Steine brennen nicht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ich danke dir, Jelena, und ich schließe mich ganz deiner Meinung an. Ich schlage Effel vor«, sagte Mindevol, »wie ihr alle wisst, habe ich ihn in den letzten Jahren unter meinen Fittichen gehabt. Er war mir schon als kleiner Junge aufgefallen, weil er etwas Besonderes zu sein schien. Und in der Tat hatte ich Recht behalten, wie jeder, der ihn kennt, bestätigen kann.« Alle Anwesenden nickten.

»Er war ja wie ein Sohn für dich, Mindevol«, sagte Reijssa jetzt.

»Ich dachte immer bei mir, was für ein Glück der Junge hatte, bei euch und von euch so viel lernen zu können.«

»Ja, und dennoch war es mir immer wichtig, dass er auch ein ganz normales Leben führte, wie alle anderen jungen Männer von Seringat auch.«

Effel hatte schon nicht mehr damit gerechnet, den Vorzug zu bekommen. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er seinen alten Schulkameraden Rafael geschickt. Rafael war noch einen Kopf größer als er, und er war schon nicht klein. Außerdem war sein Freund, was den Umgang mit Menschen anbetraf, an Feingefühl wohl nicht zu übertreffen. Er schien immer den richtigen Ton zu finden und hatte schon so manchen Streit schlichten können. Er war der geborene Vermittler und es gab wohl niemanden, der Rafael nicht mochte.

Das waren auch die Qualitäten, die dem Ältestenrat nicht verborgen geblieben waren und die Rafael in den engeren Kreis der Kandidaten hatten kommen lassen. Es war sogar kurzzeitig erörtert worden, zwei junge Männer loszuschicken und dann wären es Rafael und Effel gewesen.

Jeder der Kandidaten wurde zum Schluss in den Versammlungsraum des Ältestenrates gerufen und Jelena fand wie immer für jeden die richtigen Worte.

»Effel«, hatte sie zu ihm gesagt und er erinnerte sich noch sehr genau an seinen rasenden Herzschlag, »der Ältestenrat hat beschlossen, dich auf die Reise zu schicken, und ich möchte dir auch erklären, warum unsere Wahl auf dich fiel. Uns gefällt, dass du etwas zu Ende führen kannst, auch wenn es zwischendurch einmal schwierig wird. Anfangen ist nämlich leicht, etwas durchzustehen ist da schon schwieriger. Dass konnten wir schon oft an dir beobachten. Du setzt deinen Verstand ein, vertraust aber auch deiner Intuition. Du kannst unterscheiden, wann das eine sinnvoll und das andere nötig ist. Du hast ebenfalls bewiesen, dass du in entscheidenden Momenten die Ruhe bewahrst, auch wenn es für dich einmal brenzlig wurde. Uns ist durchaus bewusst, dass vieles von dem, was dich draußen erwarten wird, nicht vergleichbar ist, mit dem, was dein Leben hier ausmacht. Wir erkennen bei dir aber auch die richtige Mischung zwischen Mut, Gelassenheit und Ideenreichtum. Eine Frage habe ich noch, Effel. Glaubst du an dich selbst?«

Ohne zu zögern hatte er geantwortet:

»Ja, Jelena, ich glaube an mich selbst und es ist mir eine Ehre, ausgewählt worden zu sein. Wann soll es denn losgehen?«

»Du hast Zeit, denke ich, jetzt ist Winter. Du kannst dein Haus noch fertigbauen. Wir wollen auch erst ganz sicher sein, was genau die Anderen vorhaben. Bis jetzt sind es mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse. Aber die Anderen werden auch erst kommen, wenn das Wetter gut ist. Vor Juni oder Juli wird es kaum losgehen, Effel. Das sagt mir mein Gefühl.«

Kapitel 9

Mal Fisher ließ sich nur ab und zu in der Firma blicken und niemand in Professor Rhins Umgebung wusste genau, woraus seine Tätigkeit genau bestand. Es interessierte bisher auch niemanden, denn sein Ansprechpartner in der Unternehmensleitung war der Mann, der die Forschungsabteilungen unter sich hatte, Greg Canningman. Sicher aber war, dass Mal Fisher dem Vorstand der Firma angehörte. Der Professor hatte Mal immer nur von weitem gesehen, mal in der Cafeteria, mal in der Eingangshalle, aber immer begleitet von mehreren Assistenten, die geschäftig um ihn herumwuselten.

