Buch lesen: «Die klare Sonne bringts doch an den Tag»
Die klare Sonne bringts
doch
an den Tag
– Eine Krimi-Mär –
Impressum
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck verboten, auch auszugsweise.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© Du-Lac-Verlag, Kassel, 2020, 1. Auflage
Titelzeichnung & Umlaufcover: Stefan Böttcher, Gerlingen
Typografie & Layout: Klaus-Peter Hünnerscheidt, Kassel
Created in Germany
Internationale Standardbuchnummer: ISBN 978-3-9818642-6-7
Inet: www.du-lac-verlag.de
Klaus Scheidt
Die klare Sonne bringts doch
an den Tag
– Eine Krimi-Mär –
Für ‚sachdienstliche Hinweise‘
und gute Ratschläge danke ich:
Stefan Böttcher, Gerlingen
Christian Hagedorn, Schenefeld
Horst Marquard, Walsrode
Werner Schubert, Chaiyaphum/Thailand.
Einen besonderen Dank sage ich
meinem befreundeten Kollegen,
dem Schriftsteller Miguel de Torres,
Chaiyaphum/Thailand,
für das Lektorat.
Du-Lac-Verlag
Verlagsbuchhandlung
Inhalt
Erster Teil
Fundsache
Zweiter Teil
Witterung
Dritter Teil
Erkundung
Vierter Teil
Aufklärung
Fünfter Teil
Enthüllung
Sechster Teil
Genugtuung
Anhang
Personalien
Die Hauptpersonen sowie die Handlung
sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten der handelnden Personen
mit lebenden oder verstorbenen Menschen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für die historischen Begebenheiten
sowie Ortsschilderungen und Zeitangaben
wird keine Gewähr gegeben.
Erster Teil
Fundsache
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Altona, Stadtteil Altona-Altstadt, Fischmarkt
Sonntag, 26.08.2001, 6:30 Uhr
»Ich werd‘ noch bekloppt wegen euch!«
Karl Stormann horchte auf und reckte den Hals, um nach dem Brüllenden zu fahnden. Er sah von fern, wie Wurst-Achim zu einer ellenlangen armdicken Salami griff und beidhändig mit ihr auf den hölzernen Verkaufstresen einprügelte, als habe dieser Schuld an seiner Misere.
»Darauf wartet ihr doch schon die ganze Zeit, während ich euretwegen mir den Mund fusselig rede. Und jetzt bin ich‘s wohl, denn nur ein Bekloppter macht so etwas wie ich.«
Der bullige Marktschreier warf die malträtierte Salami hinter sich; beidhändig raffte er zwei Handvoll Bockwürste zusammen und warf diese in hohem Bogen über die Menschenmenge. Die vor dem Stand dicht an dicht versammelten Leute staunten, lachten, schnappten nach den fliegenden Würsten und hatten ihren Spaß. Und Wurst-Achim tobte weiter in seinem Wurstladen auf Rädern wie auf einer Showbühne. Schließlich hatte er Erfolg, denn eine Gruppe von Touristen kaufte in Mengen Pfeffersalamis sowie andere Würste, herübergereicht in etlichen vollgestopften braunen Tüten aus Kraftpapier.
»Ihr macht‘s richtig!«, schrie er ihnen lauter hinterher als ein Brüllaffe. »Denn Wurstesser sind die besten Liebhaber. ‘Ne Dauerwurst und ordentlich Butter helfen dem Vater endlich wieder auf die Mutter.«
Während Stormann langsam umherging und das geschäftige Treiben um sich herum aufmerksam verfolgte, lächelte er gönnerhaft, denn seit einem seiner Mordfälle wusste er, wie hart die Jobs der Marktschreier waren. Seit einigen Wochen war er Rentner und kam häufiger hierher, was ihm leichtfiel als Frühaufsteher. Außerdem blieb er hier unter Menschen und konnte deren Tun und Lassen beobachten. So schien die Zeit schneller zu vergehen und er vermisste seine anspruchsvolle Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar weniger als allein zu Hause.
Eine Bö fegte über die Elbe und den Fischmarkt hinweg. Die meisten Besucher zogen die Köpfe ein und blickten missbilligend empor zum wolkenverhangenen Himmel, denn das Wetter war keineswegs sommerlich und die meisten Leute waren angezogen wie im Herbst.
