Buch lesen: «Klaus Mann - Das literarische Werk», Seite 39

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Der Engel, unbarmherzig und hold, folgte ihm, schwebenden, schleppenden Ganges. Er hatte sich schon wieder verändert – er war ein Verwandlungskünstler; liebte die überraschenden Tricks. Sein Reisekostüm leuchtete silbrig-weiß, die Flügel waren länger geworden, sie strahlten, sogar der runde Hut hatte Glanz: er löste sich in hellen Nebel auf, ohne dabei völlig die Façon zu verlieren. – »Fürchte dich nicht!« verlangte der Leuchtende. – Er hatte Kikjou gänzlich in die Ecke gedrängt. Der Weg war dem Kleinen verstellt. Vor dieser Umarmung gab es kein Entweichen.

Lieblich und majestätisch stand der Himmlische aufgerichtet, das Gesicht beinah nur noch Glanz: Glanz das Haar, das unter dem Nebelhute sichtbar ward; Glanz – der Mund, die Stirn, die tänzelnden Füße, die bewegten Hände. Die Augen – sie allein – blieben fest umrissen, bei all der strahlenden Auflösung. Aus ihnen floß Mitleid, ungeheuer stark; Erbarmen, mächtig wie eine Flamme; Trost, der nicht nur lindert, sondern auch fordert und alarmiert.

Die Augen des Engels verlangten viel von diesem Sterblichen. Der senkte das Haupt. Er empfing den Blick – höchste Gunst; strengstes Urteil. – »Fürchte dich nicht!« rief die Stimme, die von oben kam – und doch stand der Bote noch auf unserer Erde.

Er bückte sich ein wenig; denn er war viel größer als der Mensch, den er küssen wollte. Der Kuß war eisig – Hauch aus Sphären, die kein Strahl erwärmt. Kikjou zitterte stärker, hielt sich indessen aufrecht, in lobenswert tapferer Haltung. Er hatte den Blick ausgehalten; so mußte auch der Kuß sich ertragen lassen. Nur schien es ihm ratsam, seinerseits die Augen zu schließen, damit er das eisige und feurige, zugleich zerfließende und steinern geprägte Gesicht nicht gar zu sehr aus der Nähe sähe.

Es verging eine kleine Weile, vielleicht war es auch eine lange Zeit, Kikjou stand wie im Schlaf, er machte die Augen nicht auf. Endlich sagte er – fast zu seiner eigenen Überraschung: »Jetzt werde ich es vielleicht schaffen.«

»Was?« fragte der Engel. Er hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; die Stimme kam nicht mehr aus so drohend-zärtlicher Nähe.

»Nicht heute oder morgen …« Kikjou redete wie zu sich selber, als wäre kein Engel da. »Aber irgendwann. Mit der Zeit. Ich werde es sicher schaffen.«

»Sprichst du von deinem Buch?« Der Engel wußte Bescheid; seine Frage vorhin war rein rhetorisch gewesen.

»Ursprünglich ist es Martins Buch gewesen«, erläuterte Kikjou. »Aber er hat es nur bis zum Vorwort gebracht, und ein paar Notizen sind da, ich habe alles bewahrt. Auch Marcel hat es schreiben wollen oder hat es zu Teilen geschrieben. Alles, was er hinterlassen hat, sind Bruchstücke unseres Buches. – Darf ich es vollenden?« Die Frage war dringlich; umso enttäuschender die etwas spöttische Gegenfrage des Engels: »In welcher Sprache willst du es denn schreiben?«

Kikjou war ein bißchen beleidigt. »Darauf kommt es doch gar nicht an. Ich kann alle Sprachen. Aber es ist so schwer, die Wahrheit festzuhalten – in welcher Sprache auch immer. Die Wahrheit ist so ungeheuer kompliziert, so traurig und so schockierend. Ich fürchte mich vor der großen Arbeit …«

»Fürchte dich nicht!« Die Stimme kam nicht mehr von oben und hatte menschliches Maß. Gerade deshalb wirkte sie tröstlich – Zuruf eines guten Kameraden.

Kikjou gestand: »Ich wundere mich selber über meine Courage. Du mußt mich für sehr ehrgeizig und eitel halten. Habe ich überhaupt Talent? Das ist noch lang nicht bewiesen; die paar Schreibübungen während der letzten Jahre rechnen kaum. Und nun will ich mich an eine so große Sache wagen …«

»Es soll ein Roman werden?« Der Engel erkundigte sich mißtrauisch, wie ein Verleger, dem ein unberühmter junger Autor Vorschläge macht.

