämmel, Mitte 40, Sekretärin in der Detektei

- ihr Ehemann und ihre beiden Kinder (Tochter Ira)

Mandanten der Detektei wie Anja Brittner

Joachim „Achim“ und Birgit Tannert, Nachbarn

Weitere Nachbarn wie Frau Wundram (von gegenüber) oder Frau Rösler

Sven Rösler, deren Enkel und Nachhilfeschüler von Rena Falkow

Alexej Wassilikov, genannt Aljoscha, Violinist

Sonja, Musikstudentin

Sandra, Violinistin

Daniel Müller, Kriminalbeamter am LKA in Hannover und Freund von Fred Myers

- Susanne Müller, seine Frau

- Fabian und Bianca, ihre Kinder

Professor Paul Gillessen, Geologe und Mentor von Zini Falkow

- Anna Gillesen, seine Frau

Dr. Oliver Klimmer, Hausarzt von Rena Falkow

Milena Kurtz, Friseurmeisterin in Hannover

US-Marines, stationiert in Deutschland

Europa-Tournee I

David Blumenstein, Toms Anwalt und Freund, bereitet Tournee vor, Bruder von Rachel

Patricia „Pat“, Sängerin im Background-Chor

Gloria, Sängerin im Background-Chor

Betty, Tänzerin

Marietta, Tänzerin

Bob, Cello

Walter, Trompete

Gordon, Violine

Eliza und Ben – ebenfalls im Orchester

Susan „Suzy“, Beleuchtung

Grace, Tontechnik

Joseph Brian, Tontechnik

Bill, Bodyguard

Georg, Bodyguard

Paul, Bodyguard

Phillip, Bodyguard

Monica, Bodyguard

Ruth, Bodyguard

Stevie, Bodyguard

Jim, Fahrer

In Neapel/Italien:

Anna-Sophie Castelli, Dolmetscherin und Schulfreundin von Rena Falkow im Internat

- Antonio Castelli, ihr Ehemann, Archäologe

Erst Anfang 2009 wagte Rena Falkow etwas, das ihr schon lange auf der Seele lag. Sie holte die Kiste aus dem Keller, die Fred vom Los Angeles Police Department zugeschickt worden war. An diesem Montagabend, wenn ihr Mann mit der Arbeit in der Detektei fertig war, würden sie das Thema angehen. Noch länger durften sie es nicht aufschieben.

Die gut verschnürte Kiste barg seine Erinnerungen. Wenn das hier im Keller verstaubte, konnten sie das Kapitel seiner ersten Ehe nie abschließen. Und er hatte ihr schließlich freie Hand gelassen, was das Auspacken anging. Bisher hatte sie sich nicht getraut, nun wollte sie endlich wissen, was darin sein mochte.

Gut verschnürt in braunem Packpapier stand die Kiste auf ihrem Wohnzimmertisch. Rena holte eine Schere und drehte die Heizung etwas höher. Sie sah zögernd auf die Verpackung. Je länger sie wartete, desto seltsamer war ihr zumute. Sowie Fred den letzten Kunden verabschiedete, drohte das Unheil … Jedenfalls fühlte es sich so an.

„Du siehst für mich so aus wie ein verdammter Dementor“, sagte sie leise und legte die Schere unbenutzt wieder hin.

 

Zuerst sollten sie zu Abend essen. Eine feste Grundlage erschien ihr zwingend notwendig. Es gelang ihr garantiert nicht, Fred zu einem größerem Quantum Alkohol zu überreden. Also musste sie sich etwas einfallen lassen, damit er halbwegs entspannt mit seinen leidvollen Erinnerungen umgehen konnte.

Günter Fitzmann sah noch einmal in die Küche, bevor er sich auf den Heimweg machte, da er ihr Hantieren hörte.