Mit der rechten Hand fasste Stormann rasch an die Krempe seines einfachen Panamahuts – er hatte noch einen naturfarbenen aus Ecuador von der Marke Montechristi-Fedora, den er nur trug, wenn er sicher war, dass kein Hanseat ihn damit ertappen konnte. Flugs wandte er sich von der Richtung des kühlen Windes ab. Sein stets wacher Blick erfasste eine Notlage und im Reflex eilte er zur Hilfe, gerade noch rechtzeitig, um mit seiner Linken einen Stapel loser Blätter am Davonfliegen zu hindern.
»Danke schön!«, bekam er zu hören, hastig gesprochen aber höflich im Ton, denn der junge Mann war beschäftigt, den Rest seines Sammelsuriums auf einem wackeligen Tapeziertisch aus Sperrholz zusammenzuhalten.
»Gern geschehen.« Mit seiner linken Schuhspitze stieß Stormann seitlich gegen einen der beiden Unterständer, damit dieser einrastete und der Tisch stabiler stand. Mit der rechten Hand nahm er ein altes Buch von einem Stapel und pfiff anerkennend, denn es war ein richtiger Wälzer. Um dessen Gewicht zu schätzen, hielt er ihn waagerecht auf der flachen Hand, bevor er das Druckwerk auf den Stapel loser Blätter legte. Dann entspannte er sich und sah zu, wie der junge Mann hinter dem Tisch seine Bücher, Militaria, Porzellan sowie allerlei Andenken auf knapp drei Meter Breite zurechtrückte.
Kein Krempel dabei. Anerkennend nickte Stormann mehrmals, während er die Rückentitel der längs und hochkant gestellten Bücher studierte. Nur gute Bücher und kostbare Sachen.
Er musterte den schlanken Verkäufer, der ihn um etwa zehn Zentimeter überragte, folglich über einen Meter neunzig groß sein musste. Der Mittzwanziger machte einen redlichen Eindruck und stammte wohl aus der gehobenen Hamburger Bürgerschaft, obwohl seine Kleidung etwas unordentlich arrangiert war. Dies lag wohl daran, dass er sichtlich unter Zeitdruck stand und entsprechend nervös agierte; außerdem schien er erstmalig einen Stand für einen Flohmarkt aufgebaut zu haben.
»Sie haben sich für Ihre wertvollen Sachen aber keinen guten Platz ausgesucht, mein Herr.« Stormann schüttelte den Kopf und blickte skeptisch, dann richtete er seine grünen Augen unverwandt auf des Gegenübers seit etlichen Tagen nicht rasiertes Gesicht. »Die gehören nächstes Wochenende auf den Collectors Antique-Market in den Colonnaden. Da sind Sie mit Ihren Kleinodien besser aufgehoben.«
Der junge Mann senkte seine Lider und sah verlegen lächelnd über seine Antiquitäten hinweg. Dann breitete er mit resignierender Geste die Arme aus. »Und ob ich dort besser aufgehoben wäre, da haben Sie völlig recht, mein Herr. Aber ich kann nicht so lange warten, weil es dann zu spät ist.«
»Zu spät für was?«
»Das ist viel zu spät sogar, denn meine finanzielle Deadline ist morgen schon um zehn Uhr. Bis dann muss ich in bar eingezahlt haben, sonst bekomme ich mächtig Ärger.«
»Von Seiten eines Gläubigers?«
»Nein, nicht was Sie denken, es wäre viel schlimmer.« Mehrmals wedelte der junge Mann mit beiden Händen, die Finger fächerförmig gespreizt, und spitzte den Mund wie zu einem stummen Pfiff. »Mein alter Herr macht mir die Hölle heiß, wenn ich morgen früh in Bremen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werde, denn er hat das Geld fürs Studium und die Prüfungsgebühren bereits vorgeschossen.«
»Dann haben Sie wohl Ihren Etat überzogen«, stellte Stormann fest, blickte aber verständnisvoll. »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser; vor allem wenn man weiß, dass es in Hamburg einige Ecken gibt, an denen man sein Geld leicht loswerden kann, wie zum Beispiel ...« Mit dem Kopf machte er eine Bewegung in Richtung des bergauf liegenden Viertels Sankt Pauli.