»Eine Chronik«, versetzte Kikjou, schüchtern und stolz. »Die genaue Chronik unserer Verwirrungen, Leiden, auch der Hoffnungen. Ich habe viel Material«, behauptete er hoffnungsvoll. »Es müßte ein ziemlich langes Buch werden, vieles ist einzubeziehen, eine Menge von Themen machen die Symphonie. Ich darf nichts vereinfachen, auch nichts weglassen; umständlich und aufrichtig muß ich sein. – Wenn es aber langweilig würde? Das wäre grauenhaft! Vielleicht sind Bücher nicht mehr zeitgemäß? In den meisten Ländern werden sie verboten – und wo sie noch erlaubt sind, machen sie kein besonderes Aufsehen. Die Leute gehen lieber ins Kino. – Mein Gott!« Kikjou war tief erschrocken. »Sind alle Bücher langweilig?«

»Es gibt immerhin Unterschiede!« bemerkte der Engel, mit mattem Trost.

Kikjou war gleich wieder zuversichtlich, wenngleich immer noch von Zweifeln geplagt. »Mein Roman muß aber doch zu den interessanteren gehören!« rief er flehend. »Bei all dem Material, das ich habe …«

Der Engel, mit einem Achselzucken: »Es wird eben ein Roman – gesetzt, du hast überhaupt die Kraft, ihn zu schreiben. Die Welt wirst du nicht mit ihm auf den Kopf stellen.«

»Aber es muß doch alles festgehalten werden! Man vergißt doch so schrecklich schnell!« Nun lief Kikjou durchs Zimmer, aufgeregt wie alle Autoren, wenn von ihren literarischen Projekten die Rede ist. »Sogar wenn heute wenig Interesse da sein sollte – die Nachwelt will doch Dokumente, Rechenschaft. Sie verlangt unsere Beichte …«

»Eure Beichte!« Der Engel lachte; wurde dann umso ernster. »Die ist an anderer Stelle verwahrt.«

Nun war Kikjou wirklich sehr verletzt, er schmollte. »Du bist der erste, dem ich von meinem Vorhaben rede – bis jetzt habe ich mir’s ja selber kaum eingestanden. Nicht einmal dem Erlöser, der von mir alles weiß, habe ich Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Dir eröffne ich alles – und du weißt dir nichts Besseres, als mich mutlos zu machen.«

»Dich mutlos machen?« Der Engel wiederholte es mit sanftem Vorwurf. »Wer hat dir denn den Mut zu deinem Plan gegeben? Seit wann hast du ihn denn?«

Kikjou mußte gestehen: »In etwas präziserer Form – erst seit einer halben Stunde.«

»Erst seitdem ich dich geküßt habe«, stellte der Engel fest.

»So willst du, daß ich das lange Buch schreibe?« Kikjou war wieder froh; wollte aber noch wissen: »Warum tust du dann so skeptische Äußerungen?«

»Weil du ehrgeizig und eitel bist«, sprach der Engel.

Der Junge verstummte erschreckt. Dann suchte er sich zu verteidigen. »Aber nein! Glaube das bitte nicht! Ich gebe mir doch alle Mühe, bescheiden zu sein … Ein bißchen eitel ist wohl jeder Mensch. Und wie sollte man ohne Ehrgeiz etwas Großes beginnen …? Meine Stimme soll die Stimme meiner Brüder sein – der lebenden wie der toten – nach Diktat will ich sprechen. Martin und Marcel sind verstummt, unter fremden Himmeln. Sie hätten soviel zu sagen gehabt, alle zwei – du hast sie ja gekannt – aber gerade den Besten verschlägt es heute die Sprache, mit Entsetzen schließen sie den Mund. Manche Ereignisse und Zustände sind von solcher Art, daß die Worte fehlen, um sie zu bezeichnen.« Hier nickte der Engel, der Erfahrung hatte, was die unbenennbaren Ereignisse und Zustände betraf. Kikjou wurde lebhafter, ermutigt durch die freundliche kleine Geste.

