Buch lesen: «Anna Karenina | Krieg und Frieden», Seite 9
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Als der Tee für die Erwachsenen aufgetragen war, kam Dolly aus ihrem Zimmer. Stepan Arkadjewitsch kam nicht mit ihr; er mußte wohl das Zimmer seiner Frau durch den hinteren Ausgang verlassen haben.
»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt sein«, bemerkte Dolly, zu Anna gewendet. »Ich möchte dich doch lieber hier unten unterbringen; wir sind dann auch näher beieinander.«
»Ach, ich bitte dringend, macht euch doch um mich keine Sorge!« antwortete Anna und blickte dabei ihre Schwägerin forschend an, um zu ersehen, ob eine Aussöhnung stattgefunden habe oder nicht.
»Es wird dir hier nur zu hell sein zum Schlafen«, bemerkte Dolly.
»Ich versichere dir, ich schlafe immer und überall wie ein Murmeltier.«
»Wovon ist denn die Rede?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der aus seinem Zimmer kam; er wandte sich mit dieser Frage an seine Frau.
An seinem Tone erkannten sowohl Kitty wie auch Anna sofort, daß eine Aussöhnung zustande gekommen war.
»Ich möchte Anna hier unten unterbringen; aber dann müssen andere Fenstervorhänge aufgehängt wer den. Das versteht keiner ordentlich zu machen; ich muß es schon selbst tun«, antwortete Dolly, ihm zugewandt.
›Ob sie sich auch wirklich vollständig ausgesöhnt haben?‹ dachte Anna, als sie Dollys kühlen, ruhigen Ton hörte.
»Ach, mach dir doch nicht immer so viel Mühe, Dolly!« sagte ihr Mann. »Wenn du willst, so kann ich ja alles zurechtmachen.«
›Ja, sie haben sich bestimmt ausgesöhnt‹, dachte Anna.
»Das kenne ich schon, wie du alles zurechtmachst«, antwortete Dolly. »Du gibst deinem Matwei irgendwelche ganz unmögliche Anweisungen, und dann gehst du davon, und er macht dann lauter dummes Zeug«, und während Dolly das sagte, verzog sie mit ihrem üblichen spöttischen Lächeln die Mundwinkel.
›Aussöhnung, völlig, völlige Aussöhnung!‹ dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und voll Freude darüber, daß es ihr gelungen war, dies zustande zu bringen, trat sie an Dolly heran und küßte sie.
»So ist das ganz und gar nicht; warum verachtest du mich und Matwei so?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch, sich seiner Frau zuwendend, mit einem kaum bemerkbaren Lächeln.
Den ganzen Abend über hatte alles, was Dolly zu ihrem Manne sagte, eine leise ironische Färbung, wie das auch früher immer so gewesen war, und Stepan Arkadjewitsch war zufrieden und heiter, jedoch nur so weit, daß er doch dabei andeutete, er habe trotz der erhaltenen Verzeihung seine Schuld keineswegs vergessen.
Um halb zehn Uhr wurde dieses besondere muntere und vergnügliche abendliche Familiengespräch am Teetische bei Oblonskis durch ein anscheinend ganz unbedeutendes Ereignis unterbrochen; aber dieses unbedeutende Ereignis erschien aus eigentümlichen Gründen allen als etwas sehr Bemerkenswertes. Man sprach von einer gemeinsamen Petersburger Bekannten, da stand Anna eilig auf.
»Ich habe ein Bild von ihr in meinem Album bei mir«, sagte sie. »Und bei dieser Gelegenheit kann ich euch auch meinen kleinen Sergei zeigen«, fügte sie mit einem stolzen, mütterlichen Lächeln hinzu.
Nach neun Uhr, wo sie ihrem Söhnchen gewöhnlich gute Nacht sagte, ihn auch oft, ehe sie zu einem Balle fuhr, selbst zu Bett brachte, war ihr heute traurig zumute geworden, weil sie so weit von ihm entfernt war; und wovon die Rede auch sein mochte, sie kehrte mit ihren Gedanken immer wieder zu ihrem kleinen, krausköpfigen Sergei zurück. Sie wollte gern sein Bild betrachten und von ihm sprechen. Daher benutzte sie den ersten Vorwand, der sich darbot, stand auf und ging mit ihrem leichten, festen Gang hinaus, um das Album zu holen. Die Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte, mündete auf den Vorplatz der großen geheizten Haupttreppe.
In dem Augenblicke, da sie aus dem Wohnzimmer trat, ertönte in der Flurhalle die Klingel.