„Du bist schon da? Ich dachte, du ziehst mit deinen Musikschulleuten los?“ „Nee. Die Kälte hat uns auseinander getrieben“, Rena schaute von ihrem Gurkenhobel auf. „Ist sibirisch draußen, ja. Wir sind froh, dass wir gerade keine nächtlichen Überwachungen haben. Boh – ich muss los. Fred macht nur noch ein bisschen Papierkram fertig.“ „Prima. Dann werfe ich jetzt die Bratkartoffeln an.“

Belustigt sah der Mann zu, wie sie eine Schale aus dem Kühlschrank nahm. „Reste-Verwertung?“ „Genau. Ich haue noch Schinken rein und Eier drüber, dann reicht’s für zwei. Mit dem Gurkensalat.“ „Ich bin kein Reste-Fan.“ „Du nicht? Da solltest du dein Urteil revidieren. Meine Familie liebt Bratkartoffeln. Fred auch.“ „Dein Bratkartoffel-Verhältnis, Rena?“

Damit entlockte er ihr ein vergnügtes Kichern. „Ja, genau. So kriege ich ihn rum …“ „Dann gehe ich besser schleunigst“, lachend verabschiedete er sich. Rena prustete über diesen eiligen Rückzug.

Es dauerte nicht lange, bis Fred aufkreuzte. Er freute sich sichtlich, sie und ein fertiges Essen vorzufinden.

„Alex und Sonja wollten doch üben? Und dann noch mit dir los?“ „Ja, aber nun sind sie zum Pferdeturm. Mit Schlittschuhen. Das brauche ich nicht. Falls es so kalt bleibt, meint Sonja, geben sie vielleicht bald den Maschsee frei. Dann will sie wieder geübt sein. Und Alex ist mit. Dabei hat der es nicht nötig. Sie wollen am Wochenende auf den See, wenn’s geht. Ob wir mitkommen. Soll ich dich fragen.“

Fred ließ den Wortschwall gelassen über sich ergehen und verteilte schon mal den Gurkensalat auf zwei Teller. „Ich auf Schlittschuhen?“ Er lachte leise über dieses Ansinnen.

„Was ist daran jetzt so lustig? Ach, herrje“, sie schlug die Hand vor den Mund und lachte mit: „Ich vergesse das immer. Du bist so sportlich, mein subtropischer Kalifornier … Kennst richtigen Winter kaum. Hast du jemals …?“ „Nein. Habe ich nicht“, er verzog das Gesicht: „Und ich messe mich nicht mit deinem russischen Freund, Eisprinzessin.“

Rena juchzte etwas, lud die Bratkartoffeln um und schob ihm und sich die Teller hin: „Setz dich. Solange es heiß ist, iss erst mal“, sie hörte selbst, welchen Befehlston sie anschlug. Fred musterte sie zwar interessiert, äußerte sich jedoch nicht dazu. Nach ihrem Gelächter zuvor zog er den Schluss, sie könne mehr auf dem Herzen haben als eine kleine Schlittschuhtour.

Gelassen probierte er und nickte ihr freundlich zu: „Sehr gut gewürzt. So, dann rede mal.“

Seine Frau dachte etwas nervös an die Kiste, die auf dem Wohnzimmertisch wartete. Worauf hatte sie sich da bloß wieder eingelassen? Sollte sie ihm jetzt quasi die Mahlzeit schon mit der Wahrheit verderben? Oder ausweichen und hoffen, er würde das nicht bemerken?

„Alex ist so ein Angeber. Man möchte meinen, er könnte auf seinen Schlittschuhen das nächste Rennen in Heerenveen gewinnen.“ Das war eindeutig feige, und sie ärgerte sich selbst über diese zickig klingenden Worte.

„Ich glaube, wir wählen besser ein anderes Thema“, Fred sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte. „Steigt deine Laune dann wieder? Politik lassen wir mal aus. Wie war deine Geschichtsvorlesung heute?“

Immerhin gab er sich Mühe. Wie lange das wohl anhalten mochte, überlegte Rena mit schlechtem Gewissen. Sie machte ein grimmiges Gesicht: „Langweilig. Genau wie die nächste Klausur. Wenn ich da nicht sämtliche Punkte einheimse, würd’s mich wundern.“ „Hast du etwa einen Zauber bereit wie die Weasley-Zwillinge“, neckte Fred sie.

Für einen Moment starrte Rena ihn fassungslos an. Hatte sie nicht gerade noch die Kiste als „Dementor“ bezeichnet? Und nun wählte ihr Mann treffsicher auch etwas aus „Harry Potter“ – das Zitat erschreckte sie, und sie konnte nur mit dem Kopf schütteln.