Der junge Mann folgte mit fragendem Blick dieser Kopfbewegung, dann begriff er. »Nicht doch!« Abwehrend hob er beide Hände, jedoch rötete sich sein Teint über beide Backen hinweg sowie seitlich am Hals bis zu den Ohren. »Da gehe ich nicht hin.«
»So ist‘s recht, ein echter Hanseat liebt lieber in Sankt Georg.«
Noch heftiger schüttelte der Student den Kopf.
»Schon gut, das geht mich ja auch nichts an. Was studieren Sie denn eigentlich?«
»Seerecht.«
Stormann richtete sein sonnengebräuntes Gesicht wieder auf den Studenten. »Dann wollen Sie wohl mal ans Seegericht ...«
»Nein, bloß das nicht. Ich will Kapitän werden, aber mein Alter hat darauf bestanden, dass ich erst einmal Seerecht studiere, denn das wäre gewinnbringender für unser Unternehmen.«
»Das ist zufällig eine Reederei?«
»Volltreffer!« Der junge Mann hob grinsend den rechten Daumen. »Von Jügesen & Söhne.«
»Das hört sich nach einem Familienbetrieb an.«
»Richtig. Ich bin der Junior, Malte Jügesen.«
»Sehr schön für Sie, dann sind Sie ja schon im Geschäft. Aber wieso ...« Verwundert zeigte Stormann auf einige der besten Stücke. »Wieso müssen Sie dann ...«
»Weil ich überhaupt nichts zu melden habe, denn mein alter Herr schenkt mir kein Vertrauen.« Malte Jügesen druckste ein wenig herum, bis er mit der Begründung herausrückte. »Er ist der Meinung, ich wäre leider noch nicht soweit, ich sei ein … Luftikus.«
Stormann lachte herzlich, jedoch verhalten und er sprach leise, weil er nicht brüskieren wollte. »Eigentlich führen Sie gerade den Beweis für seine Einschätzung.« Um vom unangenehm werdenden Thema abzulenken, hob er mit drei Fingern der rechten Hand eine Ecke eines vergilbten Tuchs aus weißem Leinen sacht an und beugte sich hinab, um darunter zu lugen. Sein Verdacht bestätigte sich: Er erblickte den metallenen Lauf einer Pistole. Kopfschüttelnd sah er auf, während er den zerschlissenen Zipfel losließ.
»Herr Jügesen, hat jemand gesehen, dass Sie eine Waffe hier hingelegt haben?«, flüsterte Stormann.
»Bestimmt nicht, kaum hatte ich sie abgelegt, erfolgte schon der Windstoß.«
»Das ist gut für Sie.«
»Wieso denn?« Verständnislos hob Jügesen die Brauen.
»Weil Sie von allen guten Geistern verlassen worden sind: Das ist eine Waffe!«
»Natürlich weiß ich das, aber es ist doch bloß eine Walther PePeKa, schon uralt, eine Antiquität aus dem Zweiten Weltkrieg.«
»Bloß? Antik? Sie ahnen ja nicht im Geringsten, wie viele Ihrer Mitmenschen mit solchen ‚Antiquitäten‘ schon umgebracht wurden.« Behutsam tastete Stormann mit der flachen Rechten die Konturen der Walther PPK unter dem Tuch ab: Der Sicherungshebel befand sich in der unteren Position und der Ladestift an der Rückseite des Verschlusses war nicht zu spüren.
»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, mein Herr, dieses uralte Dingsda ist gesichert und das drinsteckende Magazin ist leer.«
»Gesichert ja, sonst könnte ich den Ladestift ertasten, aber das Magazin müsste ich nachsehen.«
»Das habe ich vorhin schon gemacht«, sagte Jügesen leise, den Tonfall des Gesprächs beibehaltend, aber der Klang seiner Stimme war nicht überzeugend.
Im Blick von Stormann funkelte sogleich der Zweifel. »Eine Waffe ist und bleibt eine Waffe und ich bin mir so gut wie sicher, dass man mit dieser Pistole noch schießen kann.«
»Und ob, bis kurz vor seinem Tod hat mein Großvater noch damit geschossen. Seit Kriegsende schon bestanden seine beiden Halbbrüder die ganzen Jahre über geradezu verbissen darauf, dass er mit ihnen um die Wette ballert – alle drei waren nämlich bei der eSeS. Mein Vater jedoch fasste sie niemals an und ich will sie erst gar nicht erben. Deswegen verkaufe ich sie heute. Hoffentlich.«
»Da machen Sie sich mal keine Hoffnungen, in keinster Weise. Im Gegenteil. Seien Sie heilfroh, dass ich Ruheständler bin, sonst hätte ich die Pistole längst konfisziert.«
»Ups!« Konsterniert blickend hielt Jügesen die linke Hand vor den Mund.
