Steine brennen nicht

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Kapitel 7

Mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme sagte der Fremde: »Guten Abend«, während er seinen grauen Umhang, der aus Wolfspelzen bestand, zurückschlug. Effel wunderte sich nicht mehr darüber, dass er auf der kleinen Lichtung, auf der er lag, sogar den Klang der Stimme genau erinnerte.

»Ich habe eine sehr lange Reise hinter mir, auf der Suche nach eurem Dorf. Mein Name ist Schtoll von Malewien«, stellte er sich Mindevols Gästen vor. Effel hatte noch niemals von einem Land oder Ort solchen Namens gehört, es musste sehr weit weg sein. Sam knurrte immer noch und Effel dachte bei sich, dass das Knurren seines Hundes etwas mit dem Wolfsmantel zu tun haben musste.

Mindevol war aufgestanden, um den Fremden zu begrüßen.

»Sei willkommen in meinem Haus, Schtoll, ich bin Mindevol. Ich hatte zwar erst morgen mit dir gerechnet, bin aber froh, dass du gut angekommen bist. Es ist gar nicht so einfach in dieser Jahreszeit, wo viel Schnee liegt und die Wälder oft unpassierbar sind, auch wegen der hungrigen Wölfe. Aber mit denen scheinst du dich ja auszukennen. Manchmal haben wir Schnee bis in den April und in diesem Jahr sieht es ganz danach aus.«

Dabei ging Mindevols Blick zwischen Mantel und Armbrust hin und her.

»Setz dich zu uns und trinke erst einmal einen warmen Tee, der wird dir gut tun. Essen bekommst du auch bald, denn wir feiern heute den Vollmond. Du musst hungrig sein. Komm ans Feuer, du bist ja ganz durchgefroren.«

Effel war verblüfft, denn Mindevol hatte nicht erwähnt, dass er einen Gast aus einem fremden Land erwartete. Er erinnerte sich aber auch jetzt, dass er schon damals gedacht hatte, dass Mindevol ihm ja nicht alles sagen musste.

»Vielen Dank für den freundlichen Empfang, dann hole ich erst noch meine Sachen herein, wenn du erlaubst.« Man merkte kaum, dass der Besucher nicht in seiner Muttersprache sprach.

Er hatte lediglich einen leichten gutturalen Akzent. Schtoll legte die Armbrust ab und lehnte sie an die Wand gleich neben der Tür. Dann ging er nach draußen und kam sofort darauf mit einem großen Rucksack und einem Köcher voller Pfeile zurück.

Effel fragte sich, wie schwer die Waffe wohl sein mochte und der Jäger in ihm hätte sie am liebsten gleich einmal ausprobiert.

Alles in allem schätzte er das Gewicht von Schtolls Ausrüstung auf ungefähr 50 kg.

Malu nahm Schtoll den Umhang ab, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Wenn er über diesen Besuch überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Sam begleitete ihn, jetzt neugierig am Mantel schnuppernd, die Nackenhaare immer noch leicht aufgestellt. Der Gast ließ sich auf einem Stuhl neben dem Kamin nieder, nicht ohne einige beruhigende Worte an Sam in einer fremden Sprache zu richten. Es klang wie: »Wu echnar won.«

Der Hund beruhigte sich augenblicklich, kam zurück und legte sich unter den Tisch. Man konnte die Erleichterung des Mannes spüren, im Warmen zu sein. Stumm blickte er in die Runde und begrüßte die Anwesenden mit einem leichten Kopfnicken.

Effel gefiel der offene Blick, der Ruhe und Kraft ausstrahlte.

Dass der Blick des Besuchers besonders lange auf ihm ruhte, dem maß Effel keine Bedeutung zu. Mira brachte eine Tasse Tee, die Schtoll gerne annahm und er begann sofort, das heiße Getränk zu schlürfen. Dabei umschloss er die Tasse mit seinen Händen, um sie zu wärmen.