»Wer kann das sein?« sagte Dolly.
»Es ist noch zu früh, als daß es jemand sein könnte, der mich abholen soll; und für einen Besuch wieder ist es zu spät«, bemerkte Kitty.
»Wahrscheinlich jemand mit Akten«, setzte Stepan Arkadjewitsch hinzu. Als Anna an der Haupttreppe vorbeikam, lief gerade ein Diener hinauf, um den Ankömmling zu melden; dieser selbst stand unten neben der Flurlampe. Anna, die hinunterblickte, erkannte sofort Wronski, und ein seltsames Gefühl, aus Freude und Furcht gemischt, regte sich plötzlich in ihrem Herzen. Er stand da, ohne den Überzieher abzulegen, und zog gerade etwas aus der Tasche. In dem Augenblicke, da sie in eine Linie mit dem Mittelraume des Treppenhauses gelangt war, hob er die Augen in die Höhe, erblickte sie, und in dem Ausdrucke seines Gesichtes wurde etwas wie Beschämung und Schreck sichtbar. Sie ging mit leicht gesenktem Kopfe vorüber; aber hinter sich hörte sie die laute Stimme Stepan Arkadjewitschs, der den späten Besucher zum Nähertreten aufforderte, und die mäßig laute, weiche, ruhige Stimme Wronskis, der dies ablehnte.
Als Anna mit dem Album zurückkehrte, war er nicht mehr da, und Stepan Arkadjewitsch erzählte, er sei nur hergekommen, um sich wegen eines Diners zu erkundigen, das sie am nächsten Tage einer soeben in Moskau eingetroffenen Berühmtheit zu Ehren geben wollten. »Er wollte durchaus nicht hereinkommen; ein sonderbarer Mensch!« fügte Stepan Arkadjewitsch hinzu.
Kitty errötete. Sie glaubte, sie allein wüßte, weshalb er gekommen sei und weshalb er nicht habe eintreten wollen. ›Er ist bei uns gewesen‹, dachte sie, ›hat mich nicht getroffen und hat sich gedacht, daß ich hier sein würde; aber er hat nicht hereinkommen mögen, weil er meinte, es sei schon zu spät, und weil Anna hier ist.‹
Alle sahen einander an, ohne etwas zu sagen; dann begannen sie Annas Album zu besehen.
An sich lag nichts Ungewöhnliches und Befremdliches darin, daß jemand um halb zehn bei einem Freunde vorsprach, um Näheres über ein geplantes Diner zu hören, dabei aber nicht ins Zimmer kommen wollte; aber dennoch erschien es allen auffällig. Mehr noch als die anderen war Anna der Ansicht, daß dieses Verhalten auffällig und nicht passend sei.
22
Der Ball begann eben, als Kitty mit ihrer Mutter die große, von Licht überflutete Treppe hinanstieg, auf der blühende Topfgewächse und gepuderte Lakaien in roten Röcken aufgestellt waren. Aus den Sälen drang das dumpfe Geräusch der sich darin bewegenden Menschenmenge heraus, gleichmäßig wie das Summen in einem Bienenstocke, und während sie auf einem Treppenabsatz zwischen der dort aufgestellten Orangerie vor dem Spiegel die Frisuren und Kleider in Ordnung brachten, ertönten aus dem Tanzsaale die rhythmischen Geigenklänge des Orchesters, das den ersten Walzer anstimmte. Ein bejahrter Herr in Zivil, der sich vor einem anderen Spiegel die grauen Haare an den Schläfen zurechtgebürstet hatte und eine Wolke von Wohlgeruch um sich verbreitete, traf mit ihnen auf der Treppe zusammen und trat zur Seite, wobei er die ihm unbekannte Kitty mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Ein bartloser Jüngling mit sehr tief ausgeschnittener Weste, einer der Salonmenschen, die der Fürst Schtscherbazki Windhunde zu nennen pflegte, brachte im Gehen seine weiße Krawatte in Ordnung, verbeugte sich vor ihnen, kehrte, nachdem er schon vorbeigelaufen war, wieder um und bat Kitty um eine Quadrille. Die erste Quadrille war schon an Wronski vergeben; sie mußte also diesem jungen Manne die zweite zuteilen. Ein Offizier, der gerade dabei war, sich den einen Handschuh zuzuknöpfen, trat an der Tür zur Seite und musterte, sich den Schnurrbart glattstreichend, beifällig die einem Röschen gleichende Kitty.