»Also so was von unbekümmert habe ich nun schon ganz lange nicht mehr erlebt. Ich drücke aber mal beide Augen zu, wenn Sie diese Waffe sofort wegpacken, wieder mit nach Hause nehmen und mir hoch und heilig versprechen, nie wieder so eine Riesendummheit zu machen.«
Dieses Mal röteten sich auch die Ohren des jungen Mannes und er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher, so eindringlich hatte ihn sein Gegenüber angeblickt. Hastig griff er nach dem Leinenbündel und schubste es durch eine Ausstanzung in die unterste Kiste eines Stapels weißer Kartons, die rundum bedruckt waren mit blauen Emblemen und gelben Bananen.
»Apropos Dummheit.« Der vor kurzem erst pensionierte Kriminalhauptkommissar blickte ein wenig milder. »Ich habe den Eindruck, Sie wollen unersetzbares Familiensilber verscherbeln.«
»Ach was, dies hier ist nicht der Rede wert. Sie sollten mal sehen, wie viel wir hab...« Jügesen zog die Brauen zusammen. »Ähm, Moment!« Er gebot Einhalt, indem er mit beiden Handflächen eine imaginäre Barriere zu errichten schien, und blickte sein Gegenüber scharf an. »Jetzt möchte ich aber auch mal etwas wissen. Machen Sie das immer so mit dem Ausfragen?«
Nun war es Karl Stormann, der verlegen wurde. »So? Wirklich?« Mit der rechten Hand hob er seinen Hut ein wenig an und fuhr sich mit den Fingern der Linken durch das dunkelbraun gelockte, auf Streichholzlänge frisierte Haar. »Falls ich darauf nicht geachtet habe, liegt das wohl an meinem Beruf. Bis vor Kurzem war ich noch Kriminalpolizist und das Vernehmen von Verdächtigen war für mich sozusagen das Gelbe vom Ei.«
»Aha!« Malte Jügesen senkte seine Hände. Er beugte sich vor und zwinkerte vertraulich »Aber Sie sind doch nicht etwa hinter mir her?« Jedoch grinste er beim Sprechen – seine Reaktion war die eines unbescholtenen Bürgers.
»Ach was, wie ich schon sagte, bin ich Rentner.«
»Aber wegen Ihres langen und bestimmt erfüllten Arbeitslebens werden Sie sich nur schwerlich an Ihr frei gewordenes Leben gewöhnen, nicht wahr?«
»Das ist nur zu wahr.« Bedauernd zuckte Stormann mit den Schultern und ließ seinen Blick schweifen bis zum Versteck der Pistole. »Bestimmt werden noch mehr Leute bemerken, dass es mich immer noch reizen würde.«
»Einhundert De-Mark!« Malte Jügesen witterte seine Chance, die Waffe doch loszuwerden.
»Hören Sie sofort auf damit! Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich würde Ihnen höchstens ein nettes Geschenk abkaufen für meine erwachsenen Kinder oder die Enkel.«
»Ihre Enkel? Richtig wäre dann genau dieses Buch, welches Sie zum Beschweren genommen haben.«
Stormann blickte hinab auf den Blätterstapel mit dem Buch obendrauf. »Dieser schwere Wälzer? Mein ältester Enkel ist zehn Jahre jung und kann solch ein Buch kaum heben.«
»Aber das braucht er gar nicht, er kann es auf den Fußboden legen und darin blättern – so wie ich damals. Das reicht und der Inhalt ist bestimmt das Richtige für sein Alter.«
Ein wenig übertrieben seufzend packte Stormann das Buch an der Vorderkante und legte dafür mit der Linken ein anderes edles Druckwerk auf den Stapel loser Bögen; anschließend las er den Rückentitel halblaut vor: »Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm.«
»Na, was habe ich Ihnen gesagt?«
»Das soll ich verschenken? Sehen Sie doch selbst: Die Ränder des Einbands sind abgestoßen, einige Seiten sind angerissen, überall Eselsohren und sonstige Missbrauchsspuren.«
»Das war ich. Damals. Aber ich habe keine Blätter rausgerissen.« Hastig hob der junge Jügesen seine rechte Hand und beeidete mit drei gestreckten Fingern. »Ehrlichschwör! Und ich habe auch nicht darin herumgeschmiert.«
»Tja. Ein altes Buch ist nun mal gebraucht.« Stormann wog es mit der Rechten. »Und dieses hier ist trotz der rüden Attacken eines respektlosen Bücherwurms immer noch ein stattliches Exemplar.«
»Einhundert De-Mark.« Die Backen von Malte Jügesen blieben rot, dieses Mal wegen des Handelseifers, denn er musste ja noch seine Mission erfüllen.