»Ich bringe euch Meldungen und Erkenntnisse, die uns alle betreffen«, sagte er. »Ich bin einer von denen, die vom Rat des Südens geschickt wurden, die Nachrichten zu möglichst vielen Menschen unserer Welt zu tragen.«

Effel dachte noch: »Ist das wirklich schon vier Monate her, es ist so, als sei es gestern gewesen?«, als er einen sanften Druck auf seiner Schulter spürte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis er die Augen aufschlagen konnte und Perchafta neben sich sitzen sah. Es war dessen Hand, die ihn von seiner Reise in die Erinnerung zurückgeholt hatte.

»Das war merkwürdig, Perchafta, wie lange war ich weg?« Effels Stimme war ganz belegt, sie schien ebenfalls weit weg gewesen zu sein.

»Merkwürdig ist es nur das erste Mal und es ist wirklich würdig, dass du es dir merkst. Ich freue mich, dass es so gut geklappt hat. Deine Reise hat vielleicht eine Stunde gedauert.

Du hast viele Bilder gesehen. Gib dir noch einen Moment Zeit, ganz hierher zurückzukommen. Wenn du magst, kannst du mir gerne später erzählen, was du gesehen hast. Wir haben ja noch den ganzen Tag vor uns.«

Perchafta war aufgestanden, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und sein Pfeifchen anzuzünden, dabei schüttelte er leicht seinen Kopf, was aber Effel nicht bemerkte.

»Es ist wie träumen und doch anders«, meinte Effel, »es ist bewusster, irgendwie klarer und alles kam mir vor, als sei es erst gestern geschehen.«

»Es freut mich, dass dir diese Art zu reisen gefallen hat. Hierbei spielt Zeit keine Rolle, Effel. Du hast damit den ersten und entscheidenden Schritt getan.« Perchafta hatte sich wieder hingesetzt.

»Den ersten entscheidenden Schritt, welches wird der zweite Schritt sein?«

Er fühlte sich noch ein wenig zwischen den beiden Welten.

»Langsam, kehre erst einmal ganz zurück hierher und dann sehen wir weiter, außerdem beantworte ich nicht gerne zwei Fragen auf einmal«, lächelte Perchafta ihn an. »Der erste Schritt ist immer der entscheidende, denn jede Reise beginnt damit. Der zweite und alle nächsten sind dann nur noch eine logische Folge. Komm, Sam wird sicher schon warten.«

»Ja, mein guter Sam. Er ist der anhänglichste Hund, den ich kenne. Ich bekam ihn vor fast zwei Jahren von unserer Nachbarin geschenkt, als er noch ein Welpe war. Ihre Hündin hatte einen großen Wurf. Da sie wusste, dass ich ein Hundenarr bin, durfte ich mir einen Welpen aussuchen. Aber eigentlich habe nicht ich ihn ausgesucht, sondern er mich. Er kam als Einziger sofort auf mich zugelaufen, als ich den Hof betrat.

Sicherlich hat er sich kaum von der Stelle gerührt, an der wir ihn verlassen hatten.«

»Nun, dann sollten wir nachschauen, oder?«

Der Hund freute sich, als sei Effel eine Ewigkeit weg gewesen und steckte seinen Herrn mit dieser Freude an. Perchafta war vorsichtshalber ein wenig zurückgeblieben, aber Sam kam sehr behutsam mit dem Schwanz wedelnd heran, um ihn zu beschnuppern.

Es sah fast respektvoll aus. Gleich darauf sprang er wieder an Effel hoch. Nach dieser stürmischen Begrüßung machten sich die drei auf den Weg und kamen bald aus dem Wald heraus. Effel wandte sich an seinen Begleiter:

»Wie geht es jetzt weiter, Perchafta, wirst du mitkommen oder soll ich eine Zeit lang hier bleiben?«

»Ich denke, es schadet nichts, wenn wir ein wenig beisammen bleiben, damit deine nächsten Reisen in die untere Welt, wie du sie nennst, mit Begleitung stattfinden können. Zum Üben ist es ganz gut so, später wirst du mich nicht mehr brauchen.«

