Buch lesen: «Der Zorn der Hexe», Seite 8

Schriftart:

Dummerweise blieb ihr nichts anderes übrig. Sie lag jetzt hier in dieser Senke, in die sie spektakulär gesprungen war wie eine Stuntwoman. Die Sache war oscarreif: mit dem Kopf voran, todesmutig, ohne auch nur zu wissen, wie tief sie war oder ob etwas Gefährliches darin lag, ein spitzer Ast etwa, der aus dem Boden lugte und sie aufspießen konnte wie ein Speer ...

Ihr wurde immer mulmiger zumute. Was ging hier vor? Warum sauste sie wie ein Wirbelwind durch den Wald und warf sich todesmutig in ein Loch, das sie gar nicht kannte?

Da plötzlich dämmerte es ihr: Sie wollte von den Besitzern der Stimmen nicht gesehen werden. Das war der einzige plausible Grund. Aber warum? Sie wusste doch weder, wer sie waren noch, wohin sie wollten. Bis eben noch hatte sie geglaubt, allein hier zu sein. Wo auch immer dieses „hier“ sein mochte. Ja, verdammt noch mal, sie wusste noch nicht einmal das!

Na schön, na schön. Sie flüchtete also wie die Beute vor seinem Jäger. Und da ihr nichts anderes übrig blieb, würde sie damit irgendwie leben. Es sprach aber bestimmt nichts dagegen, mal einen Blick zu riskieren, oder? Neugier ist schließlich eine Tugend, und was das anging, war sie die Tugend in Person!

Sie robbte etwas nach vorn, nicht viel, nur so weit, um aus der Senke spähen zu können.

Da kamen die Besitzer der Stimmen auch schon über die Anhöhe. Es waren vier Frauen. Das überraschte Sabine; schließlich hatten die Stimmen sehr markant geklungen, eigentlich mehr wie die von Männern. Und noch etwas überraschte sie: Es waren die Kleider, die sie trugen. Sie passten nicht in die Gegenwart. Sie waren ganz anders als alles, was Sabine bisher gesehen hatte … Nein, etwas Ähnliches hatte sie schon einmal gesehen. Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie wusste, wann das gewesen war und in welchem Zusammenhang!

Die Frauen dort trugen, so sah sie, seltsame Beinlinge, die ihnen bis zu den Knien reichten, dazu weite Filzkittel, bei denen Sabine unweigerlich an einen Lumpensammler denken musste. Ihre Tracht war seltsam grau und eintönig, und sie war schmutzig. Sie war richtig schmutzig, sie stand regelrecht vor Dreck. Sabine schüttelte es schon vom puren Ansehen.

Dann waren die vier Frauen auch schon wieder vorbei, und Sabine war sprachlos. Sie lag auf dem Boden in ihrer Senke, die Augen weit aufgerissen und ungläubig hinter ihnen her starrend. Was ging hier vor? Wo bin ich hier nur gelandet? Und, verdammt noch mal, wann?

Doch sie hatte keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Moment begannen ihre Beine wieder mit ihrem Eigenleben. Und wie zuvor blieb ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu gehorchen. Sie pirschte sich zwischen den Bäumen entlang, immer auf Höhe der vier Frauen. Und es grenzte schier an ein Wunder, dass sie sich nicht die Knochen brach, während sie über etwas stolperte – und das tat sie fast pausenlos. Doch seltsamerweise erzeugte sie keine Geräusche, obwohl sie wie ein wildgewordener Derwisch wütete.

Noch etwas kam ihr seltsam vor. Sie wusste, dass es lächerlich war, aber sie glaubte, eine der Frauen zu kennen. Aber woher? Sabine war sich sicher, keine von ihnen je gesehen zu haben. Dennoch, sie spürte es. Es war da und ließ sich nicht leugnen. Eine dieser Personen war ihr vertraut. Sie wusste nur noch nicht, welche.

Sie hastete weiter zwischen den Bäumen entlang, nur einen Steinwurf von den Weibern entfernt. Sie hätten ihre Anwesenheit schon längst mitkriegen müssen, verdammt! Wenn nicht durch die nicht vorhandenen Geräusche, dann, weil sie so verdammt nah an ihnen dran war. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu …

Und dann wurde es plötzlich schwarz.