»Die Ereignisse und Zustände sollen verändert werden; darauf kommt alles an.« Er wartete auf ein neues Zeichen der Bestätigung; der Engel lauschte und schwieg. »Wie soll man sie verändern«, fuhr Kikjou fort, »wenn man nicht einmal wagt, sie zu benennen? – Ich wage es!« rief er ungestüm und warf kühne Blicke. »Das Verwirrte übersichtlich zu machen; den Schmerz zu lindern, indem man ihn analysiert – welche Aufgabe! Welches Abenteuer! Viel schwieriger und viel schöner, als einen neuen Apparat zu konstruieren, einen Ozean zu überfliegen, eine Schlacht zu gewinnen!«

»Du sollst eine Schlacht gewinnen!« Der Engel, der solches verlangte, sah seinerseits kriegerisch aus. Er gönnte sich noch eine Verwandlung – gewissen Monarchen oder hohen Würdenträgern ähnlich, die zu jeder repräsentativen Gelegenheit das passende und pittoreske Kostüm wählen. Diesmal stilisierte er seine Erscheinung ins Militärische. Aus dem runden Hut ward ein Helm, das weite Reisekleid bekam straffe Linien – es glich nicht einer modernen Uniform, eher dem Gewand eines antiken Soldaten; selbst die Flügel sahen jetzt wie Waffen aus, mit feurigen, harten Rändern, die an den Spitzen gefährliche kleine Dolche zu formen schienen. Auch das Antlitz hatte militante Züge, und der Ruf kam knapp und hart wie ein Befehl.

»Das Wort ist, immer noch, eine gute Waffe! Es muß gar nicht langweilig sein, wenn es trifft und sitzt. Übe dich! Lerne fechten! Wir lieben die guten Fechter!«

Es war ein Kommando, scharf, aber enthusiastisch. Kikjou versprach begeistert: »Ich werde mir Mühe geben – du kannst dich darauf verlassen! Natürlich darf ich nichts überstürzen; es gibt noch eine Menge vorbereitender Arbeit zu tun. Wieviel Studien sind nötig! Wieviel Notizen, wieviel Material! Ich werde beobachten, sammeln, eins zum anderen legen. Und wenn die Kraft mir ausgeht, werden die toten Brüder mir ein wenig soufflieren: die lieben Toten flüstern mir die Worte zu, die sie verschwiegen haben. Mit unsichtbaren Händen führen sie mir die Feder, wenn meine eigenen Finger ermatten … Ich schreibe den Roman der Heimatlosen!« Er rief es freudig erregt, als hätte er sich erst eben entschlossen.

»Meine Glückwünsche.« – Es fiel Kikjou auf, wie erschöpft die Stimme seines Gastes klang. Er stand an der Türe, zum Gehen bereit und wieder in der bescheidenen Gestalt, die er zuerst präsentiert hatte. Irdischer Staub lag auf dem dunklen Stoff von Wanderkleid und Kopfbedeckung. Die schräge Haltung der Schultern verriet Müdigkeit; indessen waren Füße und Hände nervös bewegt. So empfiehlt sich einer, der lange Wege hinter sich hat und dem noch erhebliche Strapazen bevorstehen. – »Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten.« Er schwebte ein wenig empor, gleichsam um zu probieren, ob er es nicht verlernt habe. »Der Dienst ruft.« Er lächelte überanstrengt, wobei er träge durch die Luft spazierte.

Kikjou war neugierig. »Was hast du denn noch zu tun?«

»Mancherlei …« Der runde Hut drückte sich platt an der Zimmerdecke; der Engel war so weit wie möglich nach oben geschwebt. »Laß einmal sehen … Wir haben heute den 14. September 1938. – Noch mehreres zu erledigen. Das Tagesprogramm ist noch nicht erfüllt.«

»Du sammelst Material – wie ich?« erkundigte sich Kikjou, mit kollegialer Vertraulichkeit.

Der Engel, an der Decke, schwieg eine Weile, ehe er, melancholisch und zerstreut, konstatierte: »Wunder kann ich nicht tun. Ich habe meine Instruktionen und Kompetenzen, die keinesfalls zu überschreiten sind.« – »Immerhin bist du mächtig, im Vergleich mit mir«, meinte Kikjou, der das große Buch schreiben wollte. »Ich kann beobachten, kann mit den anderen leiden; helfen kann ich nur in den seltensten Fällen. Du hingegen bringst Trost, schon durch deine Gegenwart – wenn du nicht gerade deinen kleinen Häßlichkeitsanfall hast … Ich beneide dich.«

Der Engel der Heimatlosen antwortete mit einem Blick voll großer Traurigkeit. Plötzlich aber klapperte er animiert mit den Flügeln: ihm war ein Einfall gekommen. »Du könntest mich auf meiner Tour begleiten!« schlug er munter vor.

»Jetzt? Sofort?« – Kikjou war beklommen, weil er an die schauerliche Fahrt durch Schnee und Sturm dachte. Stand schon wieder etwas dieser Art bevor?

Der Engel – gar nicht drohend, wie sein geschwinder Kollege es gewesen war; vielmehr eher flott, bei aller Erschöpftheit – lachte: »Natürlich! Ich habe keine Zeit zu verlieren!«

»Wohin denn?« – Kikjou blieb mißtrauisch.