»Du meinst, ich werde irgendwann diese Art von Reisen ganz alleine unternehmen können, ohne Hilfe eines anderen?«

»Es wäre schlimm, immer auf jemanden angewiesen zu sein, findest du nicht?«

»So betrachtet hast du Recht«, meinte Effel, »aber vorhin hat es mich irgendwie beruhigt, dich neben mir zu wissen.«

»Anfangs ist es sogar besser, einen erfahrenen Begleiter zu haben, aber du wirst bald ohne mich auskommen. Ob ich dennoch bei dir bleibe, wird sich zeigen, es kommt auf den weiteren Verlauf deiner Mission an. Wir haben nicht auf alles Einfluss.«

»Kannst du mir ungefähr sagen, wie lange es dauern wird, bis ich auch alleine weiter kann?«

»Du hast es wohl sehr eilig«, Perchafta musste schmunzeln.

»Du kennst den Grund meiner Reise und wirst daher bestimmt verstehen, dass ich möglichst schnell weiter möchte.«

»Vergiss den Grund deiner Reise zunächst einmal und Zeit, Effel, ist das geringste Problem in diesem Fall. Außerdem, woher willst du wissen, dass es weiter weg geht, vielleicht passiert ja alles ganz in der Nähe. Wenn du nicht optimal vorbereitet bist, egal wie lange das dauert, kannst du deine Mission in den Wind schreiben. Und glaube mir, das war wirklich erst der Anfang. Für die Erfüllung deiner Aufgabe wirst du eine Fähigkeit benötigen, auf die ich dich mit dieser Art von Reise vorbereite, und ohne die du nicht das erreichen wirst, was du erreichen sollst.

Bis jetzt hast du nur Zugang zu dem Wissen und den Erinnerungen, die dein jetziges Leben betreffen und nur dir selbst gehören. Aber es wird wesentlich mehr als das vonnöten sein. Es gibt viele Ebenen der Erinnerung. Bei diesen Gegnern wirst du alles brauchen.«

»Komisch«, meinte Effel, »manchmal habe ich den Eindruck, ich selbst wüsste am wenigsten, was mich erwarten wird.«

»Nein, meine Feststellung habe ich lediglich getroffen aus Erfahrung als Reisebegleiter und aus der Kenntnis eurer Widersacher.

An einem positiven Ausgang deiner Mission bin ich mehr interessiert, als du vielleicht glaubst, denn sie betrifft uns doch letztlich alle. Was geschehen wird, weiß ich genauso wenig wie du. Deine Leute scheinen mit dir die richtige Wahl getroffen zu haben, das sagt mir mein Gefühl.«

Die Luft war frisch und klar und sie kamen gut voran. Sam lief voraus und Effel ging neben dem Krull her. Dabei brauchte er gar nicht langsamer zu gehen. Wie Perchafta es machte, mit ihm Schritt zu halten, erkannte Effel allerdings nicht, es schien ihn auch nicht im Mindesten anzustrengen. Die beiden sprachen nun längere Zeit nicht miteinander, Effel war einerseits mit seinen Gedanken beschäftigt und wollte andererseits Perchafta keine Löcher in den Bauch fragen. Dem Krull schien das nur recht zu sein. Ein paar Mal schon hatte Effel für Momente den Eindruck, als sei sein kleiner Begleiter mit den Gedanken weit weg.

 

Nach einer Weile gelang es ihm, sich mehr auf die Landschaft, durch die sie jetzt kamen, zu konzentrieren. Eine weich geschwungene Hügellandschaft lag vor ihnen, von mehreren kleinen Flüssen durchzogen. An den Ufern dieser Wasserläufe standen Pappeln, Birken und unterschiedlichste Sträucher, die weit über das Wasser ragten. Effel konnte Graureiher erkennen, die beinahe regungslos am Ufer standen und auf einen Fisch warteten. Das Gras wurde von einem leichten Wind bewegt, sodass es beinahe aussah wie die sanften Wellen des Meeres. In der Ebene weideten Pferde und Rinder. Auf einer Anhöhe lag wohl das Haus des Farmers.

