Steine brennen nicht

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Da Effel heute, am zweiten Tag seiner Reise, ein gutes Stück vorankommen wollte, machte er einen Bogen um das Dorf. Das leichte Grummeln in seiner Magengegend ignorierte er. Es war inzwischen so warm, dass er froh war, am Waldrand ab und zu etwas Schatten zu finden. Sam lief, wie meist, ein Stück voraus.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, nur seine Flanken bewegten sich im Rhythmus des Atems. Effel stutzte und näherte sich langsam.

Das, was die Aufmerksamkeit des Hundes erregte, schien aus dem Wald zu kommen oder aus dem Gebüsch, nahe beim Weg.

Jetzt war auch Effel angelangt, aber so sehr er sich bemühte, erkennen konnte er nichts. Sam hatte sich flach hingelegt, die Schnauze auf der Erde, heftig mit dem Schwanz wedelnd, begleitet von diesem Laut, den man bei Menschen sicher als Lachen bezeichnen würde. Er schien sich unbändig zu freuen.

Effel ging in die Hocke und beschloss, geduldig zu sein.

Irgendwann einmal war ihm klar geworden, dass er weniger sah, wenn er sich anstrengte, etwas »Verborgenes« zu sehen. Auch wusste er, dass Tiere Dinge wahrnehmen konnten, die für ihn selbst unsichtbar waren. Sie konnten sogar die Naturgeister sehen und sich mit ihnen in einer Sprache verständigen, die die Menschen verloren hatten.

Effel beneidete die Tiere um diese Gabe. Mindevol hatte einmal gesagt, dass auch die Menschen diese Fähigkeit besäßen, sie hätten nur verlernt sie zu nutzen.

Kapitel 4

Mit zwölf Jahren wusste Nikita, dass sie beruflich einmal etwas mit Menschen zu tun haben wollte. Ihrer Mutter war schon wesentlich früher aufgefallen, dass sich ihre Tochter sehr für das Verhalten von Menschen interessierte. Eine der häufigsten Fragen ihrer aufgeweckten Tochter war: »Mama, warum macht der das?«

Da sie sehr geduldig war, bemühte sie sich stets, ihrer Tochter alle Fragen zu beantworten und Nikita hatte viele Fragen.

Heute war sie ihrer Mutter dankbar, dass sie sie nie gebremst hatte, sondern im Gegenteil, sie durch ihre Antworten noch neugieriger gemacht hatte. Später, als sie dann in die Schule ging, wurden Psychologie und Physik ihre Lieblingsfächer. Ihr Vater hatte sich zwar gewünscht, dass seine Tochter, wie er selbst, eine politische Laufbahn einschlagen würde, musste aber bald einsehen, dass er gegen seine willensstarke Nikita keine Chance hatte. Er war sehr stolz auf sie, ja, es gab Leute, die behaupteten, er vergöttere seine Tochter. Er versäumte es selten, vor seinen Freunden mit ihren Leistungen anzugeben.

Im Alter von 14 Jahren schickten ihre Eltern sie nach Sells. Dort war die beste Schule für Hochbegabte und Nikita schaffte die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit. Da die Schule 200 Meilen von Ihrem Heimatort entfernt war, wohnte sie in dem angeschlossenen Internat. Sie sah ihre Eltern von nun an nur einmal im Monat für ein Wochenende, denn man legte in Sells Wert darauf, dass die Schüler auch an den schulfreien Tagen an Weiterbildungen teilnahmen. Das musste man in Sells allerdings keinem Schüler ans Herz legen. Wer hier war, lernte gerne. Sowohl das Freizeit- als auch das Sportangebot im Internat waren abwechslungsreich. Jeder erlernte während seiner Schulzeit mindestens auch ein Musikinstrument und die meisten Schüler taten sich außerdem in einer Sportart besonders hervor. Nikitas Lieblingssportart war damals schon Golf, obwohl sie sicher auch eine gute Leichtathletin geworden wäre. Sie galt als außerordentliches Talent und einer Profikarriere hätte bestimmt nichts im Weg gestanden. Jede freie Minute verbrachte sie auf dem Golfplatz.