»Na, na, so gut hat es Ihre exorbitante Lesebegeisterung nun auch wieder nicht überstanden.«
»Neunundneunzig.«
»Zehn.« Zweimal spreizte Stormann alle Finger der Linken.
»Achtundneunzig.«
»Einen Moment mal, lieber Herr Jügesen, wenn Sie so weitermachen, schaffen Sie Ihre Deadline nicht. Wir machen es kurz und treffen uns in der Mitte – fünfzig.«
»Fünfundfünfzig! Sie haben bei zehn angefangen.«
»Na gut, meinetwegen, aber nur weil Sie es nötig haben – fünfundfünfzig.« Begütigend hob Stormann die linke Hand, während er mit der anderen das Buch ablegte und seine Brieftasche aus der inneren linken Brusttasche seines Jacketts holte. »Bitte gut einpacken, ich gehe noch nicht nach Hause.«
Hastig umwickelte Jügesen das Buch mit mehreren Zeitungsbögen des Abendblatts; von seinem extrabreiten Paketbandabroller zog er hellbraunes Klebeband ab, rundherum und kreuz und quer. »Wetterfest!« Er beugte sich vor und legte das Werk auf den beschwerten Stapel loser Blätter.
»Na na, ein seriöser Paketdienst würde das ganz bestimmt nicht annehmen«, brummelte Stormann, während er die noch sichtbare Titelzeile der Wirtschaftsnachrichten las: ‚Der Euro kommt – ganz sicher‘. »Aber bis zur Außenalster hält es wohl, da treffe ich meinen Kollegen.«
»Ex-Kollegen.«
»Auch daran muss ich mich erst noch gewöhnen.«
Karl Stormann reichte Malte Jügesen drei Zwanzig-Deutsche-Mark-Scheine, winkte mit der Linken gönnerhaft ab, während er die nun freie rechte Hand zum Abschied bereit hielt. Er drückte so kräftig, dass er den wesentlich Jüngeren sogar ein wenig in die Knie zwang, denn dieser war längst nicht so athletisch wie er selbst. »Ich drücke Ihnen beide Daumen, dass Sie erfolgreich sind.« Er klemmte sich den Packen unter die linke Achsel, zwinkerte aufmunternd und wandte sich ab Richtung Innenstadt, um an die Alster zu gelangen.
Abrupt wandte er sich noch einmal um und unauffällig imitierte er mit rechtem Daumen und Zeigefinger Hahn und Lauf eines Revolvers. »Wirklich keine Dummheiten mehr! Ja?«
»Neiiin! Ehrlichschwör!«
Beruhigt ging er weiter.
»Ich werd‘ ganz bestimmt noch mal so richtig bekloppt wegen euch!«, schallte es zum wiederholten Mal in seine Ohren, unterlegt von rhythmischem Knallen, verursacht von Vollkontakten zweier Hartwürste mit zwei Holzbrettern eines Verkaufstandes.
*
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Rotherbaum, Alstervorland,
Westufer der Alster, nähe Fährdamm/Alsterschiffanleger
Sonntag, 26.08.2001, 8:00 Uhr
Clemens Brüwer, über zwei Zentner schwer, saß auf einem mit signalrotem Stoff bezogenen Klappstuhl aus Aluminium, die großen Hände umfassten das Knie seines linken Beins, welches er übers andere geschlagen hatte. Sein Blick schweifte über die sich kräuselnde Wasserfläche der Außenalster sowie die luftigen Fassaden der gegenüber stehenden Stadtvillen.
Gelegentlich beobachtete er die leicht durchhängende Angelschnur und ersehnte das Untergehen des Schwimmers, hinabgezogen vom größten Fisch, der je in diesem Gewässer gelebt hatte. Jedoch bewegte sich das über zwanzig Meter entfernte knallrote Hütchen stets nur im Rhythmus winziger Wellenlinien, verursacht von der Fähre, die nach Uhlenhorst abgefahren war.