Obgleich die Toilette, die Frisur und alle die anderen Zurüstungen zum Balle Kitty viel Mühe und viel Überlegungen gekostet hatten, trat sie doch jetzt in ihrem kunstvollen Tüllkleide über einem rosa Unterkleide auf dem Balle so frei und ungezwungen auf, als ob all diese Rosetten, Spitzen und sonstigen Bestandteile der Toilette ihre und ihrer Hausgenossen eifrige Tätigkeit auch nicht für einen Augenblick in Anspruch genommen hätten, als ob sie in diesem Tüll, in diesen Spitzen, mit dieser hohen, von einer Rose nebst zwei Blättchen gekrönten Frisur geboren wäre.
Als beim Eintritt in den Saal die alte Fürstin ihr das Gürtelband, das sich umgeschlagen hatte, wieder in Ordnung bringen wollte, wehrte Kitty leise ab. Sie hatte die Empfindung, jetzt müsse alles an ihr ganz von selbst schön und anmutig sein, so daß keinerlei Verbesserung mehr nötig sei.
Kitty hatte heute einen ihrer glücklichen Tage. Nirgends saß das Kleid zu eng; nirgends war die Spitzenborte hinuntergerutscht; keine Rosette war zerdrückt oder abgerissen; die rosa Ballschuhe mit den hohen, geschweiften Absätzen drückten nicht, sondern waren eine Lust für die Füßchen. Die dichten, hellblonden Bandeaus saßen auf dem kleinen Köpfchen fest wie das eigene Haar. Die drei Knöpfe an jedem der langen Handschuhe, die eng anliegend die Hände umschlossen, ohne deren Form zu verändern, hatten sich alle zuknöpfen lassen; keiner war abgerissen. Das schwarze Samtband, an dem ein Medaillon hing, umgab ihren Hals besonders anmutig. Dieses Samtband war geradezu entzückend, und als Kitty zu Hause ihren Hals im Spiegel gesehen hatte, hatte sie ein Gefühl gehabt, wie wenn dieses Samtband reden könnte. Und wenn bei allen übrigen Bestandteilen ihrer Toilette vielleicht noch ein Zweifel an deren höchster Vollendung möglich war, das Samtband war einfach entzückend. Auch hier auf dem Balle lächelte Kitty, als sie es im Spiegel erblickte. In den entblößten Schultern und Armen empfand Kitty eine marmorartige Kühle, ein Gefühl, das sie ganz besonders gern hatte. Ihre Augen leuchteten, und die roten Lippen konnten im Bewußtsein, wie reizend sie waren, ein Lächeln nicht unterdrücken.
Kaum hatte sie den Saal betreten und sich zu der Schar der Damen begeben, die, einem bunten Durcheinander von Tüll, Bändern, Spitzen und Blumen gleichend, auf Aufforderungen zum Tanze warteten (Kitty hatte in diesem Schwarm nie lange zu stehen brauchen), als sie auch schon zum Walzer aufgefordert wurde, und zwar von einem Kavalier ersten Ranges, dem tonangebenden Kavalier auf dem Gebiete des Ball-Lebens, dem berühmten Ballordner und Zeremonienmeister Jegor Korsunski, einem hübschen, stattlichen, verheirateten Manne. Er hatte soeben die Gräfin Bonina verlassen, mit der er den ersten Walzer getanzt hatte, und musterte »seine Truppen«, das heißt die zum Tanz angetretenen Paare, da erblickte er die eintretende Kitty, eilte mit jenem besonderen, nur den Ballordnern eigenen, ungezwungenen, wiegenden Gange auf sie zu, verbeugte sich und hob, ohne auch nur zu fragen, ob es ihr recht sei, den Arm, um ihn um ihre schlanke Taille zu legen. Sie blickte sich um, wem sie ihren Fächer übergeben könnte, und die Hausfrau nahm ihn ihr, freundlich lächelnd, ab.
»Wie schön, daß Sie so pünktlich gekommen sind«, sagte er, während er ihre Hüfte umfaßte. »Dieses Zuspätkommen ist auch eine zu arge Unsitte.«
Sie legte den gebogenen linken Arm auf seine Schulter, und die kleinen Füßchen in den rosa Schuhen bewegten sich hurtig, leicht und gleichmäßig nach dem Takte der Musik auf dem glatten Parkett.