Und als es wieder hell um sie herum wurde, fand sie sich auf einem großen Platz wieder, inmitten einer Menschenmenge. Es waren bestimmt an die dreihundert Leute, vielleicht sogar mehr. Und sie waren alle seltsam gekleidet. Sabine kam sich ziemlich verlassen vor, und sie hatte Angst – am meisten wohl davor, entdeckt zu werden. Wie würden die Menschen reagieren, wenn sie merkten, dass die Frau da in ihrer Mitte nicht zu ihnen gehörte?

Doch darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zerbrechen, wie sie eben feststellte. Sie trug nämlich plötzlich ebenso seltsame Gewänder. Doch das war noch nicht alles, nein, das ganze merkwürdige Drumherum ging fröhlich weiter: Ihre Hände waren schmutzig und schwielig, die Fingernägel abgekaut und ihre Arme zerkratzt.

Eigentlich hätte es ihr ihre Angst machen müssen, aber sie wunderte sich über gar nichts mehr. Sabine hatte sich damit abgefunden, dass hier seltsame Dinge geschahen. Und da sie es ohnehin nicht ändern konnte und ihr scheinbar keine Gefahr drohte, beließ sie es einfach dabei und widmete sich stattdessen dem Schauspiel. Sie war sogar ein wenig gespannt auf das, was noch kommen würde.

Die Menschenmasse grölte und brüllte. Es war eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Sabine hatte fast den Eindruck, in einem Footballstadion zu stehen, inmitten von Tausenden begeisterter Fans, die ihrer Mannschaft zujubelten: Yes, Baby, das war ein Touchdown! Mach´s noch mal, du verdammter Schweinehund! Führ uns zum Sieg!

Dann wurde es wieder schwarz.

Und als es dann wieder hell wurde, war die Stimmung eine ganz andere. Als sie wegtrat, war sie ausgelassen gewesen und fröhlich, und als sie wiederkam, war das blanke Gegenteil der Fall. Es herrschte ein Schweigen, dass einem eine Gänsehaut den Rücken hinunterkriechen konnte.

Eine Sekunde später begriff Sabine, dass das Schweigen besser gewesen wäre. Jedenfalls besser als das, was sie jetzt hörte. Jetzt redete nämlich eine Stimme. Und was sie zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich. Sie bewirkte weit mehr als eine läppische Gänsehaut. Viel mehr.

Denn nun begann in der Menschenmasse, die bis eben ruhig gewesen war, eine Bewegung. Sie begann ganz langsam, wurde aber schneller. Jetzt bemerkte Sabine noch etwas anderes: Die Bewegung führte von ihr weg. Aber sie war nicht der Grund. Nein, es war eine andere Frau. Und zwar die, die vor ihr stand. Es war eine von den Weibern, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war die einzige, die nicht vor ihr zurückwich. Sabine und die Frau standen jetzt in einem Kreis, der sich um sie gebildet hatte. Hatte sie etwa irgendeine ansteckende Krankheit? Warum wichen die Menschen vor ihr zurück?

Und da schnitt jene Stimme sich tief in ihr Bewusstsein.

„Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage! Du hast dir diesmal die Falsche ausgesucht! Diesmal hast du ins Schwarze getroffen! Ich bin eine Hexe! Alle deine Familienmitglieder und auch die, die es in Zukunft noch werden, werden einen frühen, unerwarteten und schmerzhaften Tod sterben!“

Sabine traute ihren Augen kaum. Da stand tatsächlich eine Frau auf dem Scheiterhaufen. Und sie loderte wie eine Fackel, aber brachte es tatsächlich fertig, dabei abwechselnd lauthals zu lachen und immer wieder diesen Fluch auszustoßen. Um sie herum erbrachen sich die Menschen, kippten ohnmächtig nach hinten oder standen nur fassungslos da.

Und da, ganz plötzlich, von einem Augenblick auf den nächsten, verschwand die brennende Gestalt. Sie löste sich in Luft auf. In der einen Sekunde war sie noch auf den Scheiterhaufen gebunden, in der nächsten war sie weg. Auch das Feuer war aus. Noch nicht einmal das Holz glomm nach. So, als hätte dies alles nie stattgefunden. Das einzige, was Zeugnis von dem Vorfall ablegte, war das Echo ihrer Worte. Noch minutenlang tönte über ihren Köpfen der Satz: Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage!

Da konnte auch Sabine sich nicht mehr zurückhalten und erbrach sich zwischen ihre Füße. Es stank nach verbranntem Fleisch, verbrannten Kleidern und verbrannten Haaren.