»Hierhin und dorthin!« erklärte der fröhliche Wanderengel. »Du wirst vielleicht ein paar alte Freunde wiedersehen oder neue Bekanntschaften machen – das ist immer interessant, besonders für einen Schriftsteller.« – »Ich bin doch noch gar keiner!« wandte der Junge ein. Der Engel – fast übermütig – drohte mit dem Finger: »Du wirst auch nie einer werden, wenn du jedem Abenteuer ausweichst!« Sein Entschluß, den Dienstflug nicht allein zu machen, hatte ihm die Laune erheblich verbessert. Er wiegte sich behaglich an der Zimmerdecke. »Wir werden es uns bequem machen.« – Das war ermutigend. Kikjou fragte: »Keine Raserei durch die Nacht? Kein Gebraus und Gesaus, daß einem die Sinne vergehen?« – »Keine Spur!« Wie sanft und singend die Engelsstimme nun klang! Sie wurde magisch einschläfernd, als sie wiederholte: »Keine Spur …«

Dabei hob er die Hand. Er winkte, er gab das Zeichen – da füllte sich der Raum mit silbergrauem Nebel. »Wir machen es uns bequem … Sind ja zwei alte Reisende. Beide etwas ausgepumpt, von den vielen Fahrten …« – Er ruhte im Silbernebel wie auf weichem Kissen. Auch Kikjou fühlte sich sehr angenehm gebettet.

Die weiche Wolke trug ihn sanft empor. Welch komfortables Wunder! Der Engel der Heimatlosen zog den jungen Menschen an sich. »Wie gut«, hauchte er noch, »einmal nicht alleine unterwegs zu sein …«

Die Wolke, dunkler geworden, schaukelte leicht. Kikjou sah nichts mehr – nur noch die milden Strahlenaugen seines Begleiters. War die zauberische Reise kurz oder war sie lang? – Weder kurz noch lang. Die Dimension der Zeit galt nicht mehr, da die Dimension des Raumes überwunden war. Sind Engel gebunden an die Vorstellungsformen plumper menschlicher Hirne? Ach – in der silbrig-dunklen Wolke, die sie uns entführt, haben die Kategorien unseres Denkens keine Gültigkeit. Auch der kleine Sterbliche ist von ihnen befreit – solange ihn der Engel mit brüderlicher Zärtlichkeit umarmt. Ausflüge so extravaganter Sorte distanzieren ein Menschenkind auf bedenkliche Art von Brüdern und Schwestern, die dergleichen nie mitgemacht – der Engel sollte es wissen. Weiß er es? Ist es seine pädagogische Absicht, den jungen Romancier dahin zu belehren, daß man zugleich distanziert und ergriffen sein muß – wenn man schreiben will? – Kikjou sollte noch so vieles lernen, ehe er sein großes Buch beginnt! Man muß geflogen sein mit den Engeln, man muß mit den Armen gehungert haben – wenn man Bücher über Menschen schreiben will. Welch ein Wagnis: über Menschen irgend etwas auszusagen! Ihr unsagbares Gefühl zu formulieren – welches Risiko! Taktlosigkeiten, Irrtümer, nichtssagende Verallgemeinerungen werden fast unvermeidbar; es geht um das Heikelste, um das Verworrene, das Unergründliche – man ergründet es nie, man ahnt nur etwas vom Grund – ganz entschieden, ehrgeiziger kleiner Kikjou, du mußt noch durch mehrere Erfahrungen gehen, ehe du zur Feder greifst. Jetzt fliegst du mit dem Engel – wir wünschen dir glückliche Fahrt! Der Dämon der Entwurzelungsneurose, der Schutzpatron der Expatriierten, der Tröster, der Spötter, der Fluchspendende, der Segenspendende – er hat dich geküßt. Das gibt dir einen Vorsprung vor den Konkurrenten. Du bist vielfach ausgezeichnet worden, man hat dich angeblickt – unfaßbar milde und unfaßbar streng – man hat viele schöne oder entsetzliche Worte an dich gerichtet; jetzt eben sind es sanfte Worte, die du hörst.