»Es ist geradezu eine Erholung, mit Ihnen Walzer zu tanzen«, sagte er nach den ersten ruhigen Walzerschritten. »Eine ganz entzückende Leichtigkeit und précision«, – er sagte ihr dasselbe, was er fast allen Damen seiner Bekanntschaft sagte.
Sie lächelte über sein Lob und fuhr fort, über seine Schulter hinweg sich im Saale umzusehen. Sie war kein Neuling, für den auf einem Balle alle Gesichter zu einem einzigen zauberhaften Gesamteindrucke zusammenfließen, aber sie war auch keine jener jungen Damen, die von ihren Müttern auf alle Bälle geschleppt werden und dort alle Gesichter schon so genau kennen, daß sie sie gar nicht mehr sehen mögen, sondern sie nahm eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Gegensätzen ein: sie war wohl erregt, hatte sich aber dabei doch so weit in der Gewalt, daß sie Beobachtungen anstellen konnte. In der linken Ecke des Saales hatte sich, wie sie sah, die Creme der Gesellschaft aufgestellt. Da war die schöne, fast bis zur Unmöglichkeit dekolletierte Liddy, die Frau des Herrn Korsunski; da war die Hausfrau; da saß mit seiner weithin leuchtenden Glatze Herr Kriwin, der sich immer dort aufhielt, wo sich die Spitzen der Gesellschaft befanden; dorthin richteten die jungen Herren ihre Blicke, ohne daß sie doch gewagt hätten, hinzugehen; und dort fand sie auch mit den Augen ihren Schwager Stiwa heraus, und dann erblickte sie Annas schönen Kopf und entzückende Gestalt in einem schwarzen Samtkleide. Auch ›er‹ war dort. Kitty hatte ihn seit dem Abende, da sie Ljewins Antrag abgelehnt hatte, nicht wiedergesehen. Mit ihren scharfen Augen erkannte sie ihn sofort und bemerkte sogar, daß er zu ihr herüberschaute.
»Nun, noch eine Runde? Sie sind doch nicht ermüdet?« fragte Korsunski, der ein wenig außer Atem gekommen war.
»Nein, ich danke.«
»Wohin darf ich Sie führen?«
»Ich glaube, dort ist Frau Karenina. Führen Sie mich, bitte, zu ihr!« – »Wie Sie befehlen.«
Und Korsunski walzte mit kürzer abgemessenen Schritten gerade auf die Gruppe in der linken Ecke des Saales zu, wobei er fortwährend sagte: ›Pardon, mes dames, pardon, pardon, mes dames!‹ und in diesem Meere von Spitzen, Tüll und Bändern so geschickt kreuzte, daß er auch nicht an einem Flitterchen anhakte; dann schwenkte er seine Dame in kurzer Wendung herum, so daß ihre schlanken Beinchen in den durchbrochenen Strümpfen sichtbar wurden und ihre Schleppe sich fächerförmig ausbreitete und Kriwins Knie bedeckte. Korsunski verbeugte sich, drückte die Brust in dem weiten Westenausschnitt nach vorn heraus und reichte Kitty den Arm, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen. Errötend nahm Kitty ihre Schleppe von Kriwins Knien herunter und blickte dann, ein wenig schwindlig, umher, um Anna herauszufinden. Anna war nicht in Lila, wie Kitty das für das einzig Gegebene gehalten hatte, sondern trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Samtkleid, das ihre vollen, wie aus altem Elfenbein gedrechselten Schultern, die Büste und die rundlichen Arme mit den feinen, schmalen Handgelenken frei ließ. Das ganze Kleid war mit venezianischer Stickerei besetzt. Auf dem Kopfe trug sie in dem schwarzen Haare, lauter eigenem ohne fremden Zusatz, eine kleine Girlande von Stiefmütterchen, und ein Sträußchen ebendieser Blumen steckte zwischen weißen Spitzen an dem schwarzen Gürtelbande. Ihre Frisur hatte nichts Auffallendes. Auffällig waren nur diese überaus reizenden, eigenwilligen, kurzen Ringel des lockigen Haares, die überall, am Nacken und an den Schläfen, vom Kopfe abstanden. Um den glatten, kräftigen Hals schlang sich eine Perlenschnur.