Erst nach einiger Zeit hatte sie sich entleert. Ihr Hals schmerzte, er schien blutig zu sein. Konnte ein Mensch so viel erbrechen, dass es ihm die Kehle von innen aufriss? Zwischen ihren Schläfen hämmerte ein Schmerz, der jeder Beschreibung spottete. Aber sonst schien es ihr bestens zu gehen, zumindest im Anbetracht der Umstände.

Auch die anderen Menschen erholten sich langsam. Das Erbrechen ließ allmählich nach, und seit einigen Minuten war schon niemand mehr in Ohnmacht gefallen. Aber das Schweigen hielt noch an.

Der Kreis um sie war seit dem Verschwinden der Hexe noch größer geworden. Er hatte jetzt einen Durchmesser von bestimmt zwanzig Schritten und machte nicht den Anschein, mit dem Wachsen aufhören zu wollen. In seiner Mitte standen nur zwei Personen: die Frau und Sabine. Sie konnte von ihr nur den Rücken sehen.

Allmählich wurde das Schweigen abgelöst von leisem Murmeln. Sabine konnte sich vorstellen, was da getuschelt wurde. Und sie fühlte sich beobachtet. Doch das war ja auch gar kein Wunder, schließlich stand sie in der Mitte.

Jetzt begann die Frau vor ihr, sich zu bewegen, und augenblicklich verstummte das Murmeln. Alle Augenpaare richteten sich auf diese Person, und Sabine hatte mehr und mehr den Eindruck, auf der Anklagebank zu sitzen. Ach, könnte sie doch nur von hier verschwinden! Wäre sie noch hier, wenn sie es könnte? Wäre sie nicht schon längst verschwunden? Eben das war der springende Punkt: Ihre Beine wollten wieder einmal nicht so, wie sie sollten. Ihr ganzer Körper, ihre Muskeln, schienen nicht mehr ihr zu gehören. Sie blieb stehen, konnte sich nicht bewegen, konnte keinen einzigen Finger rühren. Und wollte weit weg sein.

Das Schweigen klingelte ihr in den Ohren, vor allem nach dem infernalischen Gekreische, als diese … diese Hexe lichterloh gebrannt hatte. Und nur einen Augenblick später war sie dann verschwunden.

Sabine ging ein Stück auf sie zu. Sie wollte nicht, aber ihre Beine machten, was sie wollten. Jetzt war sie bis auf Armeslänge bei ihr, konnte sie berühren. Doch dazu fehlte ihr das Verlangen. Warum sollte sie das tun?

Und da drehte sie sich langsam um. Sie bewegte sich so steif wie eine Mumie im Horrorfilm. Sie tat Sabine fast leid, aber wenn man bedachte, dass sie ja selbst dafür verantwortlich war, hielt es sich doch wieder in Grenzen. Die Hexe hätte ja nicht so eine gequirlte Kacke erzählen müssen! Es hatte sie keiner dazu gezwungen! Oh ja, es hätte so schön sein können. Sie hätte niemanden der Hexerei beschuldigt, niemand wäre auf dem Scheiterhaufen gelandet, und nie wäre jener Fluch ausgesprochen wurden. Jeder hätte fröhlich in den Tag hineinleben können. Aber nein, dieses Miststück von einem Weibsbild hatte sein Schandmaul einfach nicht halten können! Und wenn man es von dieser Seite aus betrachtete, hielt Sabines Mitleid wirklich nicht lange vor.

Einen Augenblick später hatte sie sich gänzlich umgedreht, und Sabine sah ihr in die Augen. Sie erschrak. Es waren die Augen einer Toten; nichtssagend blickten sie in die Menge, und es machte auch nicht den Anschein, dass sie sahen, was sie sahen. Ihr Unterkiefer mahlte in der Luft, als vertilge sie ein saftiges Steak. Und sie wippte mit den Füßen auf und nieder wie eine Geisteskranke.

Sie hob die Arme und ließ sie wieder kraftlos zu Boden sinken, hob sie noch einmal und ließ sie schließlich doch nur wieder fallen. Sie tat es apathisch, ohne zu merken, dass sie es tat. Als sie dann auch noch einen Schritt nach vorn tat, erhob sich lautes Stimmengemurmel, bei dem einem fast das Trommelfell riss.