»Ich dachte, wir gehen eine flotte Runde um die Außenalster, stattdessen schlägst du hier Wurzeln.«
Diese Stimme kannte Brüwer wie keine andere; er wandte ruckartig seinen Kopf und sah den Rufer näher kommen. Sogleich fiel ihm das wirre Päckchen auf, welches unter der linken Achsel von Karl Stormann klemmte.
»Moin, Kalli! Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit hochgezogenen Brauen sah Brüwer dem Ankömmling entgegen. Mit rechtem Zeige- und Mittelfinger schob er die Schiebermütze ein wenig nach hinten, sodass der Ansatz seiner Stirnglatze sichtbar wurde. »Du wolltest viel früher hier sein.«
»Guten Morgen, Klemmi. Ich war sogar noch früher auf wie sonst. Deswegen habe ich einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht; jedoch habe ich dort mehr Zeit verbracht, als ich dachte.« Verstohlen linste Stormann nach dem Packen. »Aber es scheint sich gelohnt zu haben.«
»Meinst du?« Erneut hob Brüwer die Brauen. »Das muss es! Denn mich hier einfach sitzen zu lassen ...«
»Wieso nicht, was sonst noch macht denn ein Angler?«
»Er denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Zum Beispiel erinnere ich mich gerade an einen unserer Mordfälle, jenen damals im Angelcenter in Schnelsen. Weißt du noch, was für ein Gesicht du gezogen hast, als wir die nackte Leiche in der mannsgroßen Metallkiste fanden, randvoll mit satten Tauwürmern?«
»Hör sofort auf!«
»Du guckst schon wieder genau wie damals.« Brüwer lachte dermaßen, dass rund um seine Gürtellinie herum der Wohlstandsspeck wabbelte. »Und was hast du dich geschüttelt und auch noch fast reingekotzt. Aber die Leiche hatte ja auch ausgesehen wie ...«
»Klemmi, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst verschwinde ich auf der Stelle.«
»Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir beim Angeln partout nichts Besseres ein.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass du auf andere Ideen kommst: Nämlich mit deiner herzallerliebsten Ehefrau endlich wieder mal etwas zu unternehmen.«
»Hör sofort auf!«
»Ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann blickte angriffslustig. »Ich stelle mir gerade vor, wie du mit ihr einen wundervollen Ausflug machst nach ...«
»Kalli, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst werfe ich dich in die Alster. Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat gar keine Zeit mehr für mich, weil sie mich als Rentner erst recht nicht für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«
»Und du weißt ganz genau, wovor ich mich ekle. Also sind wir jetzt quitt.«
»Ausnahmsweise mal«, murmelte Brüwer und winkte mit routinierter Geste ab, dann bückte er sich und nahm die Angel aus der Halterung.
»Nein, sondern stets wie gehabt.« Stormann wedelte wie üblich mit dem Zeigefinger. »Du hoffst wohl immer noch, du könntest mich jemals verbal übertrumpfen.«
»Einmal schaffe ich es. Wetten wir?«
»Wir werden sehen und ich wette nie.«
»Schon gut. Also was hast du da drin?« Mit seinem linken Daumen wies Brüwer auf das Paket. »Die erste Lieferung vom Großhändler mit zum Anbeißen verführenden Tauwürmern für mein allerneuestes Hobby?«
»Die können warten, bis ich sie auf dich kippe, wenn du in der Kiste liegst. Dann siehst du auch so aus wie ...«
»Du bist ein Scheusal!« Brüwer schüttelte sich, während er begann, die Angelschnur zurück auf die Rolle zu kurbeln. »Ittigitt. Aber die würden sich an mir den Magen verderben.«
»Falls du von deiner Frau vergiftet worden wärst, ja.«
»Ich gebe mich geschlagen. Also, was ist in dem Paket?«
Noch steckte Angriffslust in Stormann. »Zuerst wollte ich einen wunderschönen großen und ganz frisch in der Außenalster gefangenen Fisch für dich kaufen ...«
»Mit deinem Gequatsche schlägst du selbst Wurst-Achim aus dem Feld.« Brüwer hielt die Rute schlagbereit wie eine Baseballkeule. »Da konntest du noch nicht wissen, dass ich ab heute Morgen meinem allerneuesten Hobby fröne.«
»... stattdessen jedoch habe ich ein wundersames antikes Buch erstanden und ...«
»Ein Buch auf‘m Fischmarkt?« Mit scheelem Blick sah Brüwer seinen Ex-Kollegen an. »Bist du sicher, du warst nicht schlafwandeln, sondern wirklich auf ...«
»... werde es meinem Enkel schenken. Vorher jedoch schaue ich selber mal rein.«
»Harry Potter, Band Fünf?« Die grau gewordenen buschigen Brauen hochgezogen, kurbelte Brüwer das letzte Stück der Polyamidschnur auf die Rolle.