Dennoch hatte sie sich so manches Mal gewünscht, mehr Kontakt zu ihren Eltern gehabt zu haben. Besonders ihre Mutter fehlte ihr, die auch für die kleinen Alltagssorgen ihrer Tochter ein offenes Ohr hatte und immer für sie da gewesen war. Nikita war zwar immer von Freundinnen umgeben und sie hatte mit 16 Jahren auch ihren ersten Freund, aber wenn sie von Chelsea hörte, was diese alles mit ihren Eltern unternommen hatte, wurde ihr klar, dass sie etwas vermisste. Das Familienleben der Ferrers hatte sich seit Sells auf die Schulferien konzentriert. In ihrem Ferienhaus am Lake Mountin wurde dann versucht, alles nachzuholen. Sie unternahmen Bootstouren, sie ging mit ihrem Vater auf die Jagd und mit ihrer Mutter zum Golf spielen, die Tage waren ausgefüllt und unbeschwert.

Chelsea sah das ganz anders: »Ich wäre froh gewesen, in solch einer Schule zu sein mit den ganzen Freiheiten dort. Glaubst du, es war ein Vergnügen, jeden Abend erklären zu müssen, wo man war, mit wem und warum?«

»Wahrscheinlich vermisst man immer das, was man nicht hat«, dachte Nikita während solcher Gespräche oft.

Niemand war überrascht, dass Nikita einen exzellenten Abschluss an der Universität machte. Einer glanzvollen beruflichen Karriere stand nichts mehr im Weg. Die Idee, Profigolferin zu werden, hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst.

Immer nur Golf zu spielen war ihr dann doch zu eintönig gewesen. Es ging ihr auch gegen den Strich, dass Golfer scheinbar nur ein Thema kannten, über das sie sich unterhielten, nämlich Golf.

Einige Firmen, die ihre Scouts an die Eliteuniversitäten schickten, waren schon während des Studiums an sie herangetreten und hatten ihr lukrative Angebote gemacht. Da sie alles Berufliche mit ihren Eltern besprach, konnte ihr Vater auch dazu raten, das Angebot von BOSST anzunehmen. Als Senator wusste er, dass BOSST schon viele Regierungsaufträge bekommen hatte. Manche Senatoren munkelten hinter vorgehaltener Hand, dass es sich bei BOSST sogar um ein regierungseigenes Unternehmen handelte.

»Da hast du einen sicheren Arbeitsplatz und eine Herausforderung dürfte es für dich auch sein«, meinte er. »Ein Unternehmen wie BOSST wird nicht untergehen und wenn du einmal Schwierigkeiten bekommen solltest, kannst du mir Bescheid geben.«

»Papa, du weißt genau, dass ich es selber schaffen will und mich nie auf deine Beziehungen verlassen würde. Außerdem, warum sollte es bei einem Unternehmen, das so im Licht der Öffentlichkeit steht, Schwierigkeiten geben? Zählt BOSST nicht zu den erfolgreichsten und sozialsten Unternehmen aller Zeiten?«

Eine Woche später hatte Professor Rhin sie überzeugt.

»Ich hätte sie gerne in meinem Team, Frau Ferrer«, hatte er ihr damals bei einer Tasse Kaffee im Restaurant der Firma gesagt.

Sie war einer Einladung von BOSST gefolgt. Man hatte zehn Erfolg versprechende Absolventen der Universität eingeladen, sich das Unternehmen anzuschauen. Jeder sollte die Gelegenheit haben, sich unverbindlich über die Arbeitsbedingungen vor Ort zu informieren. Die waren allerdings so bekannt, dass man sich alleine deswegen schon bemühen musste, für dieses Unternehmen zu arbeiten. Die jungen Leute wurden selbstverständlich ständig beobachtet.

Da man nur Leute einstellte, die vorher genauestens ausgesucht worden waren, gab es keine fest vorgeschriebenen Arbeitszeiten. Wer für BOSST arbeitete, war ohnehin mindestens zwölf Stunden anwesend. Man stellte nur Menschen ein, von denen man wusste, dass Arbeit die höchste Priorität in deren Leben hatte. Außerdem zahlte man überdurchschnittlich und Mitarbeiter der Firma konnten sich zahlreicher anderer Vergünstigungen erfreuen, zu denen auch manchmal eine Wohnung im Crusst-Tower gehörte. Auf dem Firmengelände gab es Sport- und andere Freizeitmöglichkeiten und in den exklusiven Ruheräumen mit ihren Hologrammen konnte man jede nur erdenkliche Illusion erzeugen. In den firmeneigenen Restaurants wurden auch die anspruchvollsten Gaumen verwöhnt. Eigentlich brauchte man als Mitarbeiter das Firmengebiet gar nicht zu verlassen und es gab sicherlich einige, die das auch nicht taten.