Als Fred aufstand, zuckte sie ebenfalls halb vom Stuhl hoch: „Wohin willst du?“

Wenn er jetzt das Wohnzimmer betrat, war vermutlich jede Spur seiner guten Laune vertrieben.

„Dir etwas holen, das dich hoffentlich zum Lächeln bringt. Obwohl ich es dir eigentlich heute Abend als Bettlektüre auf dein Kopfkissen legen wollte. Bin gleich wieder da.“

Sein heiteres Zwinkern beruhigte sie überhaupt nicht. Statt dessen fragte sie sich, wie sie die Kiste so schnell wie möglich heimlich wieder in den Keller bringen konnte. Jetzt gleich, während er ihr die „Bettlektüre“ holte? – Doch sie hörte deutlich, dass er – was auch immer – nur vom Flur herein holte. Jede weitere Minute erschwerte ihr ihre Aufgabe.

„Es ist nicht mehr Weihnachten“, sagte sie nur etwas kläglich, als er ihr das Päckchen hinlegte. Fred tat diesen Einwand mit einem Achselzucken ab: „Ich werde ja wohl meiner Frau auch im Januar ein Geschenk machen dürfen. Pack aus.“

Wortlos gehorchte Rena und starrte auf den Buchtitel: Die Märchen von Beadle dem Barden. Verblüfft schaute sie auf. Fred beantwortete die unausgesprochene Frage: „Als du Band 7 gelesen hast. Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Da hast du gesagt, du würdest gern diese Märchen lesen. Das sind sie. Deutsch. Ich hab’s zufällig im Buchladen gesehen, als ich meine Bestellung abholte.“

„Abgeholt habe. Abholte ist auch korrekt, aber zu korrekt“, verbesserte sie, ohne den Blick von diesem zauberhaften Geschenk zu heben. „Ich spreche nicht schlampig genug?“ „Nein. Du sagtest – du hast gesagt. Gelesen hast, geholt hast – das ist Umgangssprache. Ich hab’s gesehen – ist Umgangssprache. Abholte nicht.“ Fred nickte ernst zu diesen Ausführungen.

„Habe ich mich schon bedankt?“ „Nein“, antwortete er: „Du hast nur mein Deutsch kritisiert. Bekritelt.“ Es zuckte um seinen Mund. „Ich liebe dich“, sie sprang ihm an den Hals. Fred musste lachen, drückte sie jedoch an sich.

Nach ein paar Küssen fühlte sich die junge Frau viel besser. Sie schmiegte sich an ihren Liebsten und sah ihn aufmerksam an.

„Na, Spatz?“ „Ach, Fred. Manchmal ist alles … echt schwierig.“ „Was genau?“ „Mit dem Leben und so. Überhaupt.“

Er streichelte ihre weiche Wange. In Momenten wie diesem erkannte er den Unterschied überdeutlich. Sie war noch sehr jung. Früher oder später gestand sie sicher, was sie gerade bedrückte.

„Du, Fred?“ „Ja?“ „Um … bei Harry Potter zu bleiben: Welches Ereignis würde … würdest du dir aussuchen für deinen Schutzzauber?“ Jetzt schien sie ganz Kind zu sein, allerdings ein besorgtes Kind, das ihn scheu musterte und fast angstvoll dreinschaute.

„Schutzzauber?“ Er wiederholte es verdutzt, dann kam ihm die Erinnerung: „Für … Expecto patronum?“ „Ja.“ „Etwas Schönes. Glück. Und Notfall-Schokolade“, sagte er belustigt.

Ihr schweres Schlucken verriet ernste Sorge, also fügte er an: „Sag mir lieber, weshalb ich das brauche, hm.“ „Ich habe die Kiste aus dem Keller geholt. Wir können das nicht ewig aufschieben. Ich möchte, dass du sie auspackst.“

Der Mann runzelte zwar die Stirn, schwieg aber. „Sei mir nicht böse, Fred.“ „Dein Zauber funktioniert“, er schob sie sachte von sich und ging ohne jede weitere Erklärung ins Wohnzimmer.