»Ich sagte doch: antik! Eine Liebhaberausgabe der schönsten Märchen der Brüder Grimm, bestimmt wertvoll, erstanden jedoch zu einem günstigen Preis von einem sich in Geldnot befindenden Reederei-Erben, welcher neben den Fischmarktständen einen wackeligen Tapeziertisch aufbaute, um einen Teil des Familiensilbers zu verscherbeln.«
»Erben kommt erst nach‘m es-te von sterben und deswegen wird manchmal ein wenig nachgeholfen. Dies gegebenenfalls herauszubekommen haben wir ja wie aus dem Effeff beherrscht.« Wehmütig seufzte Brüwer, während er ergeben abwinkte. »Na, welche Märchen sind‘s denn?«
»Auf jeden Fall ist die Geschichte vom armen Fischer Brüwer un’ sinner Fru drin.«
»Hä, hä, sehr witzig.«
»Würde schon passen, weil deine Frau Ilse heißt.« Stormann grinste anzüglich, aber schon einen Wimpernschlag später folgte die besänftigende Geste. »Der Buchtitel fiel mir auf, ansonsten habe ich es nur flüchtig durchgeblättert. Ich sehe es mir in Ruhe an, bevor ich es für meinen Enkel hübsch einpacke. Eigentlich könnte ich mir die Mühe sparen, denn mein Lieblingsenkel wickelt nichts aus, sondern zerfetzt jede Umhüllung voller Vorfreude auf das neueste Pokémon-Sammelalbum.«
»Dann wirst du ihn schwer enttäuschen. ‚Bäääh!‘, wird er schreien, ‚ein altes Buch‘. ‚Ich will keine blöden Märchen lesen, sondern mit Pikachu und Mewtu und Bisasam, meinen Lieblingspokémons, spielen‘. Dann wirft er sich auf die Erde und traktiert mit Füßen und Fäusten das Parkett.«
»Nun mach mal halblang, mein Enkel ist schon zehn Jahre alt, außerdem hat er sich noch nie hingeschmissen, denn er gehört zu jenen Kindern, die redlich erzogen werden.«
»Aber losheulen wird er.« Mit prüfendem Blick zur Spitze der Rute holte Brüwer weit aus.
Stormann hastete außer Reichweite und duckte sich leicht. »Heulen würde meine Enkelin, wenn sie nicht den neuesten Harry Potter bekommt. Der Junge steht neuerdings auf Indianer und die kennen bekanntlich keinen Schmerz.«
»Du weißt ja gut Bescheid über deine Enkel. So wie ich.«
»Na klar. Wir sind doch jung gebliebene Großväter der neuesten Generation – immer auf dem aktuellen Stand der Enkelvorlieben.«
»Warum willst du‘s ihm antun, wenn du schon weißt, wie er darauf reagiert?« Kopfschüttelnd konzentrierte Brüwer sich auf den Wurf.
»Er liest ja eigentlich gern, nur reizen muss es ihn. Darum ist es mir einen Versuch wert. Genau wie du mit deinem Angeln ja auch noch eine klitzekleine Hoffnung hast auf ...«
»Was heißt hier klitzekleine Hoffnung?« Empört senkte Brüwer die Rute und richtete ihre Spitze gegen seinen Ex-Kollegen. »Das ist keine klitzekleine Hoffnung, die mich heute Morgen hierhergeführt hat, sondern die riesengroße Gewissheit, den dicksten Stör der Alster zu fangen.«
»Leider muß ich deine riesengroße Gewissheit wieder zu einer klitzekleinen Hoffnung machen, denn in der Außenalster gibt es keine Störe.«
»Jetzt pass mal auf, du Besserwessi. Nun kommt mein durchtrainierter Angelrutenweitwurf bis mitten in die Alster, wo der dickste Wels auf meinen Köder wartet.«
Brüwer holte mit der Rute so weit aus wie möglich und tatsächlich gelang ihm ein passabler Schwung. Der Haken platschte in die Alster, weiter als ein weltrekordverdächtiger Kugelstoß vom Ufer entfernt. Die beiden Ex-Kommissare hätten den roten Schwimmer kaum noch erkannt, wäre er nicht von jedem Wellenkamm emporgehoben worden.