Kitty hatte Anna täglich gesehen und sich geradezu in sie verliebt. Sie hatte sie sich durchaus in Lila vorgestellt; aber als sie sie jetzt in Schwarz erblickte, da kam sie zu der Erkenntnis, daß sie Annas Reiz vorher nicht in vollem Umfange erfaßt hatte. Sie sah sie jetzt in einer völlig neuen, überraschenden Erscheinungsform. Jetzt begriff sie, daß Anna nicht Lila tragen durfte und daß ihr Reiz gerade darin bestand, daß sie, gleichsam wie ein Bild aus dem Rahmen, aus ihrer Toilette heraustrat und daß man über ihrer Person ihre Toilette nicht beachtete. Und wirklich sah man dieses schwarze Kleid mit den prachtvollen Spitzen an ihr eigentlich gar nicht; das Kleid war nur der Rahmen, und sichtbar war nur sie in ihrer Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit sowie in ihrer Heiterkeit und Lebhaftigkeit.
Sie stand, wie immer, in sehr gerader Haltung da und redete gerade mit dem Hausherrn, indem sie den Kopf leicht zu ihm hinwandte, als Kitty an diese Gruppe herantrat.
»Nein, ich will keinen Stein auf sie werfen«, antwortete sie auf etwas, was er gesagt hatte, »verstehen kann ich es allerdings nicht, wie das möglich war«, fuhr sie achselzuckend fort. Dann wandte sie sich sogleich mit einem liebenswürdigen, gönnerhaften Lächeln zu Kitty. Mit schnellem Frauenblicke musterte sie deren Toilette und gab dann durch eine kaum bemerkbare, aber für Kitty verständliche Kopfbewegung ihren Beifall sowohl für die Toilette wie auch für die Schönheit der Trägerin zu verstehen. »Sie sind ja in den Saal hereingetanzt gekommen«, fügte sie hinzu.
»Das ist eine meiner treuesten Gehilfinnen«, sagte Korsunski und verbeugte sich vor Anna Arkadjewna, die er noch nicht begrüßt hatte. »Die Prinzessin trägt außerordentlich viel dazu bei, einen Ball heiter und schön zu gestalten. Anna Arkadjewna, einen Walzer«, sagte er, sich verneigend.
»Sie kennen einander schon?« fragte der Hausherr.
»Mit wem wären meine Frau und ich nicht bekannt? Wir sind wie weiße Wölfe, uns kennt jeder«, versetzte Korsunski. »Einen Walzer, Anna Arkadjewna!«
»Ich tanze nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete sie.
»Aber heute ist es nicht zu vermeiden«, entgegnete Korsunski.
In diesem Augenblicke trat Wronski heran.
»Nun, wenn es denn heute für mich unvermeidlich ist, zu tanzen, so kommen Sie!« sagte sie, ohne Wronskis Verbeugung zu beachten, und legte schnell die Hand auf Korsunskis Schulter.
›Was mag sie nur gegen ihn haben?‹ dachte Kitty; sie hatte recht wohl gemerkt, daß Anna den Gruß Wronskis absichtlich nicht erwidert hatte. Wronski trat nun auf Kitty zu, erinnerte sie an die ihm versprochene erste Quadrille und äußerte sein Bedauern darüber, daß er diese ganze Zeit her nicht das Vergnügen gehabt habe, sie zu sehen. Kitty blickte voll Bewunderung zu der tanzenden Anna hin und hörte gleichzeitig auf das, was Wronski sagte. Sie erwartete, daß er sie zum Walzer auffordern werde; aber er tat es nicht, und sie blickte ihn verwundert an. Er errötete und bat sie nun eilig um den Tanz; aber kaum hatte er ihre schlanke Hüfte umfaßt und den ersten Schritt gemacht, als die Musik plötzlich aufhörte. Kitty schaute in sein Gesicht, das dem ihren so nahe war, und noch lange nachher, noch jahrelang, erfüllte der Gedanke an diesen Blick voll Liebe, den er unerwidert gelassen hatte, ihr Herz mit einem bitteren, bitteren Gefühl der Scham.
»Pardon, pardon! Walzer, Walzer!« rief von der anderen Seite des Saales her Korsunski, faßte selbst die erste junge Dame um, die ihm in den Weg kam, und tanzte weiter.