Die beiden Wanderer blieben stehen, um den Blick, der sich ihnen bot, zu genießen. Nachdem Perchafta sich dann auf einen Grenzstein am Weg gesetzt hatte, meinte er:

»Welch eine Aussicht. Hörst du die Melodie des Windes und spürst du seinen Hauch auf deinem Gesicht? Riechst du den Duft der Gräser? Es ist wundervoll, nicht wahr? Dass es dies alles wieder gibt, zeugt von der Kraft der Natur. Kaum vorstellbar, dass es Menschen gab, die so etwas nicht achteten, ja sogar zerstörten. Und doch war es so.«

Perchafta hatte fast geflüstert, wurde nun aber wieder lauter:

»Dieser Blick ist das Einzige, was jetzt zählt. Weder Dein Auftrag ist in diesem Moment von Bedeutung noch das Ziel deiner Reise, das du sowieso nicht kennst. Nur das Jetzt ist wichtig und so ist es immer, nur das Hier und Jetzt ist wichtig. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt, nirgend woanders. Die Menschen müssen alles in Zeit einteilen und sind mit ihren Gedanken dann entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft unterwegs, eine unsinnige Angewohnheit.«

»Warum«, fragte Effel, »ist es nicht wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern? Die Gegenwart gäbe es doch gar nicht so wie sie ist, wenn nicht die Vergangenheit so gewesen wäre, wie sie war.«

»So meinte ich das nicht, Effel, mit dem was du sagst, hast du natürlich Recht. Was ich meinte, ist, dass die meisten Menschen mit ihren Gedanken in der Vergangenheit leben, vor allem dann, wenn sie dort schlechte Erfahrungen gemacht oder etwas Schönes verloren haben. Dann haben sie Angst davor, dass etwas Ähnliches noch mal passieren könnte. Und was passiert, wenn man Angst hat, das weißt du. Man ist nicht mehr offen, für das, was wirklich im Jetzt geschieht.«

»Das hat Malu auch oft gesagt, jedenfalls so ähnlich, und jetzt habe ich verstanden, was du meintest, Perchafta.«

»Genauso ist es mit der Zukunft«, fuhr der Krull fort. »Und das ist sogar noch viel blödsinniger, wenn man es genau betrachtet. Die Zukunft gibt es ja noch gar nicht und sie entsteht doch aus dem Hier und Jetzt. Wenn ich ganz bewusst im Hier und Jetzt lebe, nach den Naturgesetzen und in Harmonie mit mir und den anderen Geschöpfen, was kann da Schlimmes passieren? Wir erschaffen doch unsere Zukunft durch unsere Taten und Gedanken von heute. Es mag vielleicht etwas abgedroschen klingen, Effel, aber alle alten Schriften besagen, dass das Rezept für ein vollkommenes Leben ein Leben im Hier und Jetzt ist. Es gilt, mit dem anzufangen, was gerade vor einem ist, den Problemen beim Hausbau, einer Partnerschaft, den Sorgen um die Kinder, Krankheit der Großmutter oder Überwindung der Ängste.«

»Ja, das wird bei uns schon den Kindern beigebracht und es tut gut, es noch einmal so deutlich zu hören. Aber hat man das früher nicht auch schon gewusst? Und wenn ja, frage ich mich, wie es zu alldem kommen konnte, was schließlich in der großen Katastrophe endete.«

»Sicher, Effel, das hat man gewusst und zu Anbeginn der Zeiten hat man es auch befolgt. Doch als die Gier begann, die Mächtigen zu beherrschen, lag es in ihrem Interesse, die Menschen die Wahrheit vergessen zu lassen. Man redete ihnen ein, sie seien die Herrscher über die Welt und sie könnten mit der Erde machen, was sie wollten. Das taten sie dann auch, aber zu welch einem Preis, einen den die Schwachen bezahlen mussten! Glaube mir, einer bestimmten Clique wurde kein Haar gekrümmt, sie haben alle überlebt, oder fast alle. Aber das weißt du ja, du wärst ja sonst nicht hier.«