»Na, Kalli, hast du gesehen?« Freudestrahlend blickte Brüwer über die gesamte Wasserfläche der Alster hinweg. »Mit meinem Schwung könnte ich glatt bei der Weltmeisterschaft im Weitwerfen mitmachen.« Dann rammte er das Ende der Rute schräg ins Erdreich unter hohem Gras und legte den golden glänzenden Stielgriff in die bereits steckende Gabel der Halterung.
Mit feinem Lächeln verfolgte Stormann die ungelenken Bemühungen und verbalen Übertreibereien seines Ex-Kollegen; längst hatte er sich an dessen Schrullen und keineswegs ernst gemeinte Sprüche gewöhnt.
»Ich schätze mal, das waren gute fünfundzwanzig Meter«, murmelte Stormann und nachdenklich blickend zwickte er sein rechtes Ohrläppchen, »und soviel ich weiß, wirft ein guter Sportangler über acht Mal so weit.«
»So?« Brüwer wiegte den Kopf und kniff das rechte Auge zu. »Aber wahrscheinlich nur mit mindestens zehnfachem Anlauf.« Dann winkte er ab und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Jetzt pack doch mal aus, wir haben ja Zeit bis ...«
»... der Riesenwels anbeißt.«
»Du hast das jetzt gesagt.«
»Ist ja schon gut. Ich zeige dir liebend gerne das Buch, denn die Verpackung trete ich ohnehin gleich in die Tonne, nachdem ich zuhause bin.«
Nach einigem Ratschen und Geraschel zog Stormann das wuchtige Druckwerk aus der seitlich offenen Verpackung, trotz aller Sorgfalt jedoch glitt es ihm aus der linken Hand.
»Vorsicht!«, rief Brüwer und erwischte das beim Fallen aufklappende Buch gerade noch an einer Ecke. Nachdem er zugepackt hatte, rutschte ein etwa DIN-A5-großer Zettel heraus und schwebte hinab auf die breitgetretenen Grashalme der flachen Uferböschung.
Hastig bückte sich Stormann danach, fasste den Wisch mit drei spitzen Fingern und richtete sich wieder auf. Ein Blick auf die verblasste Tinte genügte ihm. »Aha«, murmelte er und ahmte unwillkürlich den Schauspieler Erich Ponto nach, denn die ‚Feuerzangenbowle‘ von 1944 war einer seiner Lieblingsfilme, »das ist aus einem Schoolheft gerissen ...«
Mit beiden Händen hielt Brüwer das aufgeschlagene Buch und musterte die zwei offenen Seiten. Auf der linken stand nach einigen Zeilen schon ‚Ende‘, aber auf der rechten fing ein neues Märchen an, dessen Überschrift es ihm sogleich angetan hatte; halblaut las er sie vor: »Die klare Sonne bringt’s an den Tag.«
Voller Eifer stellte er sich dicht neben seinen Ex-Kollegen, griff mit der Linken unter das Buch und tippte mit dem nun freien rechten Zeigefinger auf die in Fraktur fett gedruckte Überschrift. »Das passt ja zu uns wie die Faust aufs Auge. Wir haben ja auch immer alles rausbekommen.«
»Fast alles.«
»Nun sei mal nicht so pingelig.« Brüwer meinte es todernst. »Unsere Erfolgsquote war die allerbeste überhaupt.«
»Kunststück, wir waren ja auch im richtigen Dezernat, denn bei Mord und Totschlag ist die Aufklärungsquote ohnehin die höchste.«
»Weil da waren wir.« Mehrmals tippte Brüwer den rechten Daumen gegen sein Brustbein, drückte die Lendenwirbel durch und erreichte sein Gardemaß von einem Meter achtundachtzig.
»Nun ja, wir waren schon nicht schlecht.« Stormann mühte sich, mit Hilfe des anderen Arms die Verpackung unter der linken Achsel zusammenzustauchen.