Vor zwei Wochen war es dann zum ersten persönlichen Treffen mit Mal Fisher gekommen, immerhin nach 20 Jahren Firmenzugehörigkeit.

Der Professor wollte gerade Feierabend machen, als das gelbe Telefon auf seinem Schreibtisch summte. Der Apparat verband ihn direkt mit der Obersten Heeresleitung, wie er seinen Vorstand im Stillen nannte.

»Hier ist Mal Fisher, guten Abend Professor Rhin. Ich habe mit Ihnen eine dringende Angelegenheit zu besprechen. Ist es ihnen möglich, gleich zu kommen? Es ist wichtig.« Ein Klicken zeigte Professor Rhin an, dass sein Vorstand bereits aufgelegt hatte. »Welch eine Frage«, dachte er und schüttelte mit dem Kopf.

Mal erwartete den Professor in einem sehr komfortablen Büro im 15. Stockwerk unter der Erde. Das Gebäude war schon über der Erde eines der ansehnlichsten der ganzen Stadt, aber hier unten hatte man wirklich an nichts gespart. Früher waren die Büros der Chefs in den obersten Etagen der Wolkenkratzer gewesen und hatten den beruflichen Aufstieg symbolisiert.

Aber nachdem vor einigen hundert Jahren diese Gebäude immer häufiger Ziele von Flugzeugattentaten geworden waren, hatte man es sich angewöhnt, der Sicherheit den Vorzug zu geben. Heute gab es zwar keine Anschläge mehr, aber bei der Gewohnheit hatte man es belassen.

Weiche Bodenbeläge dämpften die Schritte des Professors in dem langen Korridor, der zu Mals Büro führte. Als er eingetreten war, stellte er fest, dass dieses das seine um Längen übertraf.

Aus den holografischen Fenstern hatte man einmal einen Traumblick über eine Küstenlandschaft, ein anderes Mal sah man schneebedeckte 8000er Gipfel vor sich. Mal Fisher hatte den Professor überaus freundlich begrüßt und sich entschuldigt, dass er ihn womöglich davon abgehalten hatte, seinen verdienten Feierabend zu genießen. Es sei aber, wie gesagt, dringend und dauere auch nicht lange. Während des Drinks, den sie nahmen, wechselten die Hologramme zu den unterschiedlichsten Ansichten.

»Schöne Bilder, nicht wahr, Herr Professor? Leider gibt es einige dieser Landschaften nicht mehr.«

»Na ja, Mr. Fisher, wenn man sie nie erlebt hat, wird man sie nicht vermissen, aber sie sind wirklich schön. Obwohl es heute ja auch noch zauberhafte Landschaften gibt. Denken sie nur an die Küstenregion um Southport.«

»Wussten Sie eigentlich, dass wir diese schönen Bilder eigentlich einem Zufall zu verdanken haben, ja dass es sogar um ein Nebenprodukt handelt?« Mal wies auf die Holografien.

»Dass es ein Zufall war, ist mir nicht bekannt«, antwortete der Professor.

»Doch, die Holografie wurde bereits 1948 von dem aus dem damaligen Ungarn stammenden englischen Physiker Dennis Gabor entwickelt. 1971 bekam Gabor für seine Erfindung sogar den Nobelpreis. Eigentlich arbeitete er daran, die Funktionsfähigkeit von Elektronenmikroskopen zu verbessern.

Sehr schnell hielten ja Hologramme dann in den normalen Alltag Einzug. In den Scannerkassen der Supermärkte wurde der Abtaststrahl für den Strichcode mit Hologrammen umgelenkt, eine echte Revolution damals.« Mal lachte und fuhr fort. »Doch das neue Medium war zunächst wegen des fehlenden Lasers und des fehlenden Filmmaterials nur wenigen Spezialisten vorbehalten. Einen Boom erlebte die Holografie dann in den 60er Jahren mit der Entdeckung des Lasers. Es waren, glaube ich, Emmeth Leith und Juris Upatniek, welche die Holografie zum Leben erweckten. Sie verwendeten erstmals einen Laser, um ein Hologramm zu erzeugen. Diese Hologramme waren von einer wesentlich besseren Qualität, als die mit den Quecksilberdampflampen hergestellten. Die beiden erschufen so das erste Lasertransmissionshologramm.«