»Wenn dieses Wissen auch früher schon vorhanden war«, meinte Effel, »dann ist Wissen allein demnach keine Garantie für rechtes Handeln.«

»Schön wäre es, Effel, dann hätten wir jetzt jedenfalls Zeit und Muße für schönere Dinge. Ich wäre bei meiner Familie, könnte lesen und all die Dinge tun, die das Leben lebenswert machen.«

»Aber was ist mit dem Ewigen Vertrag, wurde der nicht geschlossen, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, das Leben zu wählen, das sie für richtig hielten?«

»Effel, nichts was Menschen machen, ist ewig. Dieser Vertrag wurde geschlossen aus der Not der Stunde, also nicht ganz freiwillig. Man brauchte einfach Zeit, denn man hatte den Lauf der Dinge unterschätzt. Jetzt ging es erst einmal darum, sich zumindest einen Teil zu sichern. In der Geschichte der Menschheit sind die meisten Verträge gebrochen worden. Wir Krulls kennen zum Beispiel gar keine Verträge. Wenn ein Krull in etwas einwilligt, dann genügt sein Wort. Das ist dann für ihn und seinen Clan bindend. Aber ist es bei euch Kuffern inzwischen nicht ähnlich?«

»Doch, bei meinem Hausbau habe ich mit dem Nachbarn, der mir das Holz lieferte, auch alles per Handschlag erledigt. Und so wird es immer bei uns gemacht. So lange ich mich erinnern kann, war es nie anders.«

»Na siehst du, ein Teil der Menschheit hat etwas gelernt. Das Wort eines Mannes muss reichen, das ist doch Vertrag genug. Ich hoffe, dass die Menschen mehr gelernt haben, als das. Das, was ihr die Große Katastrophe nennt, war nicht die erste ihrer Art. Es kam damals einiges zusammen. Genauer gesagt kamen drei Gruppen zusammen. Einmal die Wirtschaftsmagnaten, deren Gier keine Grenzen kannte, dann eine gewisse politische Klasse, deren Heil in der militärischen Aufrüstung lag, und schließlich noch die religiösen Fanatiker, die es für ihre Aufgabe hielten, eine Weltordnung nach ihren Wertvorstellungen nötigenfalls herbeizubomben. Eine wahrhaft unselige Allianz. Schlimm war es dann, als die Politik religiosiert wurde. Man machte den Menschen weis, im Auftrag Gottes zu handeln. So kam es, wie es kommen musste.

Die Menschen hatten irgendwann einfach nur noch Angst. Die Attentate häuften sich, die Kriege mehrten sich und in solchen Zeiten wurde der Ruf nach einer starken Händen immer lauter.

Und die gab es ja auch. Man versprach Schutz vor den Attentätern und lenkte so von den wahren Problemen ab.

Angst manipuliert am besten. Wenn ein Mensch von Angst erfüllt ist, wird er leicht zum Opfer jeder Art von Beeinflussung, weil er in diesem Moment die Verbindung zu sich selbst verliert. Was nicht gesehen wurde, oder gesehen werden durfte, war die Tatsache, dass auch die Täter Opfer waren, denn auch sie hatten Angst.

Menschen fügen anderen Menschen Schmerzen zu, wenn sie Angst haben. Je mehr Schmerzen ein Mensch einem anderen zufügt, desto größer ist die Angst in seinem Inneren. Solche Ereignisse, ihr nennt sie Katastrophen, hat es andererseits aber immer wieder gegeben. In den Zivilisationen aller Zeiten. Nach einer rasanten Entwicklung in Wissenschaft und Technik wurden die Menschen überheblich und überschätzten sich und ihre Fähigkeiten. Sie gingen an dem Plan vorbei. So bekamen sie, oder gaben sich selbst, egal wie man es sieht, eine neue Chance. Es sollte dadurch wohl die Spreu vom Weizen getrennt werden.«

»Du meinst also, die Menschen hätten sich selbst unbewusst in solch schlimme Situationen gebracht? Und letztlich auch mit dem Risiko, ganz vernichtet zu werden? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass dies ein Schöpfer tut, ein Gott, der uns alle geschaffen hat und deswegen auch das Recht hat, uns zu nehmen, was er gegeben hat.«

»Meinst du, dass du die Schöpfung vom Schöpfer trennen kannst?«, fragte Perchafta.