23
Wronski tanzte mit Kitty den Walzer. Nach dem Tanz begab sich Kitty zu ihrer Mutter und hatte kaum ein paar Worte mit der Gräfin Northstone gesprochen, als auch schon Wronski kam, um sie zur ersten Quadrille zu holen. Während der Quadrille sprachen die beiden nichts von Bedeutung miteinander; die Unterhaltung berührte sprungweise die verschiedensten Gegenstände. Bald sprach Wronski von Herrn Korsunski und Frau Korsunskaja, von denen er eine höchst unterhaltsame Schilderung entwarf, indem er sie als nette Kinderchen von vierzig Jahren kennzeichnete, bald von dem in Aussicht genommenen Liebhabertheater, und nur ein einziges Mal ging das Gespräch Kitty näher an, und zwar berührte es bei ihr einen empfindlichen Punkt, als er sich nach Ljewin erkundigte, ob der auch hier sei, und hinzufügte, er habe ihm sehr gut gefallen. Aber von dieser Quadrille hatte Kitty auch nicht mehr erwartet; sie wartete mit Herzklopfen auf die Masurka. Bei der Masurka, meinte sie, müsse alles zur Entscheidung kommen. Daß er sie während der Quadrille nicht zur Masurka aufforderte, beunruhigte sie nicht weiter. Sie hielt es für selbstverständlich, daß sie wie auf den früheren Bällen auch diesmal die Masurka mit ihm tanzen werde, und wies fünf Herren ab, von denen sie aufgefordert wurde, da sie bereits vergeben sei. Der ganze Ball bis zur letzten Quadrille war für Kitty ein märchenhafter Traum voll heiterer Farben, Klänge und Bewegungen. Sie tanzte fast ununterbrochen; nur wenn sie sich zu müde fühlte und der Erholung bedurfte, ließ sie eine Pause eintreten. Die letzte Quadrille tanzte sie mit einem langweiligen jungen Manne, dem sie nicht gut hatte einen Korb geben können, und es traf sich, daß sie dabei Wronski und Anna zum Gegenüber hatte. Sie war mit Anna seit der Begegnung gleich zu Beginn des Balles nicht wieder in Berührung gekommen und sah sie nun auf einmal in einem ganz neuen, überraschenden Zustande wieder. Sie nahm an ihr die ihr selbst so wohlbekannten Merkmale jener Erregung wahr, die durch einen persönlichen Erfolg hervorgerufen wird. Sie sah, daß Anna wie berauscht war von dem Gefühle des Triumphes darüber, daß sie Entzücken erregt habe. Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Anzeichen und sah sie jetzt bei Anna – sie sah den zitternden, aufleuchtenden Glanz in ihren Augen und das Lächeln des Glücks und der Aufregung, das unwillkürlich ihren Mund umspielte, und die vollendete Anmut, Sicherheit und Leichtigkeit aller Bewegungen.
›Wer ist es?‹ fragte sie sich selbst. ›Alle oder ein einzelner?‹ Während der junge Mann, mit dem sie tanzte, sich abquälte, sie zu unterhalten, aber den Faden verlor, ohne daß er ihn hätte wiederfinden können oder sie ihm zu Hilfe gekommen wäre, und während sie äußerlich heiter den lauten Kommandos des Herrn Korsunski Folge leistete, der alle Tanzenden bald zur grande ronde, bald zur chaîne formierte, beobachtete sie unterdessen, und ihr Herz krampfte sich immer schmerzlicher zusammen. ›Nein, nicht daß sie das Wohlgefallen vieler gefunden, sondern daß sie das Entzücken eines einzelnen erregt hat, das hat sie so berauscht. Und wer ist dieser eine? Sollte er es sein, er?‹ Jedesmal, wenn er zu Anna sprach, leuchtete in ihren Augen ein freudiger Glanz auf, und ein glückliches Lächeln trat auf ihre roten Lippen. Es schien, als gäbe sie sich Mühe, diese Zeichen ihrer Freude zu unterdrücken; aber sie drangen auf ihrem Gesichte aus eigener Kraft hervor. ›Und wie ist es mit ihm?‹ fragte sich Kitty, blickte ihn an und erschrak heftig. Das, was ihr in Annas Gesicht klar wie in einem Spiegel entgegengetreten war, ebendasselbe erblickte sie auch bei ihm. Wo war seine sonst immer so ruhige, sichere Haltung geblieben, wo der sorglose, unbekümmerte Ausdruck seines Gesichtes? Jetzt war das alles verändert: jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, neigte er ein wenig den Kopf, als wolle er vor ihr niederfallen, und in seinem Blicke lag unausgesetzt der Ausdruck völliger Ergebenheit und einer gewissen Bangigkeit. ›Ich möchte dich nicht durch meine Leidenschaft beleidigen‹, schien jedesmal sein Blick zu sagen. ›Ich möchte mich retten und weiß nicht, wie.‹ Auf seinem Gesichte lag ein Ausdruck, wie ihn Kitty noch nie an ihm kennengelernt hatte.