»Zuerst zeige ich dir das Beste!« sagte der Engel – da waren sie schon am Ziel, schon unsichtbare Gäste in einem Haus – bescheidene Villa; aber sauber und gemütlich, »Colonial Style«: man befand sich im südlichen Teil der Vereinigten Staaten; Kikjou wußte es, ohne vom Engel unterrichtet worden zu sein. – ›Hier also lebt Marion!‹ dachte er. ›Sie hat mir ihre Adresse nicht geschrieben; man muß sich ja mit den Engeln verbünden, um sie aufzufinden …‹

Er sah Marion, sie saß an einer Wiege, er sah einen fremden Mann – gedrungene Gestalt; das rundliche Gesicht von den Augen beherrscht – wer war es denn? Der Engel belehrte ihn: »Professor Benjamin Abel, ein famoser Kerl.« – Kikjou sah Marion an; seinem Begleiter indessen schien es mehr auf das Kind anzukommen; schon näherte er sich, schwebenden und schleppenden Ganges, der Wiege. Das Kind schrie, Marion sagte: »Man sollte das Radio abstellen, Marcel kann nicht schlafen.« – »Es ist aber gerade so interessant«, sagte Benjamin. »Chamberlain will nach Berchtesgaden fliegen.« – Marion, während sie mit der Fußspitze leicht die Wiege schaukelte: »Das bedeutet wohl, daß der Krieg etwas verschoben werden soll. Kleine Verzögerung der anberaumten Apokalypse …« – »Ich werde nicht mehr klug aus der englischen Politik«, sagte Professor Abel und stellte den Apparat ab. Marion lachte leise. »Als wir Kinder waren, fragte Mama uns manchmal: Bist du dumm oder bist du bös? Das möchte ich von den britischen Ministern manchmal auch gern wissen …« – Sie ließ ihre Augen nicht vom Kind, während sie sprach. »Was hat der Kleine denn heute abend? Er hört gar nicht auf zu weinen. – Du wirst mir doch nicht krank?« – Sie redete über die Wiege geneigt.

Kikjou rief Marions Namen, sie drehte sich gar nicht um, er hatte keine Stimme: wer unsichtbar ist, wird auch stumm. Er war eifersüchtig auf Professor Abel, er haßte ihn, weil er zu Marion sprechen durfte, und weil die Worte, die er sprach, ihr verständlich wurden. – War Marion glücklich? Jedenfalls schien sie stiller, weniger nervös als in den alten Pariser Tagen. Ihre Hände ruhten auf dem Rand der Wiege; früher hatte man sie fast stets in zuckender Bewegung gesehen. Kikjou fand in ihrem Blick eine ernste Heiterkeit. ›Es muß schön sein, ein Kind zu haben‹, dachte Kikjou – petit camérade des anges …

Da erschauerte Marion: der Engel der Heimatlosen war zu ihr getreten. Sie sah ihn nicht – unsichtbar: sein bestaubter Hut, das ramponierte Kostüm; unsichtbar der müde Mund, der gnadenvolle Blick. Sie spürte jedoch seine Nähe. Sie fürchtete sich.

»Ich fürchte mich«, gestand sie ihrem Benjamin. »Vielleicht wird doch Krieg kommen; es sieht alles so beunruhigend aus. Oder ein Frieden, der noch schlimmer ist als Krieg. – Und das Kind hört nicht auf zu schreien!« rief sie gequält.

Sie war es – die junge Mutter – die schrie; das Kind lächelte schon. Die Nähe des Engels war ihm angenehm; der kleine Marcel war erst vier Wochen alt und dem Paradiese noch nicht fremd geworden. Er lachte, der kleine Marcel; er strampelte, er bewegte lachend die Fäustchen. Mit großer Vergnügtheit empfing er Blick und Kuß des Boten. Der Engel der Heimatlosen segnete und küßte Marions Kind.

»Ist er nicht goldig!« rief entzückt Vater Abel. Er war goldig, Marion bestätigte es. Er wird die Augen bekommen, um derentwillen Marion zwei Menschen geliebt hat: Tullio und Marcel.

Welch ein schönes Baby! Sein Gesicht war nicht rot und faltig; vielmehr glatt, von fester Substanz und angenehm bräunlicher Farbe. Es hatte schon Augenbrauen – die junge Mutter kannte ihre Linie, die kühnen, tragischen Bögen …

»Ich bin stolz auf das Kind«, sagte Vater Abel mit feuchtem Blick.