»So gesehen, nein. Aber hat dieser Schöpfer nicht auch durch die Natur gesprochen? Hat er uns nicht auch durch sie zahlreiche Warnungen geschickt, die letztlich doch alle überhört wurden?«

»Man nannte sie Naturkatastrophen«, erwiderte Perchafta, »aber für die Natur war es ja keine Katastrophe, nur für die Menschen. Für die Natur war es eine Reinigungsaktion und für die Erde begann damals eine Neuordnung, die Erde strukturierte sich um. Das hat sie übrigens immer mal wieder gemacht, in riesigen Zeitabständen. Und vor einigen hundert Jahren war es eben mal wieder so weit. Kannst du dir vorstellen, Effel, dass deine Heimat einmal eine Insel war, und weißt du, warum sie das heute nicht mehr ist?«

»Ja, ich weiß das von Mindevol, der es übrigens ähnlich erklärt hat wie du, Perchafta. Durch die Verschiebung von Erdplatten, stimmts?«

»Genau, Effel. Weißt du übrigens, dass bei solchen Phänomenen wie Erdbeben, Flutwellen oder Stürmen kaum wild lebende Tiere ums Leben kamen? Nur Tiere, die von Menschen an Leinen oder in Ställen gehalten wurden?

Die Tiere haben die Zeichen, die solchen Ereignissen immer vorausgehen, besser deuten können und sich in Sicherheit gebracht.

Wirklich gelitten haben nur die Menschen darunter. Ich glaube aber, dass wir gar nicht so differenzieren müssen, Effel, denn wenn es diesen Schöpfer gibt, wovon ich übrigens auch ausgehe, dann ist dieser Schöpfer ja in Allem und gleichzeitig ist er Alles, also auch in euch Menschen, auch in dir, in Sam, in jedem Blatt, das hier wächst, in jedem Vulkanausbruch, in jedem Erdbeben und in jeder Flutwelle.«

»Aber warum hat die größte Katastrophe, das Seebeben im früheren Asien, gerade die ärmsten Länder heimgesucht? Ist die Natur, oder der Schöpfer, nicht immer gerecht? Wo war denn Gott da?«

Effel war gespannt, ob der Krull auch darauf eine Antwort wüsste.

»Glaubst du wirklich, dass der Schöpfer sich mit solch menschlichen Wertmaßstäben wie gerecht oder ungerecht messen lässt? Sagt ihr nicht auch, dass Gott unermesslich ist? Und was ist schon gerecht? Ist das nicht Sache des Standpunktes? Nein, Effel, ich glaube, er hat den Menschen in seiner Güte und Liebe wieder einmal eine Chance gegeben, einen Wink. Auch damals in Asien. Wenn er auch einen Zaunpfahl dazu genommen hat.«

Perchafta hatte Effels erstaunten oder auch fragenden Gesichtsausdruck durchaus bemerkt.

»Ja Güte, Effel, dadurch, dass er dieses Unglück dort hat geschehen lassen, wo es geschah, gab er den reichen Ländern Gelegenheit, sich zu besinnen und zu helfen. Das meine ich mit Güte. Das Seebeben geschah in einem der beliebtesten Urlaubsgebiete weltweit. Zu einer Zeit, da sehr viele Menschen aus allen erdenklichen Ländern dort ihren Urlaub verbrachten.

Er wählte für dieses Ereignis einen der höchsten religiösen Feiertage der Christen und die meisten Menschen der damaligen Industrienationen waren Christen. Durch diese Flut waren alle Länder durch ihre zahlreichen Opfer direkt betroffen.