Schließlich setzte sie sich in Bewegung und lief mit einem staksigen Mumiengang auf die Menge zu, an Sabine vorbei. Sie schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sie lief an ihr vorbei, starrte nur geradeaus und kaute auf der Luft herum. Sabine sah ihr nach und empfand für einen kurzen Moment noch einmal so etwas wie Mitleid. Aber wirklich nur für einen Moment.

Die Frau lief weiter auf die Menge zu, und als sie sie erreichte, teilte sie sich vor ihr wie sich das Meer vor Moses geteilt hatte. Und als sie sie passiert hatte, schloss sie sich wieder hinter ihr. Und das war das Letzte, was Sabine von ihr sah.

Sie wollte hinter ihr her, doch auch diesmal verweigerten ihre Beine ihr den Dienst.

Und hier, genau an dieser Stelle, endete der Traum mit einem Filmriss. Eben noch war sie mitten im Geschehen, und jetzt war es schon wieder vorbei. Der Traum ging über in einen anderen, der nicht halb so spektakulär war. Und an den sie sich nach dem Aufwachen nicht einmal erinnern sollte.

An den anderen jedoch sollte sie sich erinnern.

Die Nacht auf dem Sofa war nicht halb so bequem gewesen wie im Bett. Sabine hatte einen steifen Hals und Rückenschmerzen. Aber sonst ging es ihr gut. Wenn nur dieser Traum nicht gewesen wäre! Er war so unheimlich. Vor allem, weil sie genau wusste, was da geschehen war. Was sich seit diesem Tag in ihrer Familie verändert hatte. Wie viel Leid seither geschehen war.

Aber letztlich war es nur ein Traum gewesen, oder? Nur ein Traum, weiter nichts … Mit einem Hintergrund, der zwar tatsächlich einmal stattgefunden hatte, der aber schon Jahrhunderte zurücklag. Aber dennoch … nur ein Traum.

Sabine rekelte und streckte sich. Kurz stach es in ihrem Rücken, aber dann war es schon vorbei. Wenn es so schnell vorbei war, konnte sie sich ja auch aufrichten. Zumindest sollte sie es versuchen.

„Aua!“, stöhnte sie, als ihre Kniegelenke protestierend knackten, „meine Fresse, ich glaube fast, ich werde langsam alt! Kann nicht mehr lange dauern und ich gehe am Stock!“

Sie machte dennoch weiter, ignorierte das Ziehen und Zerren in ihren Muskeln und hatte sich Augenblicke später aufgerichtet. Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte, stapfte sie in die Küche, setzte sich Kaffee auf, öffnete das Fenster und schnappte frische Luft, während der Kaffee durchlief.

Fünf Minuten später war sie wieder bei der Couch, trank Kaffee und kaute appetitlos auf einem Brötchen herum.

Auf dem Tisch vor ihr lag der Zettel mit den Notizen vom Standesamt. Die anderen alten Dokumente wollte sie nicht mehr ansehen. Sie hatte genug von Tod und Verderben. Die waren doch alle tot. Denen konnte sie nicht mehr helfen. Ihrem Bruder aber schon.

Auf dem Zettel war die Adresse eines Waisenhauses in der Schweiz. Dort konnte man ihr gewiss helfen. Es lag nur an ihr. Sie musste sich entscheiden: Wollte sie ihr Vorhaben beginnen, dann bräuchte sie nur dorthin zu fahren. Zog sie es aber vor, einfach ihr eigenes Leben weiter zu leben, musste sie die Adresse nur vernichten.

Sie brauchte nicht nachzudenken. Es war schon längst beschlossene Sache. Sie war es ihrem Vater und jetzt auch ihrem Bruder schuldig. Und wenn das hieß, dass sie dafür in die Schweiz musste, tja, dann würde sie eben in drei Teufels Namen dorthin fahren. Irgendwo musste sie ja schließlich anfangen! Und da war die Schweiz ebenso gut wie jeder andere Ort.

9. Kapitel

9. Kapitel

Am nächsten Tag, an Bord einer Maschine der Swiss Air. Eben hatte der Kapitän die Reiseflughöhe verlassen, und sie waren im Begriff, den Anflug auf den Flughafen von Bern zu beginnen.