Sie unterhielten sich über gemeinsame Bekannte und führten ein ganz gleichgültiges Gespräch, aber Kitty hatte die Empfindung, daß jedes von ihnen gesprochene Wort das Schicksal der beiden sowie auch ihr eigenes entscheide. Und seltsam: obgleich sie in Wirklichkeit nur davon redeten, wie lächerlich sich Iwan Iwanowitsch mit seinem Französischsprechen mache, und daß Fräulein Jelezkaja doch wohl eine bessere Partie hätte finden können, so hatten dabei doch diese Worte für sie eine besondere Bedeutung, und sie fühlten das nicht minder als Kitty. Der ganze Ball, die ganze Welt, alles umzog sich in Kittys Seele wie mit einem dichten Nebel. Nur die strenge Schule der Erziehung, durch die sie hindurchgegangen war, hielt sie aufrecht und zwang sie, das zu tun, was von ihr verlangt wurde, das heißt zu tanzen, auf Fragen zu antworten, die Unterhaltung weiterzuspinnen, ja sogar zu lächeln. Aber vor dem Beginne der Masurka, als schon die Stühle dazu in Ordnung gestellt wurden und bereits einige Paare sich aus den kleineren Sälen in den Hauptsaal begaben, da kam für Kitty ein Augenblick der Verzweiflung und des Entsetzens. Fünf Herren hatte sie abgewiesen, und nun war sie zur Masurka gar nicht aufgefordert! Es war auch nicht mehr zu hoffen, daß sie jetzt noch würde aufgefordert werden, gerade deswegen, weil sie stets eine so begehrte Tänzerin gewesen war und somit niemand auf den Gedanken kommen konnte, daß sie noch nicht vergeben sei. Der einzige Ausweg war nun, der Mutter zu sagen, daß sie krank sei, und nach Hause zu fahren; aber dazu hatte sie nicht die Kraft. Sie fühlte sich völlig gebrochen.
Sie zog sich in ein kleines Nebenzimmer zurück und ließ sich an dessen fernstem Ende auf einen Sessel sinken. Der luftige Rock ihres Ballkleides bauschte sich wie eine Wolke um ihre schlanke Gestalt; der eine der entblößten, schmächtigen, zarten Mädchenarme hing kraftlos herab und versank in den Falten der rosa Tunika; in der anderen Hand hielt sie den Fächer und wehte mit kurzen, schnellen Bewegungen ihrem glühenden Gesichte Kühlung zu. Äußerlich glich sie einem Schmetterlinge, der sich soeben auf einem Halm niedergelassen hat und jeden Augenblick bereit ist, seine bunt schillernden Flügel wieder auseinanderzufalten und aufzuflattern; aber in schroffem Gegensatze zu dieser Ähnlichkeit preßte furchtbare Verzweiflung ihr das Herz zusammen.
»Aber vielleicht irre ich mich, vielleicht ist es gar nicht so?« Und wieder rief sie sich alles, was sie gesehen hatte, ins Gedächtnis zurück.
»Aber Kitty, was hat das zu bedeuten?« fragte die Gräfin Northstone, die auf dem Teppich, ohne daß Kitty es gehört hatte, zu ihr herangekommen war. »Das verstehe ich ja gar nicht.«
Kittys Unterlippe bebte; rasch stand sie auf.
»Tanzt du denn die Masurka nicht mit, Kitty?«
»Nein, nein«, antwortete Kitty; ihre Stimme zitterte von verhaltenen Tränen.
»Ich stand dabei, als er sie zur Masurka aufforderte«, sagte die Gräfin Northstone, die mit Sicherheit voraussetzte, daß Kitty verstände, wer »er« und »sie« seien. »Sie fragte ihn: ›Tanzen Sie denn nicht mit der Prinzessin Schtscherbazkaja?‹«
»Ach, mir ist alles gleich!« antwortete Kitty.
Niemand außer ihr selbst hatte die volle Kenntnis der Lage, in der sie sich befand; niemand wußte, daß sie erst vor kurzem die Hand eines Mannes abgelehnt hatte, den sie vielleicht liebte, und sie nur deswegen abgelehnt hatte, weil sie an die Liebe eines anderen glaubte.
Die Gräfin Northstone suchte Korsunski auf, der sie zur Masurka engagiert hatte, und veranlaßte ihn, Kitty aufzufordern.