»Warum ausgerechnet mich, Herr Professor?« hatte Nikita gefragt.

»Weil Sie gut sind, Frau Ferrer. Sie sind gut. Ich habe Ihre Diplomarbeiten gelesen und mir hat gefallen, wie sie die Dinge anpacken. Sie haben den Mut, neue Wege zu gehen, und haben nicht, wie die meisten ihrer Kommilitonen, nur den anerkannten Kapazitäten nachgeplappert. Sie haben eigene Ideen, Nikita, das gefällt mir. Sie haben eben nicht nachgedacht, im Sinne von jemandem hinterherdenken, sondern Sie können selbst kreativ und innovativ sein.« Professor Rhin schenkte Kaffee nach.

»Und Sie fanden es nicht unqualifiziert oder überheblich? Professor Snyder hat einmal gesagt, ich solle auf dem Teppich bleiben. Ich hatte ihm damals zu spontan geantwortet, dass es wohl keine großen Entdeckungen gegeben hätte, wenn alle Menschen auf dem Teppich geblieben wären. Mich muss der Teufel geritten haben. In der nächsten Klausur verpasste er mir dann eine Drei minus.«

»Ja, ja der gute Snyder«, Professor Rhin schmunzelte, »ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die eigentlich als weise und maßgeblich gelten, sich gleichzeitig als hemmend für die Fortentwicklung ihrer Gesellschaft erweisen können? Einmal zu »Experten« ernannt, scheint es ihnen häufig unmöglich, ihr vermeintliches Wissen weiterhin in Frage zu stellen. Warum neigen Menschen zu festen Überzeugungen oder Vorurteilen und scheuen den Zweifel? Nein, Frau Ferrer, ich fand Ihre Ideen überhaupt nicht überheblich. Ich glaube nämlich auch, dass man im Ätherkörper oder der Aura des Menschen alle Informationen bezüglich seines Charakters, seiner Neigungen oder Handlungen lesen kann. Besonders gefallen hat mir, dass Sie der Meinung sind, dass auch alle zukünftigen Handlungen eines Menschen bereits festgelegt sind und dort sichtbar gemacht werden können. Das denke ich nämlich auch, obwohl dies sicher nicht sehr populär ist, wo wir doch so stolz auf unseren vermeintlich freien Willen sind. Ich möchte offen zu Ihnen sein, Frau Ferrer. Wir arbeiten an der Entwicklung eines Gerätes, einer Art Brille, mit der es möglich sein soll, diese Informationen auch ablesbar zu machen. Mit der Kirlianfotografie war man seinerzeit schon auf einem guten Weg, hat aber nicht alle Möglichkeiten erkannt. Die wären damals allerdings technisch auch noch nicht umsetzbar gewesen.«

 

»Wow, ein Gerät, das es dem Nutzer ermöglicht, seine Mitmenschen quasi seelisch zu durchleuchten? Ist das nicht gefährlich, Herr Professor, könnte damit nicht ungeheurer Missbrauch getrieben werden?«

»Nur, wenn es in die falschen Hände kommt, Nikita, oh Pardon, Frau Ferrer. Außerdem sollten wir das doch lieber der Politik überlassen, zu entscheiden, wer etwas nutzen darf und wer nicht, meinen Sie nicht auch? Ist Ihr Herr Vater nicht in der Politik? Senator sogar, wenn ich mich nicht irre?«

»Nennen Sie mich ruhig Nikita, Herr Professor, Frau Ferrer klingt so alt. Ja, mein Vater ist Senator. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich ebenfalls eine politische Laufbahn eingeschlagen. Ich bin aber kein Verwaltungsmensch und besonders diplomatisch bin ich auch nicht, wie Sie an der Geschichte mit Professor Snyder erkennen können.«

»Welch Verlust für die Wissenschaften! Mir gefällt Ihre Selbsteinschätzung, Nikita.« Professor Rhin trank den Rest seines Kaffees in einem Zug aus. In seiner Stimme schwang keine Ironie mit, sondern ehrliche Überzeugung. Das mochte Nikita und machte sie auch ein bisschen stolz.