Es entstand die größte weltweite Hilfsaktion aller Zeiten. Eine beispiellose Hilfe lief innerhalb weniger Stunden an. Auch logistisch eine Meisterleistung. Durch dieses Beben wurden die Menschen auf der Erde vereint, viele haben ihre Herzen geöffnet und viele wurden angeregt, über ihre Werte nachzudenken.

Außerdem bekamen Umweltschutz und Klimaerwärmung einen neuen Stellenwert. Die Welt war für einige Wochen vereint.

Was wäre wohl geschehen, Effel, wenn das gleiche Unglück in den reichen Ländern geschehen wäre? Der damalige Mittelmeerraum galt seit langem als besonders gefährdetes Gebiet, gerade für Erd- und Seebeben mit ihren furchtbaren Tsunamis.

Es hätte sich kaum jemand wundern können, wenn dort eine Flut gekommen wäre. Und Europa gehörte damals zu den reichen Gebieten der Welt. Ich sage dir, warum. Es wäre schon damals das Ende gewesen.

Denn die armen Länder hätten nicht in diesem Umfang helfen können, wenn überhaupt. Außerdem darfst du den religiösen Aspekt nicht vergessen. Die meisten Menschen in der Unglücksregion glaubten an ein Karma, also an eine Art Schicksal.

Dieser Glaube ermöglicht es einem viel eher, solche Dinge hinzunehmen, zu akzeptieren, als wenn man auf einen ungerechten Gott schimpft oder glaubt, für seine Sünden bestraft zu werden. Gott hat nie gestraft, das können die Menschen ganz gut selbst. Aber Religion ist ein Thema für sich, Effel, lass uns darüber ein anderes Mal sprechen, wenn du magst.«

»Ja gerne«, erwiderte Effel auf den Vorschlag, »lass uns darüber reden, auch über Schicksal, denn daran glaube ich auch.«

»Die Menschen haben dort gemeinsam alles wieder aufgebaut, schöner und sogar in relativ kurzer Zeit.«

 

»Ja, ich habe alles darüber gelesen, Perchafta. In unseren Geschichtsbüchern wird dies ja als größte Katastrophe der Menschheit ausführlich beschrieben. Es sollen weit mehr als 300000 Menschen den Tod gefunden haben.«

»Es waren mehr, aber viele wurden nie gefunden, weil das Meer sie mitgenommen hatte. Deswegen tauchten sie in keiner der offiziellen Listen auf, so steht es jedenfalls bei uns geschrieben. Der Schöpfer hat also auch damals ein Zeichen gesetzt und viele Menschen haben das auch verstanden. Sie haben gesehen und erkannt, dass die Welt eins ist, dass man sie gar nicht teilen kann. Sie hätten es auch ohne dieses Unglück wissen können, denn wenn sie aus ihren Satelliten auf die Erde geschaut haben, konnten sie keine Grenzen sehen.

Leider hat es nicht sehr lange angehalten, dann setzten sich wieder die individuellen Machtinteressen der einzelnen Länder durch. Schon zwei Wochen später diskutierten die Politiker über die großzügigen Spenden und missbrauchten dies sogar für ihre Wahlkämpfe. Aber auch schon während des Unglücks zeigten einige Menschen ihr wahres Gesicht. Ohne Rücksicht und Respekt wurden die Toten beraubt, Häuser, soweit sie noch standen, wurden geplündert. Kannst du dir vorstellen, dass es Leute gab, die einige Tage nach dem Unglück wieder dort Urlaub machten und aus ihren Liegestühlen die Aufräumarbeiten beobachteten? Also es kann niemand sagen, die Menschen hätten ihre Chancen nicht gehabt. Du siehst, Effel es musste einfach so kommen, wie es dann gekommen ist.«

»Interessant, dass du das alles auch als Chance betrachtest. Ich kenne jemanden, der sieht es ähnlich. Aber von welchem Plan sprichst du da, Perchafta?«

»Wenn die Menschen so weit sind, wird sich dieser Plan ihnen offenbaren. Komm, lass uns weitergehen.«

Am Nachmittag kamen sie an Kirschbäumen vorbei. Die Äste bogen sich schwer von den reifen Früchten. Stare, die sich an den Kirschen gütlich getan hatten, flogen verärgert auf. Sie würden später wiederkommen.