Und die Mutter – unendlich zärtlich, sorgenvoll und stolz: »Was ist ihm bestimmt? – Was ist dir bestimmt, kleiner Marcel?«

»Ich weiß es«, sagte der Engel der Heimatlosen – ziemlich laut, aber unhörbar. – Er hatte das Kind geküßt; dies war erledigt, anderes blieb zu tun; »wir müssen weiter!« raunte er Kikjou zu. Der Sterbliche flüsterte: »Bitte nicht!« Er wollte so gern noch ein wenig bleiben; es gefiel ihm so gut hier, das Kind war reizend, für Marion hatte er immer starke Sympathie gehabt – und wäre es nicht interessant gewesen, den Professor ein bißchen näher kennenzulernen? – »Nur noch ein paar Minuten!« bettelte Kikjou. Der Engel aber war unbarmherzig, wie alle pflichtgetreuen Beamten. Schon beschwor er, mit zwei erhobenen Fingern, die Silberwolke. – »Was wird aus dem Kind?« fragte Kikjou noch, ehe er eingehüllt und fortgetragen ward. »Sage mir’s! Ich muß es wissen!!«

Der Engel antwortete nicht. Sein Blick, mitleidsvoll und streng, umfing noch einmal die Gruppe: den Vater, die Mutter, die Wiege mit dem Neugeborenen – drei Menschen. – »Komm!« forderte der Engel der Heimatlosen. Dies galt Kikjou und ward schon aus der Wolke gesprochen.

Aufstieg; Entrückung – mit leichtem Schaukeln; komfortables Wunder; magische Verwandlung. Paris, Ecke Boulevard St.-Germain – Rue des Saints-Pères. Ein kleines Restaurant – Kikjou hatte häufig hier gegessen. »In dieser Ecke saß ich immer – mit Martin!« Er flüsterte es dem Engel zu – der es schon gewußt hatte und schweigend nickte.

Das Lokal war voll; übrigens schien das Publikum aufgeregt und nervös. Man besprach die Ereignisse des Tages; erwog auch, was die Zukunft bringen mochte. »Gibt es Krieg?« – »Natürlich! Es wird ja schon mobilisiert!« – »Aber Chamberlain ist nach Berchtesgaden geflogen!« – »Er ist noch in London, vielleicht wird Hitler ihn nicht empfangen …« – »Lohnt es sich, Krieg zu machen, für diese Sudetendeutschen, die niemand kennt?« – »Les Tchèques c’est pour moi quelque chose comme les Chinois …« – »Die Tschechoslowakei ist unser Bundesgenosse und eine gute Demokratie …« – »Monsieur Benesch ist Jude, deshalb mag er den Führer nicht …« – »Monsieur Benesch soll ein sehr kultivierter, feiner Mann sein …« – »L’honneur de la France …« – »Les avions Allemands …« – »Les sales Tchèques …« – »Les sales Boches …« – »Les sales Juifs …« – »Nous autres Français …« – »Je suis pacifiste …« – »J’admire Monsieur Chamberlain …« – »Après tout, Hitler, lui aussi, est un type épouvantable …«

Da entdeckte Kikjou seinen Freund David Deutsch, er saß mit zwei älteren Herren, alle drei waren schweigsam, die Kellnerin stellte gerade Teller und eine Flasche Rotwein vor sie hin. Einer von den Männern hatte einen prachtvollen schwarzen Vollbart – steif und hart, wie ein Brett aus Ebenholz. Er studierte eine Zeitung, die in hebräischen Lettern gedruckt war. »Es ist ein Rabbi«, erklärte der Engel, »sehr gelehrt und fromm. In Krakau geboren, 1886; lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Paris.« – »Und der andere?« wollte Kikjou wissen. Er ward unterrichtet: es war ein väterlicher Freund von David Deutsch, Herr Nathan. Er hat das Umschulungslager für jüdische Intellektuelle in Skandinavien organisiert – höchst verdienstvollerweise. David wollte sich als Schreiner ausbilden lassen; hat sich auch sehr geplagt; brach aber bald zusammen: die Kräfte reichten nicht aus. Herr Nathan riet ihm, er solle Uhrmacher werden: dazu braucht man mehr Intelligenz und weniger Muskeln als zur Schreinerei. Jetzt kann David Uhren auseinandernehmen und zusammensetzen – eine heikle Kunst. Er hat eine Stellung in den französischen Kolonien bekommen, durch gütige Vermittlung des Rabbi mit dem schönen schwarzen Bart. Morgen geht das Schiff nach Marseille, jetzt feiern sie Abschied, Herr Nathan hat seinen Schützling nach Paris begleitet. – »Sehr nett von ihm«, sagte Kikjou. »Herr Nathan gefällt mir. Warum sieht er so müde aus? Er hat schwere Säcke unter den Augen.« – »Er muß sich viel sorgen«, sagte der Engel, der seinerseits aus irgendeinem Grunde beunruhigt schien. Er beobachtete eine Gruppe von jungen Franzosen, die ihren Tisch neben David Deutsch und seinen Freunden hatten.