Kitty und Korsunski tanzten als erstes Paar, und zu Kittys Glücke brauchte sie nicht zu reden, da Korsunski die ganze Zeit über umherlief und seinen Truppen Anweisungen gab. Wronski und Anna saßen ihr beinah gegenüber. Sie beobachtete sie mit ihren weitblickenden Augen; sie beobachtete sie auch in der Nähe, wenn der Tanz eine Begegnung der Paare mit sich brachte, und je mehr sie sie beobachtete, um so mehr überzeugte sie sich, daß ihr Unglück eine vollendete Tatsache sei. Sie sah, daß jene beiden in diesem von Menschen erfüllten Saale miteinander allein zu sein glaubten. Und auf Wronskis Gesichte, das sonst immer eine solche Festigkeit und Selbstsicherheit zeigte, nahm sie wieder jenen Ausdruck von Verlegenheit und Unterwürfigkeit wahr, der sie schon vorhin überrascht hatte, einen Ausdruck, wie man ihn ähnlich bei einem klugen Hunde findet, wenn er sich schuldig fühlt.
Anna lächelte, und ihr Lächeln ging auch auf ihn über. Sie versank in Gedanken, und er wurde gleichfalls ernst. Eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Kraft zog Kittys Augen immer wieder zu Annas Gestalt hin. Sie war entzückend in ihrem einfachen schwarzen Kleide, entzückend waren ihre vollen Arme mit den Armbändern, entzückend der feste Hals mit der Perlenschnur, entzückend die Löckchen der ein wenig in Unordnung geratenen Frisur, entzückend die anmutigen, leichten Bewegungen der kleinen Füße und Hände, entzückend dieses schöne Gesicht in seiner Lebendigkeit, aber es lag etwas Furchtbares und Grausames in all diesem entzückenden Reiz.
Kitty bewunderte Anna mehr als je, und sie litt dabei immer heftiger. Sie fühlte sich ganz vernichtet, und das malte sich auch auf ihrem Gesichte. Als Wronski während der Masurka einmal mit ihr zusammentraf und sie ansah, erkannte er sie auf den ersten Blick kaum, so war sie verändert.
»Ein wunderschöner Ball!« sagte er zu ihr, um nur überhaupt etwas zu sagen.
»Ja«, antwortete sie.
Mitten in der Masurka wurde eine von Korsunski neu ersonnene, schwierige Figur ausgeführt, und Anna, an der die Reihe war, sie zu wiederholen, trat in die Mitte des Kreises, wählte zwei Herren und rief dann Kitty und eine andere Dame zu sich heran. Erschrocken blickte Kitty, als sie zu Anna herantrat, sie an. Anna zwinkerte ihr freundlich zu, lächelte und drückte ihr die Hand. Als sie aber bemerkte, daß Kittys Gesicht dieses Lächeln nur mit einer Miene des Staunens und der Verzweiflung erwiderte, wandte sie sich von ihr ab und redete heiter mit der anderen Dame.
›Ja, es ist etwas Fremdes, Unheimliches in diesem entzückenden Wesen!‹ dachte Kitty.
Anna wollte nicht zum Abendessen bleiben; der Hausherr bat sie inständigst.
»Geben Sie nur nach, Anna Arkadjewna!« kam ihm Korsunski zu Hilfe, hielt ihr seinen Arm hin und legte ihren entblößten Arm auf seinen Frackärmel. »Wenn Sie wüßten, was für einen prachtvollen Kotillon ich vorbereitet habe! Un bijou!«
Und er bewegte sich sacht weiter, indem er versuchte, sie mit fortzuziehen. Der Hausherr lächelte beifällig.
»Nein, ich bleibe nicht«, erwiderte Anna lächelnd; aber trotz diesem Lächeln merkten sowohl Korsunski wie auch der Hausherr an dem bestimmten Tone, in dem sie antwortete, daß sie nicht dableiben werde.
»Nein, ich habe sowieso schon hier in Moskau auf diesem einen Balle bei Ihnen mehr getanzt als den ganzen Winter über in Petersburg«, sagte Anna mit einem Seitenblick zu dem neben ihr stehenden Wronski. »Ich muß mich vor der Abreise noch ein wenig ausruhen.«
»Und Sie fahren wirklich morgen unwiderruflich weg?« fragte Wronski.
»Ja, ich denke wohl«, erwiderte Anna, wie verwundert über die Kühnheit seiner Frage; aber während sie das sagte, flog von ihren leuchtenden Augen und lächelnden Lippen gleichsam ein nicht zurückzuhaltender, zitternder, sengender Strahl zu ihm hinüber.