Perchafta brauchte nur eine Handvoll davon zu essen, um satt und zufrieden dreinzuschauen. Aber auch für Effel war genug da. Nach diesem süßen Genuss setzten sie sich unter den größten Baum und Effel hatte wieder nur einen Blick für die zauberhafte Landschaft.

»Komm, lass uns weitergehen«, meinte Perchafta nach einer Weile, »und erzähle mir von diesem Schtoll, Effel. Du hast doch eine Zeit lang mit ihm verbracht?«

Effel wunderte sich nicht mehr über das, was dieser Krull alles zu wissen schien, und erzählte.

»Schtoll wohnte damals im Haus des Korbmachers Sendo und dessen Frau Balda. Die beiden hatten genügend Platz, denn sie haben keine Kinder bekommen. Das Besondere am Hause Sendos aber ist eigentlich der Garten, den müsstest du mal sehen, Perchafta. Bei schönem Wetter sitzt Sendo bei der Arbeit zwischen all den bunten Blumen und unterhält sich mit den Bienen und den Schmetterlingen, so wie du vorhin.

Manche Leute halten ihn ja für schrullig, ich aber glaube, dass er einfach besonders ist. Man kann sich mit ihm gut unterhalten.

Nach dem Vollmondfest, bei dem sie sich gleich angefreundet hatten, hatte Sendo Schtoll eingeladen bei ihnen zu wohnen, solange er wolle. Da ja Winter war, hat Schtoll zunächst nicht viel von dem Prachtstück um das Haus seiner Gastgeber gesehen, sondern erst später, denn er blieb bis zum Mai.

Ich war mit Schtoll viel unterwegs, um ihm die Heimat zu zeigen. Bei unseren Wanderungen oder bei der Jagd hatte ich Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen. Er wies mich auch in den Umgang mit seiner Armbrust ein und ich bin ein ganz guter Schütze geworden. Schtoll beneidete uns um den Wildreichtum der Wälder, er war ein guter Jäger, wenn er auch noch nie im Schnee gejagt hat. Er war ganz fasziniert, wie einfach es zum Beispiel im Schnee ist, die Spuren zu verfolgen. Er hatte auch noch nie Schneeschuhe gesehen und wünschte sich, sie schon bei seiner Hinreise gehabt zu haben. Es war sicher eine enorme Leistung, ohne diese hilfreichen Geräte zu uns zu gelangen.

Sein Heimatland weit unten im Süden muss, seinen Berichten nach, karger, schroffer und sehr unwirtlich sein. Raue Winde und die Glut der Sonne hätten das Gesicht seines Landes geformt, meinte er einmal. Vor vielen hundert Jahren sei sein Land von riesigen Regenwäldern bedeckt gewesen, wie er wusste. Man konnte merken, dass er seine Heimat liebte wie ich meine. Er erzählte mir von einer langen Trockenheit, die einem großen Teil seines Volkes das Leben gekostet hatte. Das muss schrecklich sein und ich hoffe, sie haben inzwischen auch wieder Regen gehabt. Irgendwann werde ich ihn dort besuchen.

Als Sohn eines alten Fürstengeschlechts fühlte er sich für sein Volk verantwortlich und machte sich eines Tages auf den Weg, die Ursache für diese lang anhaltende Dürre zu finden. So kam er durch viele Länder und lernte deren Völker kennen. Das, was er von seiner Reise berichtete, war für mich unendlich interessant und es erinnerte mich manchmal an die Erzählungen meines Großvaters. Ich selbst war ja bisher nie weiter aus meiner Heimat herausgekommen. Aber das soll ja vielleicht jetzt anders werden.«