Es waren schmucke Burschen, einer von ihnen trug ein kleines, schwarzes Schnurrbärtchen, an den Enden aufgezwirbelt; alle hatten Abzeichen in den Knopflöchern ihrer Jacketts, sie sprachen über die Schande Frankreichs. Ein jüdischer Ministerpräsident hatte die Nation an den Rand des Abgrundes gebracht; was man nun dringend brauchte, war ein starker Mann. Man wünschte ihn sich einerseits brutal, andererseits auch versöhnlich; er sollte die Streiks verhindern – wenn nötig, auf die Arbeiter schießen lassen; mit Nazideutschland aber gute Freundschaft halten. Jüdische Intriganten beabsichtigten, la douce France in den Krieg zu zerren – angeblich um die Tschechen zu retten, in Wahrheit wegen der jüdischen Interessen. Die jungen Herren waren sehr ergrimmt. Einer von ihnen blickte drohend zu David Deutsch hinüber. Die hebräische Zeitung wirkte wie ein rotes Tuch auf die forschen Jünglinge – die reichlich Wein konsumiert hatten.

Der Engel war sehr besorgt. Er raffte das dunkle Kleid und schwebte auf David zu. Gleichzeitig standen auch die jungen Herren auf; sie hatten ihre Mahlzeit beendet, ihre Rechnung bezahlt. Würde alles gut gehen? War die Gefahr überwunden? Die Camelots hatten die Tür erreicht, der Rabbi ließ einen Seufzer der Erleichterung hören; nur der Engel – hinter Davids Stuhl – blieb kummervoll und gespannt.

Einer der Jünglinge – es war der mit dem hübschen Bärtchen – machte kehrt. Es erschien ihm wohl unerträglich, das Lokal zu verlassen, ohne den frechen Israeliten eine Lektion erteilt zu haben. Hebräische Zeitungen – mitten in Paris! C’est trop fort, après tout! Dies Gesindel – durfte es sich alles erlauben?

Leicht schwankend, doch in aufrechter Haltung, durchschritt der junge Herr nochmals das Restaurant. Vor David Deutsch blieb er stehen. Der wußte schon, was nun kommen würde – er hatte es zweimal erlebt. Es gibt Cauchemars, die man, in gewissen Abständen, immer wieder, immer noch einmal träumen muß. Ein SA-Mann hatte gespuckt, auf dem Kurfürstendamm, in Berlin – wie lang war es her? Er hatte »Saujud!« dazu gesagt – mit gelassener, beinah freundlicher Stimme. Umso erregter war die amerikanische Dame gewesen, mit ihrem: »Sales Boches!« Übrigens eine Spuckerin ersten Ranges – sie hatte einen respektablen Speichelpatzen produziert!

Der Pariser Kavalier sagte: »Sales Juifs!« Gegen die »boches« hatte er nichts, solange sie nur faschistisch waren. Er taumelte ein wenig; ohne Zweifel: er war leicht betrunken – indessen noch rüstig genug für die Spuckzeremonie. Mit der Amerikanerin freilich konnte er es keineswegs aufnehmen – das Resultat seiner Bemühungen war vergleichsweise kümmerlich; auch der SA-Mann hatte Besseres geleistet. Kein fetter Batzen sprang aus dem Munde des Kavaliers, nur ein dünner Strahl, eine matte Fontäne – beinah war es mitleiderregend. Übrigens konnte er gar nicht zielen. David mußte ihm mit dem Fuß entgegenkommen – mechanischer Reflex, wie von einem, der sehr oft geschlagen wird und schon weiß, wohin die Schläge treffen sollen – sonst wäre das schwache Tröpfchen ins Leere gefallen. Davids Stiefel wurde leicht benetzt. Der Kavalier wiederholte: »À bas les sales Juifs!«

Der Rabbi war aufgefahren – das Gesicht über dem schwarzen Bart weiß vor Zorn. Im Lokal ward ein Gemurmel laut; teils beifällig, teils entrüstet. Die Entrüstung überwog. Die Kameraden des Kavaliers lachten etwas krampfhaft, in der offenen Türe stehend; sie spürten, daß die allgemeine Stimmung eher gegen sie war. Herr Nathan senkte wortlos die Stirn. Und David?

David hätte geschrien. Sein Mund verzerrte sich; Zuckungen liefen über die wachsbleiche Miene; die zerbrechlichen Finger – gelenkige und zarte Finger des Uhrmachers – fuhren ins starre Haar. Er hätte geschrien; doch der Engel ließ es nicht zu. Er neigte sich über ihn, er legte ihm die flache Hand vor den Mund. Er beschützte ihn mit seinem Mantel und mit seiner Hand. Er wollte nicht, daß er schrie. Der Aufschrei würde alles nur noch ärger machen. – Klage nicht, David! Ich bin bei dir – dein Engel! Sei demütig! Sei stolz! Sei besonnen und fromm! Unterdrücke den Laut des Jammers! Dein Engel hat ihn gehört.