»Arbeitete zur gleichen Zeit in der damaligen Sowjetunion nicht der Physiker Yuri Denisyuk an dem Thema Holografie?« Professor Rhin war es wichtig, seinem Chef zu vermitteln, dass auch er nicht ganz ahnungslos war. »Ich habe gelesen, dass er mit einem etwas anderen Verfahren als Leith und Upatniek Hologramme hergestellt hat. Diese zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie mit gewöhnlichem Sonnenlicht oder einer Lampe betrachtet werden konnten. Diese Hologramme wurden deswegen auch nach ihm als Denisyuk-Hologramme bezeichnet.«

»Nun, sind wir froh, dass die Holografie sich dermaßen weiterentwickelt hat, aber ich habe Sie nicht hergebeten, um über Hologramme zu sprechen, wie Sie sich sicherlich denken können.«

Professor Rhin nickte und schaute erwartungsvoll.

»Wissen Sie eigentlich, warum Sie damals darum gebeten wurden, Frau Ferrer unter Ihre Fittiche zu nehmen, Professor?« Mal hatte die Fensterbilder auf langsam ziehende Wolken umgestellt und es sich in einem weichen Ledersessel bequem gemacht. Er machte einen jovialen, freundlichen Eindruck und der Professor musste insgeheim anmerken, dass Mal gut geschult war im Umgang mit Menschen. Bis jetzt machte er alles richtig.

»Ich denke, weil Sie ebenfalls erkannt haben, welch talentierte junge Frau sie ist und dass sie gute Arbeit leisten würde, Sir.«

»Das auch, Professor, und nennen sie mich einfach Mal. Darf ich sie Ted nennen? Das war allerdings nicht der Hauptgrund.«

Es gab nicht viele Menschen, die den Professor Ted nennen durften, aber weil ihm Mals Offenheit und sein natürlicher Charme gefielen, nickte er zustimmend. Da war etwas an Mal, das man nicht lernen konnte. Das hatte man oder man hatte es nicht. Dieser Mann besaß eine große Menschenkenntnis, das war dem Professor bereits nach wenigen Minuten klar.

Der Name Ted gefiel ihm nicht, es war aber zu zeitraubend, jedem zu erklären, warum das so war. Irgendwann während seiner Studienzeit hatte sich die Abkürzung ›Ted‹ für seinen richtigen Namen Theodor durchgesetzt.

»Nun schön, Ted, es ist so einfacher. Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Ich werde ganz offen mit Ihnen sprechen und erwarte, dass das, was wir hier bereden, auch in diesen vier Wänden bleibt. Ihre absolute Diskretion ist außerordentlich wichtig, denn wenn etwas von dem, was Sie gleich hören werden, nach außen dringen würde, hätte das unabsehbare Folgen für uns alle, nicht nur für dieses Unternehmen.

 

Nikita Ferrer ist nicht zufällig in dieser Firma. Es überrascht sie vielleicht, aber wir wissen seit einigen Jahren von ihr und auch, dass sie einmal für uns von Wert sein würde. Jetzt ist es soweit.«

Der Professor horchte auf. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass es um seine jüngste Mitarbeiterin ging.

»Das Myon-Neutrino-Projekt, das wir diesem Dr. Wenstin entziehen mussten, ist nicht tot. Es ruht zwar, aber es lebt, und zwar schon sehr lange. Es gibt das Verfahren bereits, zumindest die Pläne, es zu verwirklichen.«

»Was!?«, der Professor riss die Augen auf.

»Ich kann Ihr Erstaunen durchaus verstehen, Professor, mir erging es nicht anders. Aber was ich Ihnen sage, ist die Wahrheit. Wir ahnen es zwar schon länger, mussten aber unsere Recherchen erst noch vervollständigen. Und jetzt hören und staunen Sie, Professor. Quellen, denen wir vertrauen, sagen uns auch, dass Frau Ferrer die Unterlagen des Myon-Neutrino-Projektes schon selbst in Händen gehabt hat und wissen müsste, wo sie sich momentan genau befinden.«

Der Mund des Professors stand weit offen und er sah in diesem Augenblick nicht wie eine Kapazität auf seinem Gebiet aus.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber jetzt verstehe ich nichts mehr und ich bin bestimmt nicht schwer von Begriff.«