Etwas zögerlich schaute Rena erst zum gedeckten Tisch, dann entschied sie, das Abendessen und auch das Aufräumen hinterher seien unwesentlich. Sie folgte Fred.

Ihr Mann hatte die Schere bereits in der Hand und schnitt die Verpackung der gewichtigen Kiste auf. Rena blieb an der Tür stehen. Sie rechnete durchaus damit, er könnte sie wegschicken.

Ohne sich umzusehen, sagte er ruhig: „Setz dich lieber. Da ist viel drin. Und wir entscheiden besser sofort, was wir damit anfangen.“ „Woran denkst du da?“ „Reißwolf“, die lakonische Erwiderung sagte mehr aus, als sie erwartet hatte.

Die etwas zittrige Frage verriet ihm deutlich, wie sehr sie den Inhalt fürchtete. Sie hatte unerwartet viel Angst – vor seinen Erinnerungen.

Obenauf lag eine Bibel. „Des Reverends bestes Stück“, merkte Fred spöttisch an und reichte sie ihr weiter. „Eine Bibel darf aber nicht in den Reißwolf, Fred.“ „Sondern?“ „Wir können sie ja verschenken. An die Kirchengemeinde. Falls da mal wer ist, der sie auf Englisch lesen will.“

Fred packte weiter aus. „Meinetwegen. – Das ist Janes familiäre Fotosammlung. Die ist nun eindeutig für den Reißwolf“, auch diesen Kasten gab er gleich an seine Frau weiter. Rena atmete tief durch: „Aber wenn Bilder von dir dabei sind?“ „Behalte, was du willst. Bücher … hm“, er packte weiter aus.

„Christliche Erbauungswerke schlimmster Provenienz. Die fliegen nun wirklich direkt auf den Müll. Die Schulhefte …“ er stockte, als er die erste Aufschrift las. Das waren keine normalen Schulhefte, sondern Janes Tagebücher. „Weg damit“, er warf sie neben Rena auf das Sofa, bevor er das letzte Stück heraus nahm, ein Metallkistchen. Der Schlüssel war mit einem Streifen Pflaster auf den Deckel geklebt.

„Was ist das? Eine Art Tresor?“ wunderte sich Rena. „Vermutlich der Schmuck der Familie. Kannst du haben. Viel Spaß damit.“

Diesmal war sie schockiert und keuchte. Fred drehte sich ruckartig zu ihr um: „Was?“ „Du glaubst doch nicht wirklich, ich könnte auch nur ein Stück von Janes Familienschmuck tragen? Das ist … zynisch.“ „Ausgerechnet du bist neuerdings der Typ Mensch, der Wertsachen wegwirft – interessant“, entgegnete Fred aggressiv.

Zuerst presste sie die Lippen aufeinander. Er kannte sie viel zu gut. Dann aber schluckte sie den Jähzorn und begann mit leisem Ton: „Wir verkaufen das alles … Was auch immer es ist. Und wir spenden das Geld anonym. Für die Kindertafel. Oder das Kinderhospiz. Wenn du einverstanden bist.“

Der gütige Gedanke beschämte ihn. Sie hatte diese Behandlung nicht verdient. Er durfte diesen abgrundtiefen Hass nicht an ihr auslassen. Ihre Augen wichen nicht von ihm, sie bettelte geradezu um sein Verständnis.

„Ja, Serena, das machen wir“, er stellte die geleerte Kiste auf den Fußboden und setzte sich auf die Tischkante, um die Inventarliste der Polizei zu kontrollieren.

Rena atmete noch einmal tief durch. Sie streckte die Hand aus und berührte sanft sein Bein, hoffend, er könnte sich wieder etwas beruhigt haben.

„Und wenn du nicht willst, dass ich mir das ansehe, dann kann wirklich alles geschlossen auf den Müll“, bot sie sachte an. „Nein. Ist eine Erbschaft. Du kannst dir alles ansehen. Und behalten, wenn du willst. Sieh es dir in aller Ruhe an.“

Diesmal fiel es ihm schwer, ihren Blick offen auszuhalten. Doch er erkannte sehr wohl, wie besorgt und ängstlich sie ihn auch jetzt noch beobachtete. So viel, wie seine junge Frau gerade empfand, war die ganze Sache gar nicht wert.