David verhielt den Schrei; nur die Augen sprachen. Die schönen, dunklen, sehr erfahrenen Augen seiner alten Rasse ließen den Kavalier – diesen mäßig begabten Spuckheroen; sie blickten an ihm vorbei und über ihn hinaus. ›Was haben wir getan und angerichtet, daß wir gehaßt werden, mit so unversöhnlichem Haß?‹ fragten die dunklen Augen. ›Ist Israel unter den Völkern das schwarze Schaf? Wie haben wir uns vergangen? Was bedeutet soviel Schmach – die Erniedrigung durch Jahrtausende? Eine sublime Auszeichnung des Herrn? Das Stigma, das wir durch die Zeiten tragen müssen – ist es das Mal der Erwähltheit? So wären wir denn wirklich das erwählte Volk?

Ach – verdienen wir diese schaurige Ehrung?

Was sollen wir tun, um ihrer würdig zu sein?

Herr Israels, der Du uns durch die Wüste geführt hast – was willst Du denn, daß wir tun?‹

Der junge Herr, ziemlich ernüchtert, entwich, rückwärts schreitend. Menschen sprachen heftig durcheinander. »Ça, alors – quelle salopperie, alors …!« Die Franzosen waren beleidigt. Es ging über den Spaß.

Der Engel löste langsam seine Hand von Davids Mund – sehr vorsichtig, als wäre sie dort festgewachsen, und er fürchtete, es könnte wehe tun. Noch mehr Schmerz war David Deutsch wohl nicht zuzumuten. Das Maß war voll; der Engel wußte, was Menschen zu ertragen fähig sind.

Dann gab er Kikjou das Zeichen. Und da war die Wolke.

Neue Szenerie; heftig verändertes Licht. Die Dinge zeigen härtere Konturen. In Paris scheinen sie von perlgrauem Schimmer umhüllt; hier aber sind sie nackt. Ist dies afrikanische Landschaft? Der Engel bedeutet Kikjou: »Wir sind in Spanien. Die Stadt heißt Tortosa, sie ist nicht weit von Barcelona entfernt. Es war eine hübsche Siedlung«, stellt der Engel mit betrübter Stimme fest. »Die Bomben haben sie ganz zerstört.«

Nein – viel übrig geblieben war nicht von der Stadt, die Tortosa hieß; sie hatten gute Arbeit getan, die deutschen und die italienischen Piloten. Hier gab es fast nur noch Trümmer. Von manchen Häusern war die Vorderseite erhalten – eine kulissenhaft täuschende Fassade; dahinter aber lag Schutt. Alle Bewohner hatten die Stadt verlassen; indessen war sie doch nicht völlig unbewohnt. Die Ruinen wurden bewacht von Männern, die verschiedene Sprachen hatten. Spanische Soldaten, französische, deutsche und amerikanische Soldaten beschützten die Trümmer, deren Name einst Tortosa gewesen war. Durch die tote Ruinenstadt lief ein lebendiger Fluß, er hieß Ebro. Die Trümmer jenseits des Flusses gehörten dem Feind – der lag in gefährlicher Nähe. Nur ein Streifen Wassers trennte die Soldaten der Republik von ihren Gegnern, den arabischen Söldlingen und den italienischen Hilfstruppen des rebellischen Generals. Es wurde geschossen. Der Kampf um das zerstörte Tortosa stagnierte, aber hörte nie völlig auf.

Der Engel war furchtlos. »Es wird ein bißchen geknallt.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe anderes mitgemacht. – Komm!« – Er geleitete Kikjou in ein Haus, es war relativ gut erhalten. Von der Treppe, die ins erste Stockwerk führte, waren immerhin Teile intakt geblieben. Droben gab es eine Flucht von Zimmern, früher mußte es hier fürstlich fein gewesen sein, jetzt waren die Wände geborsten, die Seidenbehänge zerfetzt, in den Fenstern fehlten die Scheiben, man hatte den Blick auf den Fluß. »Drüben liegen die Faschisten.« Der Engel runzelte die Stirn und sah ungnädig aus. Nach einer Pause bemerkte er noch – verächtlich, aber doch schon wieder besänftigt: »Mein Gott – es sind auch nur Menschen …«

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0+
Umfang:
4415 S. 59 Illustrationen
ISBN:
9783754940884
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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