Sabine hatte es sich in den hinteren Reihen gemütlich gemacht und während des gesamten Fluges aus dem Fenster gesehen. Sie hatte in Ruhe gelassen werden wollen. Gleich nach dem Start hatte der Mann neben ihr aber mit einem Gespräch angefangen. Er schien allein zu reisen und dachte wohl, mit einer netten Konversation die Zeit schneller herumzukriegen. Damit hatte er sich aber geschnitten. Sabine knurrte nur unverständliche Sätze, antwortete ausweichend und war desinteressiert. Es dauerte trotzdem zehn Minuten, bis er begriff, dass sie nicht reden wollte. Dann ließ er sie in Ruhe und Sabine hatte, was sie wollte.

Unter sich sah das Antlitz der Erde vorüberziehen: Berge, Seen, Flüsse, Täler … und dachte dabei nicht zum ersten Mal darüber nach, wie die Welt wohl aussähe, wäre der Mensch nicht das geworden, was er war. Flüsse hätten ihren Lauf in Jahrtausenden nicht verändert und zögen nicht kerzengerade durch die Landschaft, weil Kanäle für die Schifffahrt gebaut werden mussten. Städte, Dörfer, Länder hätte es nie gegeben, noch nicht einmal staubige Feldwege.

„Pling“, machte das Anschnallzeichen. Sabine blickte instinktiv nach oben, wo eine ganze Batterie dieser Symbole leuchtete, daneben Lämpchen für jeden einzelnen Sitz, eine Belüftungsdüse und eine Serviceklingel. Schnickschnack, der den Gästen den Flug so angenehm wie möglich machen sollte.

Bei Sabine bissen sie da auf Granit. Sie hasste es zu fliegen. Wenn sie so einen Vogel nur von außen sah, begann schon dieses ungute Gefühl. Schweiß floss ihr in Strömen aus jeder Pore, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Aber es als Angstausbruch zu bezeichnen wäre doch nicht ganz richtig gewesen. Sie hatte keine Angst. Sie fühlte sich im Flugzeug sicherer als im Auto oder auf einem Kreuzfahrtschiff. Es war mehr die Gewissheit, hier oben, in zwölftausend Metern Höhe, nichts verloren zu haben. Es spottete einfach jeder Beschreibung, und ihr fiel immer wieder nur ein Satz ein: Hätte Gott gewollt, dass der Mensch fliegt, hätte er ihm Flügel gegeben. Immer, wenn sie flog, geisterte dieser Satz ihr im Kopf herum. Und dabei war sie noch nicht einmal gläubig. War das nicht urkomisch?

Ein Knacken im Ohr riss sie aus ihren Gedanken. Aha, der Druck veränderte sich, die mit Luft gefüllten Kammern in ihrem Schädel meldeten sich zu Wort! Das geschah immer, wenn in den Kammern weniger oder mehr Luft war als außerhalb. Das kannte jeder Taucher. Und jeder wusste, was dagegen half: Druckausgleich. Entweder man hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und drückte die Luft beim Ausatmen durch die Nase in die Kammern oder man bewegte den Unterkiefer hin und her, als ob man auf einem Kaugummi kaute. Auch das half. Wichtig war nur, dass das Weniger oder Mehr an Luft in den Kammern mit dem Weniger oder Mehr der Umgebung ausgeglichen wurde. Das war das ganze Geheimnis. Und das war auch der Grund, warum Kleinkinder während des Anfluges oft wie am Spieß schrien. Sie konnten das nicht wissen und empfanden, weil sie den Druck nicht abbauen konnten, körperlichen Schmerz.

Sie spürte, wie der Mann sie neugierig von der Seite betrachtete, während sie ihren Unterkiefer wild hin und her peitschen ließ. Offenbar versuchte er, sie doch noch in ein Gespräch zu verwickeln. Und warum auch nicht? Sabine war eine junge schöne Frau mit langer Haarmähne, strahlend weißer Haut, einer weiblichen Figur und, und, und. Kein Wunder, dass der Typ so schnell nicht aufgab! Noch dazu, weil sie an keinem ihrer Hände, weder an der linken noch der rechten, einen Ring trug. Einen Ring, der signalisierte: Hey, sieh her, ich bin vergeben! Also mach dir am besten keine Hoffnung, steck die Nase in dein Heft und lass mir meine Ruhe! Doch da sie nichts dergleichen trug, stand dem anderen Geschlecht Tür und Tor offen, es zu versuchen. Und auch dieser Mann hier, obwohl seit Jahren vergeben, spürte Interesse an dieser Frau. Sie hatte etwas, das seine Urinstinkte ansprach, seinen Jagdtrieb weckte. Er wollte sie kennenlernen und wer weiß, vielleicht wurde ja ein bisschen mehr daraus? Es wäre nicht das erste Mal, dass er auf seinen Geschäftsreisen ein Abenteuer hatte. Und warum auch nicht? Wusste er denn genau, dass seine Frau keine Liebelei nebenbei hatte? Eben. Also, warum sich über ungelegte Eier den Kopf zerbrechen? Hier saß eine Frau, die, meine Herren aber auch, erstklassig gebaut war. Und das sogar, obwohl sie lange Jeans und diese wallende Bluse trug. Aber diese Beulen unter dieser Bluse! Autsch, war die heiß! Er stellte sich gerade vor, wie es wohl wäre, diesen Busen aus seiner Gefangenschaft zu befreien und ihn voll und prall und weich in seinen Händen zu halten … die Knospen, die sich aufreizend zwischen seine Lippen pressten. Ob sie einen String trug? Ob ihr Schamhaar ebenso blond war? Wie es wohl war, diese Frau zu ficken? Er wollte diesen runden, knackigen Po streicheln. Diese Beine berühren, sie küssen und streicheln und sie um seine Taille spüren, während er erst sanft und dann immer fordernder in sie eindrang …