„Dein Patronus wirkt, Spatz“, sagte er leichthin. Ihre Augen leuchteten sofort wieder auf bei dem kleinen Scherz. Fred konnte wieder lächeln. Er beugte sich vor und küsste sie liebevoll. Rena strahlte wieder und vergaß, wie viel Kummer seine Vergangenheit ihr schon gebracht hatte.

„Okay, dann sieh mal drauf – und ich räume in der Küche auf. Oder willst du noch was essen, Serena?“ „Ich helfe dir.“ „Blödsinn. Das hier ist viel spannender für dich als der Abwasch einer Pfanne.“

Seine Ruhe täuschte sie tatsächlich. Sie ahnte nicht, welche Selbstbeherrschung dafür nötig war. Andererseits machte es ihm die Gegenwart seiner geliebten Frau vergleichsweise leicht, mit der Flut an Gefühlen und Erinnerungen fertig zu werden.

Während er in die Küche ging, dachte er darüber nach. Jetzt ging es ihm unendlich viel besser. Zum ersten Mal in seinem Leben besaß er eine Familie, die ihn sehr liebte und nicht im Stich ließ. Nachdem er inzwischen schon seit langer Zeit beobachtet hatte, wie sich die Geschwister kabbelten, nahm er nicht mal mehr Sams Aversion besonders ernst und betrachtete das als das, was es war: Konkurrenzkampf zwischen den Schwestern …

Wie reich war er jetzt: Er hatte diese wunderbare Familie und Freunde, eine eigene Firma. In den vergangenen Jahren hatten die vielen Veränderungen sein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Spätestens Serenas bedingungsloses „Ja“ zu ihm und die überraschende Erkenntnis, seine kleine Pazifistin entschiede sich bewusst für die Liebe zu ihrem Soldaten, hatte all das Gute ausgelöst und jedwede Bitterkeit vertrieben.

 

Rena sah sich den Schmuck an. Nichts davon gefiel ihr wirklich. Doch die winzigen Stempel und Markierungen zeigten bei den meisten Teilen den Silber- respektive Goldgehalt an. Es war auch Modeschmuck dabei, längst „out“ inzwischen – das hatten Janes Eltern vielleicht aus sentimentalen Gründen aufbewahrt.

Das hier musste sie loswerden und nahm sich vor, die kleine Metallkiste in ihren Rucksack zu stopfen, um alles so schnell wie möglich zu veräußern. Fred würde eine Quittung oder ein Einzahlungsbeleg auf ein Spendenkonto genügen. Er musste sich nicht selbst darum kümmern.

Nach und nach begriff sie, wie er sie mit den scheinbar lässigen Worten leicht getäuscht hatte. Ohne diese seelische Belastung hätte er auch das Auspacken dieses Postpakets nicht so lange vor sich hergeschoben. Es war gut, die Entscheidung jetzt herbeigezwungen zu haben. Damit konnten sie den Ballast sozusagen gemeinsam abwerfen.

Ob er jetzt in Ruhe essen konnte? Sie wollte ihm ein bisschen Zeit geben, da er das offensichtlich gerade brauchte.

Neben ihr lagen die verrutschten Schulhefte. Als angehende Lehrerin spürte sie professionelles Interesse am Inhalt. Sie griff sich wahllos eins der Hefte und schlug es auf, ohne Zeit für den Titel zu verschwenden. Es sah nach einem Aufsatz aus, und Rena las einen Abschnitt, obwohl ihr die Handschrift der Schülerin etwas schlampig erschien.

„Ich habe heute Vaters goldenen Stift genommen und einem Jungen dort in die Tasche gesteckt. Er hat ihn nicht verkauft. Er hat ihn hergebracht. Er ist so dumm. Jetzt denken alle, er hat ihn geklaut. Er hat nichts gesagt. Er redet nie. Er hat böse Augen, wenn er mich ansieht. Er weiß es. Er verrät mich nicht.“

Rena schüttelte den Kopf. Der Stil gefiel ihr nicht, die kurzen, abrupten Sätze – eine schlechte Note für diesen alles andere als flüssigen Stil, überlegte sie belustigt, bei dem fast jeder Satz mit demselben Wort begann. Sie warf das Heft zurück auf den Stapel und zog ein anderes heraus, das sie ebenso mittendrin aufschlug.