»Wir sind informiert, dass die Unterlagen zu dem Myon-Neutrino-Verfahren sich in dem anderen Teil der Welt befinden und etwas viel Wertvolleres noch dazu, vielleicht sogar am gleichen Ort oder in seiner Nähe. Wer hätte das gedacht? Es handelt sich dabei um eine Offenbarung, die keinem anderen als uns in die Hände fallen darf. Es ist für uns wie das letzte fehlende Teil eines gigantischen Puzzles. Das Myon-Neutrino-Verfahren ist dadurch für uns zweitrangig geworden, aber immer noch wertvoll genug. Es soll auch nur von diesem Projekt die Rede sein, wenn Sie mit Frau Ferrer sprechen, nie von der Offenbarung. Wenn die andere Seite erfährt, was wir suchen, werden sie sich wappnen und alles tun, um zu verhindern, dass diese Dinge in unsere Hände gelangen. Und glauben Sie mir, Professor, es ist nicht wenig, was Sie tun können.

Wenn Sie mit ihrer Mitarbeiterin sprechen, und das müssen Sie, gleich morgen früh, dürfen Sie auf keinen Fall erwähnen, was ich ihnen jetzt sage. Nikita Ferrer ist eine Walk In, wenn Sie wissen, was das heißt.«

»Ich weiß, was das ist, Sir, äh Mal. Meines Wissens hat dies etwas mit bewusster Reinkarnation zu tun, was von der Wissenschaft übrigens Jahrhunderte lang negiert wurde. Aber dass sie eine ist, wusste ich nicht.«

»Sie haben Recht, Herr Professor, Walk Ins sind Personen, die, und das ist, wie Sie sagen, das Besondere daran, ganz bewusst inkarnieren können. Das heißt, wenn die Kräfte des Körpers nachlassen, stirbt dieser Mensch und er sucht sich einen neuen Körper, der für diesen Wechsel vorbereitet wurde. Das Besondere daran ist, dass diese Persönlichkeiten ihr Wissen aus allen Inkarnationen präsent haben. Wussten Sie, dass es von diesen Personen nur fünf Menschen weltweit gibt? Ihr ist es selbst nicht bewusst, was ganz außergewöhnlich und für uns ein ausgesprochener Glücksfall ist. Der Walk In bleibt nämlich in der Regel bewusst. Frau Ferrer hatte aber kurz nach ihrer Geburt eine leichte Hirnhautentzündung und die hat wohl eine Amnesie bei ihr ausgelöst. Ganz sicher sind wir allerdings nicht, ob sie sich inzwischen doch erinnert und es bloß geheim hält. Warum sollte sie das auch an die große Glocke hängen?

Walk Ins wurden immer geheim gehalten. Jedenfalls muss Frau Ferrer in einer ihrer früheren Inkarnationen die Unterlagen in Händen gehabt und sogar selbst versteckt haben, als sie verfolgt wurde. Wir hoffen nun, dass Frau Ferrer sich erinnern wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Jetzt könnten Sie vielleicht sagen, Ted, warum setzen wir sie nicht unter Drogen und lassen uns von ihr den Ort verraten? Das wäre zugegebenermaßen zu schön, geht aber leider nicht. Und zwar aus mehreren Gründen: Viele Landschaften haben sich seit den großen Verschiebungen in den Katastrophenjahren um 2180 vollkommen verändert, wie Sie wissen. Und auch kein Ortsname existiert dort noch so, wie es ihn vor 1100 Jahren gab.

Nachdem der Ewige Vertrag geschlossen und die große Umsiedelung über der Bühne war, kam man drüben auf die glorreiche Idee, entweder die ganz alten, ursprünglichen Namen und Bezeichnungen wieder zu verwenden oder einfach neue zu vergeben. Die Voraussetzungen, unter denen Frau Ferrer den oder die Orte wieder finden kann, sind Glück, Intuition oder ein Déjà-vu, das dann ihre bewussten Erinnerungen wiederbelebt.

Wir vermuten, dass sie sich damals nach markanten Punkten oder Gebäuden orientiert hat, die es ja auch heute noch geben kann.«

»Woher wissen Sie das alles, Mal, wenn ich fragen darf, und wo oder wer sind die anderen vier Personen?«

»Fragen dürfen Sie, Herr Professor, nur haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich Ihnen keine Auskunft geben kann. Wo die anderen vier Personen sind, weiß ich auch nicht, sicherlich weiß es niemand, außer ihnen selbst. Es ist auch nicht gesagt, dass sich diese Persönlichkeiten immer einen menschlichen Körper aussuchen. Sie werden den Seinszustand wählen, der ihnen gerade opportun erscheint.«

»Was kann ich Frau Ferrer für diesen Auftrag anbieten«, fragte der Professor. Er hätte allzu gerne gewusst, woher Mal seine Informationen hatte.