»Meinen Sie nicht auch«, fuhr Professor Rhin fort, »dass wir uns selbst Handschellen anlegen würden, wenn wir vorher jedes Mal überlegen müssten, wer Nutznießer unserer Entwicklungen sein darf und wer nicht? Unsere Aufgabe ist die Forschung, nicht die Politik.«

»Ja, es ist ungefähr das Gleiche wie mit den Teppichen.« Beide mussten lachen und als Nikita an diesem Abend nach Hause fuhr, wusste sie, dass es etwas zu feiern gab.

Wenn sie, so wie an diesem Morgen, in ihrem Automobil saß, bewunderte sie immer wieder den reibungslosen und zügigen Verkehrsfluss. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es früher für die Menschen gewesen sein mochte, als man fast alles selber machen musste um vorwärts zu kommen, und dazu noch im Schneckentempo. Es war kein Wunder, dass damals so viele Menschen im Straßenverkehr ums Leben gekommen waren.

Der menschliche Wahrnehmungsapparat mit seinem begrenzten Reaktionsvermögen war eigentlich gar nicht geschaffen für all die komplizierten Vorgänge. Heute war man um ein Mehrfaches schneller unterwegs. Computer und intelligente Roboter konnten das viel besser und man hatte auch dadurch mehr Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens, zum Beispiel seine Arbeit oder Hobbys.

»In meinem Fall habe ich wohl eher Zeit für die Arbeit«, dachte sie bei sich. »Aber ich wusste ja, worauf ich mich einließ, als ich bei BOSST anfing. Die Firma ist schließlich nicht als Sanatorium bekannt. Wenn ich erst einmal richtig drin bin, werde ich auch wieder öfter zum Golfen kommen. Was soll’s, da muss ich wohl durch. Wie sagt Mama? Augen zu und durch. Besser ist es wohl mit offenen Augen«, verbesserte sie im Stillen ihre Mutter.

Schwer vorstellbar war für sie auch, wie es wohl früher gerochen haben musste, als die Automobile noch mit Hilfe von Verbrennungsmotoren liefen. Von den Auswirkungen auf die Umwelt einmal ganz abgesehen, die ja bekanntermaßen verheerend gewesen waren.

Dass der menschliche Körper selbst Energie produzierte, wusste man schon lange. Sehr viele Prozesse im menschlichen Organismus spielen sich auf der Basis elektrophysiologischer Vorgänge ab. So unter anderem die Leitung und Verarbeitung von Informationen in den Nerven oder die Kontraktion der Muskeln. Auch die Kontraktionen des Herzens und damit der Blutausstoß beruhen auf elektrophysiologischen Vorgängen.

Nikita erinnerte sich, gelesen zu haben, dass ein Forscher namens Galvani das Phänomen schon 1791 entdeckt und ihm den Begriff »Tierische Elektrizität« gegeben hatte.

In der Mitte des 21. Jahrhunderts hatten die Forschungen auf diesem Gebiet einen neuen Höhepunkt erreicht. Computerspezialisten war es gelungen, einen PC zu bauen, der seine Energie durch die Photosynthese eines Baumes erhielt.

Aber erst im vorletzten Jahrhundert war es einem Wissenschaftler und Mitarbeiter der asiatischen Niederlassung von BOSST gelungen, die Kraftquelle Mensch für den Antrieb von Automobilen zu nutzen. Der Fahrer selbst und natürlich auch seine Beifahrer produzierten die Energie praktisch zum Nulltarif. In der gesamten Bandbreite der Elektrophysiologie lieferten die Forschungsteams von BOSST und ihre interdisziplinären Aktivitäten wesentliche Beiträge, nicht nur diesen.

Nikita genoss die Momente in ihrem Wagen. Sie fühlte sich wie auf einer kleinen Insel, denn alle Kommunikationsinstrumente ließen sich auch abschalten, sodass man einfach nur chauffiert wurde und sich ausruhen konnte.