„Wir fahren heimlich nach Vegas. Morgen. Endlich habe ich es geschafft. Endlich. Jetzt habe ich ihn. Ich bin nicht krank. Ich kriege ihn. Sie werden neidisch sein. Alle. Anny und Gilda. Suze auch. Weil ich ihn kriege. Mit den Eltern werde ich fertig. Ich muss ihn ja nicht mitnehmen. Und mich lieben sie.“

Plötzlich ging der kritischen Leserin auf, was sie in der Hand hielt. Mit einem Keuchen schlug sie das Heft zu und starrte aufs Deckblatt. Da standen keine Angaben zum Schuljahr, wie sie fälschlich aus der Jahreszahl geschlossen hatte. Diese vermeintlichen Aufsatzhefte entpuppten sich als Tagebücher, schlimmer noch: Janes Tagebücher!

Hastig und mit leisem Entsetzen öffnete sie es wieder und las weiter, viel zu gebannt von dem verräterischen Text, um sich an ihre guten Manieren zu erinnern. Hier ging es um ihren geliebten Mann – und deshalb vergaß sie, wie sehr sie sich sonst an Diskretion und Vertraulichkeit hielt.

Mit jeder Zeile wurde ihr klarer, was sich zwischen 1998, 1999 und Janes frühem Tod im Juli 2001 abgespielt hatte. Sie konnte kaum noch lesen, so sehr tropften ihre Tränen. Was sie bisher nur aus Freds wortkargen Antworten geschlossen hatte, vielleicht geahnt, das las sie hier.

Schwarz auf Weiß zeichnete sich Janes Charakter vor ihren Augen ab: Rücksichtlosigkeit, Egozentrik, Ausbeutung jedes Mitmenschen. Intelligent war sie nicht – sie nutzte offensichtlich nur ihr gutes Aussehen aus und vor allem die Einsamkeit Freds.

Wütend wischte sich Rena die Tränen ab, um besser sehen zu können. Schließlich pfefferte sie das Heft auf den Stapel zurück und sank schluchzend auf dem Sofa zusammen, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

So fand Fred sie, als er wieder ins Wohnzimmer schaute – verwundert, wo sie blieb: In Tränen aufgelöst.

„Serena, was hast du?“ „Das gelesen“, sie schniefte unschön und wies auf die Hefte. Fred hob eine Augenbraue. Es sah ihr nicht gerade ähnlich, anderer Leute Intimsphäre nicht zu achten.

„Ich dachte doch, es sind Schulaufsätze, nur ziemlich mies geschrieben“, sie fuhr sich über die Nase und die Augen, schnüffelte, rang um Fassung und weinte dann doch weiter.

„Ach, Spatz“, er kannte seine weichherzige Liebste. „Hat sie sich so sehr über ihre Krebserkrankung ausgelassen? Warum liest du das? Nach allem, was du schon mit deinem Vater durchmachen musstest … als kleines Kind.“ „Nicht das“, widersprach sie und schluchzte herzzerreißend, sich wohl bewusst, wie ihr Mann auf Mitgefühl reagierte.

„Was denn sonst?“ Rena schüttelte den Kopf auf diese besorgte Frage hin. Das mochte sie ihm nun wirklich nicht verraten.

Fred nahm das oberste Heft auf, schlug es ebenso wahllos wie zuvor seine Frau auf und las einige Zeilen. Er verstand sehr schnell, was Rena empfand, schleuderte das Heft zurück und nahm sie in die Arme.

„Serena, das ist so lange her. Ich hatte außerdem vor zehn Jahren überhaupt keine Ahnung davon, wie eine echte Familie ist. Deine bedingungslose Liebe und Loyalität, Leos Freundschaft, Toms blindes Vertrauen, deine Geschwister, die sich um meine Zuneigung bemühen … - das kannte ich nicht.“

„Sie war als Kind schon ein richtiges Charakterschwein“, stieß Rena hervor, hieb sich vor den Mund und presste dann ihr verweintes Gesicht an ihn. Fred musste lachen, mehr über ihr sichtliches Erschrecken nach dieser unumwundenen Ehrlichkeit als über die Worte.