»Entscheiden Sie das selbst, Ted. Sie haben alle Optionen. Sie kennen Frau Ferrer inzwischen gut genug, um zu wissen, bei welchem Köder sie anbeißt. Sollte es Geld sein, nun, das ist das geringste Problem.«

»Ich werde Frau Ferrer gleich noch informieren. Danke, Mal, dass Sie mich ins Vertrauen gezogen haben. Ich glaube, ich brauche heute Abend noch etwas Zeit, das alles zu verdauen.«

»Verdauen Sie, verdauen Sie, Ted. Hauptsache, morgen ist alles gegessen.« Mit diesen Worten erhob sich Mal und reichte dem Professor die Hand zum Abschied. Die Botschaft war klar. Man erwartete einfach von ihm, dass er alles in die gewünschten Bahnen lenkte.

In seinem Büro angekommen funkte er Nikita an, die aber nicht antwortete.

»Sie hat wieder ihre Brille nicht auf«, murmelte der Professor vor sich hin. So schrieb er die E-Mail, die Nikita am nächsten Morgen in ihrem Auto lesen würde. Hätte er gewusst, dass Nikita nur eine paar Straßen weiter in Tonys Bar war, wäre er noch hingegangen. Stattdessen fuhr er nach Hause. Er würde sich Literatur über Reinkarnation aus seiner virtuellen Bibliothek auf den Bildschirm im Wohnzimmer holen, es sich bequem machen und wahrscheinlich die halbe Nacht lesen.

20 Etagen tiefer drückte Mal einen Knopf auf seinem Schreibtisch, wartete einen Moment und sagte dann: »Es wird bald losgehen.«

Ein knappes »Gut so« war die Antwort.

Er entnahm einem kleinen Kasten aus Ebenholz eine dicke Zigarre, um sie sich genüsslich in Brand zu stecken. Dann setzte er sich, legte die Füße auf die edle Mahagoniplatte und genoss den schweren dunklen Tabak. Zufrieden lächelte er vor sich hin und dachte an sein Leben im Kuba der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts, das leider nur 50 Jahre gedauert hatte und in dem sein Name natürlich nicht Mal gewesen war. Diese Zigarren lösten jedes Mal eine wahre Bilderflut mit den dazugehörigen Gefühlen in ihm aus.

Nach dem Regierungsantritt Fidel Castros 1959 hatte Präsident Eisenhower auf Anraten seiner engsten Berater Kuba mit einem Wirtschaftsembargo belegt. Mal erinnerte sich, dass er selbst damals 38 Jahre alt war, Chat hieß und an all den wunderbaren Plänen beteiligt sein durfte.

Aufgrund dieses Wirtschaftsembargos näherte sich Kuba sowohl politisch als auch wirtschaftlich der Sowjetunion an.

Amerika sah daraufhin seine Sicherheitsinteressen im mittelamerikanischen Raum bedroht. Im Januar 1961 brachen die USA ihre diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab.

Mal musste unwillkürlich grinsen, als er sich an diese geniale Zeit erinnerte.

Bereits ein Jahr zuvor hatte der amerikanische Geheimdienst damit begonnen, eine Invasion Kubas zu planen. Zu diesem Zweck bildete man Exilkubaner militärisch aus. Am 17. April 1961 landeten 1300 dieser Exilkubaner an der Südküste Kubas, in der so genannten Schweinebucht.

Der amerikanische Geheimdienst hatte damit gerechnet, dass die Invasion von den Kubanern begrüßt werden würde. Das Gegenteil war der Fall. Man stieß auf erbitterten Widerstand und am Ende waren 1000 Exilkubaner festgenommen. Daraufhin waren die USA schweren Anschuldigungen aus dem Ausland ausgesetzt. Hauptankläger war die Sowjetunion, die sogar mit einer Invasion drohte. Die Welt stand vor einem neuen Krieg, der schon damals die große Katastrophe bedeutet hätte. Immerhin brachte der Freikauf der Exilkubaner 50 Millionen US-Dollar ein.