Da hatte er wenigstens schon mal einen Plan, wenn man das so nennen konnte. Das Dumme war nur, dass diese Frau keinerlei Interesse zeigte. Ihr Körper war von ihm weggedreht, so gut es eben ging in dem engen Flugzeugsitz, und als er sie nach dem Start angesprochen hatte, hatte sie ihm noch nicht einmal in die Augen gesehen. Er wusste, dass dies alles Indizien dafür waren, dass sie kein Interesse hatte. Aber entweder lag es an seinem verletzten Männerstolz oder er konnte sich die Niederlage einfach nicht eingestehen. Männer halt. Waren schon komische Geschöpfe, diese Herren der Schöpfung!

„Haben Sie geschäftlich in Bern zu tun?“

Er konnte es einfach nicht lassen. Obwohl er die Frage schon einmal gestellt und schon beim ersten Mal nichts als unverständliches Gemurmel gehört hatte, stellte er sie noch einmal. Mut hatte er ja, das musste man ihm lassen. Blieb jedoch abzuwarten, ob er sich auszahlte.

Sabine hatte die Frage gar nicht gehört. Vielmehr wollte sie sie nicht hören. Sie hatte keine Lust auf Konversation. So einfach war das. Warum konnte der Scheißkerl nicht einfach die Klappe halten? Warum musste einem jeder ein Gespräch ans Bein binden? Das war mal eine interessante Frage. Hat darüber noch niemand eine Doktorarbeit geschrieben? Wie kommt es, dass der Mensch, kaum dass er in einem verhältnismäßig eng bemessenen Raum sitzt, anderen gegenüber so unglaublich mitteilsam wird? Fühlt er sich in der Menge so allein, dass er unbedingt jemanden an seiner Seite braucht? Oder ist er …

Weiter kam sie ihre Gedanken nicht. Der Mann bohrte nämlich weiter. Anscheinend wollte er auf Gedeih und Verderb den Beweis liefern, dass ihre Theorie, was enge Räume und daraus resultierende zwanghafte Konversation anging, zutraf.

„Fliegen Sie gern? Also, ich für meinen Teil fliege wirklich sehr gern. Mir kann ein Flug gar nicht lang genug dauern, wenn Sie mich fragen …“

Sehe ich so aus, als fliege ich gern? Ich sitze hier und will nur in Ruhe gelassen werden! Ja, man kann behaupten, ich fliege nicht gern, aber ich habe auch nicht Angst davor. Es ist ein seltsamer Mischmasch, aber wenn ich dir das erzähle, bringst du es fertig und bohrst noch weiter, und darauf habe ich nun mal keinen Bock. Also begnüge ich mich damit, desinteressiert zu dir rüber zu gucken und zu hoffen, das dich dieser Blick einschüchtert und du endlich deine Augen von meinem Busen nimmst.

Gedacht, getan: Sabine setzte ihre eisigste Leichenbittermiene auf. Ihre Augen, die ohnehin schon todtraurig aus der Wäsche guckten, wurden zu leblosen Kristallen, bei denen man regelrecht darauf wartete, dass sie mit giftigen Pfeilen um sich schossen.