Zweifelnd hob Rena den Kopf und sah ihn an. Fred versuchte, sein Lachen zu erklären: „Das stimmt vermutlich. Zumindest teilweise. Auch sie ist ein Kind ihrer Eltern und deren Erziehung gewesen“, er blieb ruhig dabei: „Spatz, ich sehe das heute alles viel gelassener, glaub mir. Damals … ihre Schönheit hatte mich eben beeindruckt. Welcher verknallte Knabe fragt schon nach dem Charakter seiner tollen Freundin? Bei Zini war ich wesentlich gereifter – und schlauer. Außerdem hat sie einen guten Kern, deine Schwester. Wenn sie über diese Spielphase rauswächst, wird sie sicher eine großartige Frau. Nicht so wie du, aber … möglicherweise annähernd“, überlegte er skeptisch und blinzelte ihr vertraulich zu.

Das brachte Rena zum Kichern. Sie putzte sich die Nase und umarmte Fred fest. Obwohl er recht locker mit dieser Situation umging, mochte sie nicht weiter über Jane sprechen, ihrer Neugier zum Trotz.

„Na, woran denkst du jetzt wieder? Frag ruhig. Komm schon, nur Mut. Du solltest langsam wissen, wie viel du mir zumuten darfst. Ich komme gut klar. Auch mit … einem Charakterschwein.“ „Ich weiß nicht …“

„Dank deiner liebevollen Rücksicht an Janes Grab … Serena, du hast nichts zu befürchten. So schwer es fällt, aber wir sollten doch Mitgefühl mit ihr aufbringen. Denn so geliebt wie du wurde sie nie. Nicht von ihren Eltern. Und, ganz ehrlich, von mir auch nicht. Was genau hast du gelesen?“ „Von ihrem Diebstahl, dem sie einem anderen in die Schuhe geschoben hat. Und eurer … Vegas-Reise.“

„Diebstahl war da im Heim an der Tagesordnung. Das hat mir nichts gemacht, die falschen Unterstellungen haben wir jeden Tag ertragen müssen, nicht nur ich, alle.“ „Und keiner hat gewusst, wie du bist? Du machst nichts Unrechtes, du stiehlst nicht!“

Mit einem Lächeln über ihre wütende Empörung schüttelte Fred den Kopf: „So wie du hat nie jemand an mich geglaubt. Vor lauter Liebe übersiehst du meine Fehler völlig.“ „Tue ich nicht. Genauso wie meine. Die kenne ich alle.“ „Serena, nun hör aber auf. Dann halte mir meine Fehler doch gleich mal vor bei der Gelegenheit.“

Rena atmete tief durch. „Du erzählst mir noch immer nicht viel, um mich zu schützen. Du lenkst ab, wenn dir … Dinge zu nahe kommen. Nicht unbedingt mich. Jedenfalls nicht immer. Aber alle anderen. Ich bin offener. Nur deinetwegen ringe ich mich zum Verschweigen durch.“ „Verschweigen? Was denn?“

Eine Weile überlegte sie, dann erinnerte sie sich an ein Beispiel: „Du hast neulich mitten drin gegrinst, als Alex dieses russische Lied gesungen hat. Hinterher hat er mich gefragt, ob du Russisch verstehst, weil du diese lustige Stelle bemerkt hast. Ich habe ja nur vage ‚hä‘ gemacht …“ „Es war nicht lustig, sondern zweideutig. Das heißt dann wohl, Alex … hm … ich muss künftig besser aufpassen. – Und deine Fehler?“

„Ich … verliere gerade mein wichtiges Ziel aus dem Auge. Weil das Geldverdienen auf Tournee leichter ist … Also, es macht unheimlich Spaß und bringt auch noch ein bisschen Zubrot hier ein. Statt wie Studium nur zu kosten. Will ich wirklich Lehrerin sein? Ja, das ist jetzt alles unausgegoren und voll wirr. Du kannst mit Recht behaupten, es läge an meiner Jugend. Aber ich werde in Juni schon 23. Und ich glaube, ich bin erwachsen. Immerhin schon zwei Jahre verheiratet. Ach, Fred, kannst du mich aushalten?“