In dieser Zeit gedieh der Plan »Operation Northwoods«. Im Winter 1961/1962 entwarfen die Joint Chiefs of Staff, also die Oberkommandierenden der amerikanischen Teilstreitkräfte, unter Führung von General L.L. Lemnitzer einen atemberaubenden Plan, der vorsah, durch gezielte amerikanische Provokationen, Täuschungsmanöver und Terrorakte, die man den Kubanern anlasten wollte, einen Vorwand zu schaffen, um Castro loswerden zu können. Und sei es durch einen Krieg. Mal erinnerte sich noch an die Vorschläge: Man plante, den US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba von Exilkubanern in Uniformen der kubanischen Armee überfallen zu lassen. Die Angreifer sollten die Munitionsdepots in die Luft sprengen, Feuer auf dem Stützpunkt legen und Flugzeuge in Brand stecken. Eine zweite Idee war, ein amerikanisches Schiff vor Guantanamo Bay in die Luft zu sprengen oder eine Schiffsattrappe in kubanischen Gewässern zu versenken.

Weiterhin sollten US-Kampfflugzeuge, die man später als sowjetische Migs ausgeben wollte, Zivilflugzeuge bedrohen, Schiffe angreifen und Attrappen von US-Militärflugzeugen abschießen. Offenen Terror bedeutete der Vorschlag, kubanische Flüchtlingsschiffe zu beschießen, natürlich als »kubanisches Militär«, kubanische Flüchtlinge in Florida zu ermorden und Plastikbomben an ausgewählten Orten explodieren zu lassen.

Der ausgefeilteste Entwurf war sicherlich der, wonach ein ziviles Flugzeug von der »kubanischen Luftwaffe« abgeschossen werden sollte. Man wollte zwei identische Flugzeuge dazu bereitstellen. Das mit Passagieren besetzte sollte in der Luft an einem vereinbarten Punkt von einer identisch aussehenden Drohne abgelöst werden, die dann schließlich abgeschossen werden sollte.

Der infamste Plan aber bestand wahrscheinlich in der Bombardierung von Nachbarstaaten, die man den Kubanern in die Schuhe schieben wollte. So sollten die Zuckerrohrfelder der Dominikanischen Republik von kopierten Mig-Kampfflugzeugen in Brand gesetzt werden. Die amerikanische Führung um einen inzwischen neuen Präsidenten Kennedy reagierte vernünftiger und verantwortungsbewusster als die eifernde, skrupellose und paranoide höchste Generalität des Landes und lehnte die Vorschläge von General Lemnitzer und seinen kalten Kriegern, die so sehr auf einen heißen Krieg aus waren, ohne größere Diskussion ab. Damit waren die Pläne, in die man so viel Zeit und Geld investiert hatte, durchkreuzt.

»Wie gut«, dachte Mal jetzt an seinem Schreibtisch, »dass Zeit nicht wirklich eine Rolle spielt und mit diesem Kennedy und seinen Visionen hatte man ja auch nicht lange gefackelt.« Die Zigarre war zu Ende geraucht und Mal stand auf, füllte sein Glas noch einmal, trank es halb aus und setzte sich wieder.

»Immerhin«, dachte Mal, »mein damaliges Lieblingskind, die Sowjetunion stand etwas besser da. Was haben wir uns Mühe gegeben, keine Kosten haben wir gescheut für dieses Projekt.

Wir haben aber auch wirklich auf den richtigen Mann gesetzt, obwohl ich damals lange dagegen war. Ehrlich gesagt, hätte ich ihm sein Durchhaltevermögen nicht zugetraut. Aber er war wohl zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.« Mal schloss wieder die Augen, er hatte jetzt genügend Zeit, sich den Erinnerungen hinzugeben. Auf Professor Rhin war noch immer Verlass gewesen, er würde die Geschichte mit Nikita Ferrer schon regeln.

Und dann wurde Mal Fisher wieder von einer wahren Bilderflut übermannt, aber er genoss es.

Der Name Lenin tauchte zum ersten Mal am 25. März 1915 in einem geheimen Bericht an den Berner Gesandten Gisbert Freiherr von Romberg auf. Mal musste grinsen, das war wirklich clever gewesen. Wenig später wurde Lenins in sieben Hauptpunkte gegliedertes Partei- und Friedensprogramm übermittelt: Errichtung der Republik, Konfiskation des Großgrundbesitzes, Einführung des achtstündigen Arbeitstages, Friedensangebot ohne Rücksicht auf Frankreich, Verzicht Deutschlands auf Annexionen und Kontributionen, Russlands auf Konstantinopel und die Dardanellen, Einmarsch der russischen Armee in Indien. Romberg erkannte das Potenzial in Lenins Konzept und trug es, wie beabsichtigt, Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg an. Von allen revolutionären Strömungen im Zarenreich schien Lenins Bolschewismus am meisten Aussicht auf einen schnellen Frieden zu bieten. Mal musste jetzt leise lachen. Lenins Bolschewismus!