Seltsamerweise schreckte das den Mann überhaupt nicht ab. Er schien völlig abgebrüht zu sein. Der redete doch tatsächlich unbeeindruckt weiter, obwohl ihr die Abneigung regelrecht aus den Augen quoll. Tja, was soll ich da sagen? Der hatte wirklich mal Selbstvertrauen. Den warf so schnell nichts aus der Bahn.

„Sie brauchen überhaupt keine Angst zu haben. Rein statistisch ist Fliegen die sicherste Alternative der Fortbewegung. Und das stimmt sogar. Ich für meinen Teil glaube fest, dass Fliegen das Sicherste ist, was es derzeit gibt. Freilich, wenn mal so ein großer Bomber vom Himmel fällt, sind gleich mit einem Ruck mehr als dreihundert Leutchen im Eimer. Das gebe ich gern zu. Aber weltweit sterben auf den Straßen Zehntausende, und wenn dann mal wirklich in einem Jahr drei oder vielleicht auch vier solcher Vögel abstürzen, sind das immer noch weniger Todesopfer als …“

Bla, bla, bla, dachte Sabine. Der Kerl ist schlimmer als eine Klette. Der quasselt einem die Ohren fusselig. Den wird man überhaupt nicht mehr los.

„… und überhaupt, fliegen macht doch irrsinnigen Spaß. Finden Sie nicht auch? Ach richtig, wie dumm von mir. Sie haben ja Angst davor …“

Ich habe keine Angst davor, du Blödian! Ich will nur in Ruhe gelassen werden! Weiter nichts! Ich will einfach nur hier sitzen, aus dem Fenster gucken und sonst an nichts denken. Wenn ich es meinem Kopf nämlich gestatte, sich seine Gedanken zu machen, könnte es sein, dass ich im besten Fall einen Schreikrampf bekomme. Im schlimmsten Fall aber … nein, daran will ich lieber nicht denken.

„Sind Sie angeschnallt? Wir landen jede Sekunde. Nicht, dass Sie sich …“

Natürlich bin ich angeschnallt, du Hammel! Ich weiß, dass wir jeden Augenblick landen! Was, glaubst du eigentlich, ist der Grund, warum ich dir noch nicht an die Gurgel gesprungen bin? Ich kann`s dir sagen: Nur, weil ich dich bald los bin! Deswegen! Aus dir sprudelt es wie aus einer verdammten Quelle, und einzig und allein, weil ich dich bald los bin, kann ich mich noch beherrschen!

Ihre Gedanken waren wirklich keineswegs freundlich. Umso mehr überraschte es sie, als sie sagte: „Selbstverständlich bin ich angeschnallt.“

In der Sekunde, in der es ihr über die Lippen kam, bereute sie es sofort. Am liebsten hätte sie sich in den Arsch gebissen. Was war nun schon wieder mit ihr los? Es überraschte sie aber nicht nur, dass sie überhaupt etwas sagte, nein, noch überraschender war, wie sie es sagte. Sie klang nämlich freundlich und lieb, als sei sie über die Ablenkung von ihrer Angst hocherfreut.

„Na sehen Sie!“, erwiderte der Mann, der sich selbst schon dabei zusah, wie er sie durch die Matratze scheuchte, „war doch gar nicht so schwer! Sie brauchten nur jemanden, der sie von ihrer Unruhe ablenkt. Und da ist es ganz gut, wenn neben einem jemand sitzt, der keine Angst hat. Sie können froh sein, dass Sie mich getroffen haben. Ich beschütze sie. Mit mir an Ihrer Seite kann Ihnen überhaupt nichts passieren.“

Meine Fresse, wie ist der denn unterwegs? Der hält sich ja für einen ganz tollen Hecht. Wenn er mir nicht so auf den Sack gehen würde, würde ich lauthals loslachen. Also nein, wirklich! Dass dem das nicht selbst peinlich ist? Junge, Junge, Junge, es gibt schon verrückte Leute!

„Nun schießen Sie mal los! Was treibt Sie denn so in die schöne Schweiz? Rein geschäftlich? Oder vielleicht der Liebe wegen?“

Du lieber Gott, ich wünschte, die Maschine würde abstürzen, an einem Berg zerschellen, explodieren, irgendwas, Hauptsache, dieser Hornochse hält endlich das Maul! Das ist ja wirklich nicht zum Aushalten!