 

Die Stimmung der Soldaten an der Front war damals verheerend.

Viele ließen sich gefangen nehmen oder desertierten, doch aufzubegehren trauten sie sich nicht. Erst nach zweieinhalb Kriegsjahren erhob sich das russische Volk - und überraschte damit sowohl die emigrierten Berufsrevolutionäre um Lenin wie Berlins Geheimdiplomaten.

Am 8. März 1917 warteten Petrograder Textilarbeiterinnen vor den Bäckereien der Stadt auf Brot. Lange, zu lange. Der Funke zündete. Die Frauen traten in den Streik, die Männer taten es ihnen gleich, der Aufstand ergriff damals binnen Stunden Zehntausende. Zwei Tage später waren es bereits 200.000.

Kurz darauf weigerten sich die ersten Soldaten, mit der Waffe gegen das eigene Volk vorzugehen. Am 15. März dankte dann endlich Zar Nikolaus II. unter dem Druck seiner Generäle ab.

Russland wurde fortan von der bürgerlich-liberalen provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gelenkt.

Nun waren die Diplomaten und deren Geschick gefragt, denn wenn Lenin die Massen gewinnen sollte, musste er sich als unabhängiger Revolutionsführer präsentieren können, der keiner ausländischen Macht verpflichtet war. Nichts und niemand durfte ihn nun kompromittieren. Lenin wusste das sehr genau.

Am 9. April stand dann im Züricher Hauptbahnhof der Schnellzug 263 nach Schaffhausen zur Abfahrt bereit. Mal erinnerte sich sogar noch an die Nummer des Zuges. An Gleis 3 hatten sich damals etwa 100 Menschen versammelt, vorwiegend Russen. Es waren Anhänger von Arbeiterparteien, die einander erbittert bekämpfen. Mal konnte sie jetzt sogar hören.

»Provokateure! Lumpen! Schweine!«, riefen ein paar von ihnen, als sich eine Gruppe von 32 Männern, Frauen und einem Kind den Weg durch die Menge bahnte. Zumeist waren es russische Emigranten in abgetragenen Kleidern, bepackt mit Kissen und Decken, die wenigen Besitztümer in Bündeln und Körben verstaut. »Man wird euch alle aufhängen!«, rief jemand.

Den kleinen, untersetzten Mann beeindruckten Tumult und Todesdrohungen nicht. Lenin hatte schließlich ein Ziel vor Augen: Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Russland, wo seit wenigen Wochen die Revolution regierte. Und dieses Ziel war jetzt nah.

Zar Nikolaus II. hatte endlich abgedankt. Die bürgerliche provisorische Regierung und der neu gegründete Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, kurz Sowjet, hatten in Petrograd, das früher St. Petersburg hieß, die Staatsgeschäfte übernommen. Russland war in Aufruhr. Das war die Stunde der gewaltbereiten Bolschewiken, der russischen Mehrheitssozialisten.

Es sollte auch die Stunde Lenins sein, ihres Anführers. »Entweder sind wir in sechs Monaten Minister oder wir hängen«, erklärte ein Genosse kurz vor der Abfahrt in Zürich.

Es war am Ostermontag. Vor 72 Stunden hatten die USA dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Aus dem europäischen war endgültig ein Konflikt der ganzen Welt geworden. Jenseits der Partei kannte fast niemand den Namen, oder gar die Visionen Lenins, der in seinem Schweizer Exil nur ein Häuflein Bolschewiken angeführt hatte. Von sozialistischer Weltrevolution und Diktatur des Proletariats wollte kaum jemand etwas wissen. Keiner Zeitung war seine Abreise damals eine aktuelle Meldung wert.

Und doch wurde an jenem Nachmittag im Züricher Hauptbahnhof eine Weiche der Geschichte gestellt. Am 9. April 1917 war Lenin nur der Kopf einer kleinen politischen Reisegruppe mit wenigen Anhängern - sieben Monate später befahl er über 175 Millionen Menschen. Er war der Vater der »Oktoberrevolution« und der Architekt der Einparteiendiktatur, die das russische Volk 70 Jahre beherrschte. Die Sowjetunion war vor allem das Werk der Organisation und Lenin war ihr Mann.