„Aber wenn ich Sie so ansehe, glaube ich nicht, dass sie geschäftlich unterwegs sind. Soll ich Ihnen sagen, woran ich das sehe?“

Schieß los! Oh, ich wünschte, ich könnte dir irgendwie das Maul stopfen! Das dachte Sabine, was sie aber sagte, war etwas völlig anderes: „Sie haben vollkommen recht. Woran haben sie das nur gemerkt?“

Der Mann ließ sich im Sitz zurückfallen, plusterte sich auf wie ein Gockel und erklärte: „Oh, das war gar nicht schwer. Sie sehen nämlich gar nicht so aus wie eine dieser Karrierefrauen.“

So? Wie sieht denn eine Karrierefrau deiner Meinung nach aus? Das war es, was ihr durch den Kopf ging, über die Lippen kam ihr aber wieder etwas völlig anderes: „Nein?“ Es klang so etwas von heuchlerisch. Was war nur mit ihr los? Wurde sie langsam labil?

„Nein, wirklich nicht. Sie sehen ganz anders aus. Sie lächeln sogar mal.“

Ich lächle? Daran kann ich mich gar nicht erinnern! Hör mal, Jungchen, ist es nicht eher ein mitleidiges Grinsen, was du da als Lächeln interpretierst?

„Ja, ich merke so etwas gleich. Sie tragen Ihr Haar nicht feldmarschallmäßig nach hinten, mit Tonnen von Pomade, dass es nur so glänzt, sondern lassen es offen über ihre Schultern hängen. Sie sind auch ganz anders gekleidet. Sie sehen richtig gut aus. Nicht so abtörnend, mit spitzen Lippen, akkurat geschnittenen Nägeln, einer Monsterbrille und Klamotten, die aussehen, als wären sie vor fünfzig Jahren mal fesch gewesen. Sie wissen schon, was ich meine.“

Also, um ehrlich zu sein: Ich kann dir kein bisschen folgen. Du laberst den größten Käse, den zu hören ich je in Verlegenheit geraten bin, und das Dumme ist: Ich fange auch schon so an. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube sogar, als Gott die Intelligenz verteilte, warst du gerade auf Toilette. Anders kann ich mir diesen Dünnschiss, den du verzapfst, wirklich nicht erklären. Das ging ihr durch den Kopf, aber sagen tat sie wieder etwas völlig anderes.

„Ja, ich weiß sehr gut, was Sie meinen.“

„Deren Männer tun mir einfach nur leid! Die haben doch gar nichts zu lachen! Wissen Sie, ich hab auch mal so eine Frau kennengelernt. Ist noch gar nicht so lange her.“

„Und was dann? Was ist aus Ihnen beiden geworden?“ Warum frage ich das eigentlich? Ich will davon doch gar nichts wissen.

„Es ging ein paar Wochen gut. Aber dann haben wir beide gemerkt, dass wir irgendwie nicht zueinander passen. Die Unterschiede waren doch zu groß. Aber genug von mir. Erzählen Sie doch etwas von sich!“

Sabine starrte verstohlen aus dem Fenster. Noch schätzungsweise fünftausend Fuß bis zum Boden. Schöne Scheiße, ein paar Minuten würde es wohl noch dauern. Und dann auch noch zum Terminal. Noch mal fünf Minuten. Oh Mann, wie sollte sie das nur überstehen?

Einen Moment überlegte sie, aufzustehen und sich einen anderen Platz zu suchen. Doch dummerweise war sie hier nicht in einer Straßenbahn, und außerdem war die Maschine restlos ausgebucht. Also musste sie die Zähne zusammenbeißen und die letzten Minuten über sich ergehen lassen.

„Okay, wenn es Sie glücklich macht: Ich fliege in die Schweiz, weil ich mir erhoffe, meinen Bruder hier zu finden. Ist das nicht ulkig? Bis vor einer Woche hatte ich von seiner Existenz nicht den Hauch einer Ahnung, und nun fliege ich hierher.“

„Wie kommen Sie darauf, dass Sie ihn ausgerechnet hier finden?“

„Oh, als Kind gaben meine Eltern ihn zur Adoption frei. Ich hab die Adresse eines Kinderheimes, und ich hoffe, dass man mir da weiterhelfen kann. Das ist meine Hoffnung. Ansonsten bleibt mir nur noch ein Detektiv. Ob mir der aber viel bringt, ist mehr als fraglich.“

„Gestatten Sie mir eine Frage? Was ist damals vorgefallen? Warum gaben Ihre Eltern ihren Bruder weg? Sind denn wenigstens Sie bei ihnen aufgewachsen?“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

1,49 €