Als das Deutsche Reich am 1. August 1914 Russland den Krieg erklärte, lebte Lenin mit seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja im österreichisch-ungarischen Galizien, das später Polen wurde. Seit Lenin die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands betrieben hatte, führte er die Fraktion der Bolschewiken an, der »Mehrheitler«. Doch der Name trog, denn eigentlich waren die Anhänger der leninistischen Richtung oft in der Unterzahl. Gleichwohl gelang es dem Genossen Wladimir Iljitsch immer wieder, die entscheidenden Sitzungen und Abstimmungen durch geschicktes Taktieren, Charisma und durch die Einschüchterung anders Denkender für sich zu entscheiden.

In diesem August war Lenin 44 Jahre alt. Seit 14 Jahren lebte der polizeilich bekannte Revolutionär nahezu ununterbrochen in der Emigration und wurde von der Organisation finanziell unterstützt. So konnte er ohne große Sorge um den Broterwerb an seinen Theorien feilen und daran, wie Russland nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken zu organisieren sei.

Eines war klar: Die Führung musste einer Kaderpartei von Berufsrevolutionären obliegen, so viel hatte Lenin bereits in seiner 1902 erschienenen Schrift »Was tun?« skizziert. Die Verwaltung konnten Arbeiterräte übernehmen - solche, wie sie sich spontan bei der Revolution von 1905 in vielen Städten Russlands gebildet hatten.

Erst spät wurde erkannt, dass Lenin in Galizien nach Kriegsausbruch in Gefahr war, als russischer Spion verhaftet zu werden. Tatsächlich musste er auch einige Tage in einer Zelle verbringen. Per Telegramm bat er den Polizeichef in Krakau, den örtlichen Behörden mitzuteilen, dass er als politischer Emigrant gemeldet sei. Der Polizeichef reagierte sofort und antwortete in seinem Sinne. Mehrere politische Freunde, so der österreichische Sozialdemokrat Viktor Adler, intervenierten ebenfalls und beteuerten, dass Lenin ein erklärter Gegner des Zarenregimes sei. Daraufhin kam er frei. Mit seiner Frau floh er in die neutrale Schweiz, wo das Paar von den Härten des russischen Kriegsalltags verschont blieb.

Zar Nikolaus II. versagte zum Glück in diesen Krisenzeiten.

Sein Regime war nicht in der Lage, die reichen Ressourcen des Landes für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Schon bald wurde das Brot knapp und die Menschen hungerten. Es fehlte jedoch nicht nur an Nahrungsmitteln: Viele Bauern, die als Soldaten an die Front gezwungen wurden, waren nicht einmal mit einem Gewehr ausgerüstet, wussten nicht, für wen sie kämpfen sollten, und wurden durch inkompetente, herrische und gleichgültige Offiziere in sinnlosen Attacken geopfert. Mit jeder Todesnachricht wuchs die Stimmung im Land gegen den Zaren und dessen Krieg.

Das erklärte Ziel der Organisation war, den Weltkrieg der Imperialisten zu beenden und statt seiner weltweit Bürgerkriege anzuzetteln - Bürgerkriege, die überall zum Sieg des Proletariats führen sollten. Man dachte immer schon international, nationale Interessen waren nur dann zu unterstützen, wenn sie zum großen Ziel führten. Diese Position isolierte Lenin zunächst von der Mehrheit der europäischen Sozialdemokraten, die den Krieg in ihren jeweiligen Ländern gebilligt hatten - weil sie sich als Vaterlandsverteidiger sahen. Seit mehr als 20 Jahren glaubte er an die Solidarisierung der Arbeiterklasse aller Länder und daran, dass die sozialistische Weltrevolution unmittelbar bevorstehe. Auch andernorts interessierte man sich für den russischen Emigranten: in den Kreisen der deutschen Regierung. Seit dem Scheitern der Offensive im Westen und angesichts des unerwartet starken militärischen Auftritts der Russen im Osten war das Kaiserreich in der Klammer eines kräftezehrenden Zweifrontenkrieges gefangen. Deutschland brauchte Entlastung, am besten an der Ostfront. Russland sollte aus der Entente herausgebrochen werden. Dafür entwickelten Politiker und Militärs zwei Optionen: einen Separatfrieden mit dem Zarenreich oder die Zerstörung Russlands von innen, etwa durch die Unterstützung revolutionärer Kräfte.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?