Heute hatte sie ein komisches Gefühl, irgendetwas lag in der Luft. Etwas Entscheidendes, wie ihr das bekannte Kribbeln in ihrer Magengegend sagte. Sie hatte manchmal solche Vorahnungen, die sich dann meist auch bestätigten. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte sie diese Gefühle, manchmal auch mit Visionen verbunden, sogar noch viel ausgeprägter. Im ersten Schuljahr wurde sie von ihren Mitschülern deswegen ausgelacht und auch von ihren Lehrern bekam sie keine Unterstützung, sondern eher noch abfällige Bemerkungen.

Danach wurden diese Empfindungen seltener. In der Pubertät hatte sie »ihre Anwandlungen«, wie sie es inzwischen selbst nannte, wieder öfter. Sie hatte sogar manchmal am helllichten Tag regelrechte Albträume, während denen sie auch nicht ansprechbar war. Todschlecht war ihr oft dabei, manchmal bis zum Übergeben. Diese Erfahrungen waren für sie schon traumatisch, da sie ein Eigenleben zu entwickeln schienen und drohten, zu Dämonen zu mutieren.

Nachdem sie das erste Mal mit einem Jungen geschlafen hatte, hörte es in dieser Intensität schlagartig auf und reduzierte sich auf Vorahnungen wie eben dieses Kribbeln in der Magengegend.

Sie war dankbar dafür. Sonst gab es keine Veranlassung, gerne an dieses »erste Mal« zurückzudenken, aus dem die meisten ihrer Freundinnen ein Riesentheater gemacht hatten.

Pete Johnson hieß er, war zwei Jahre älter als sie und der Baseballstar der benachbarten Schule. Alle Mädchen flogen auf Pete und auch Nikita hatte sich schließlich von seinem umwerfenden Charme einfangen lassen. Sie war ihm gegenüber anfänglich sehr reserviert gewesen, was ihn anscheinend besonders motiviert hatte. Er bemühte sich rührend um ihre Aufmerksamkeit und am Ende hatte er sie tatsächlich erobert.

Manche Mädchen platzten vor Neid. Nach einer der seltenen Partys auf Sells waren sie ziemlich beschwipst in seiner Bude gelandet. Beide hatten sich Mut angetrunken, denn auch für ihn war es das erste Mal, was sie nie gedacht hätte. Wohl aber, nachdem alles sehr schnell vorbei war. Sie traf sich noch ein paar Mal mit ihm, erkannte allerdings bald, dass sein Hauptinteresse dem kleinen Lederball galt. Da sie nicht als sein Maskottchen enden wollte, gab sie ihm nach zwei Wochen den Laufpass, was bei einigen Freundinnen auf großes Unverständnis stieß. Der nächste Mann, auf den sie sich körperlich einließ, war Jan und sie hatte gleich bedauert, dass er nicht der Erste gewesen war.

Mit den Vorahnungen konnte sie leben und erzählen musste sie ja auch niemandem davon. Was konnte Professor Rhin nur von ihr wollen?

Kapitel 5

Anfangs war es für Effel schwierig gewesen, sich so zu »versenken«, wie Mindevol es ihm beibrachte. Mit den ersten Erfolgen begann es, Spaß zu machen. Gleichzeitig erfüllte es ihn mit Ehrfurcht und Staunen. Er erinnerte sich noch genau daran, als er zum ersten Mal einen Bodach sah, einen jener Kobolde, die gerne in Kaminen leben. Es war zwar ein sehr vorwitziger Kobold gewesen, der es Effel leicht gemacht hatte, aber es war eine wundervolle Bestätigung für Mindevols Lehren.

Nun, Sams Blick folgend, versenkte sich Effel wie er es gelernt hatte. Sein Blick schien ins Leere zu gehen, wurde in Wirklichkeit aber weiter. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.

Die Konturen der Blätter und Zweige wurden unscharf. Sie verschwammen fast vor seinen Augen und die Geräusche des Waldes traten in den Hintergrund.

»Du musst zwar noch üben, aber es klappt schon ganz gut«, hörte er eine Stimme sagen.

Obwohl er nicht schreckhaft war, musste er doch unwillkürlich zurückzucken. Er behielt aber die Balance, schob ein paar Zweige zur Seite und streckte den Kopf noch etwas weiter vor.

Was er vernahm, hörte sich eher wie das Rascheln von Blättern an und doch waren deutliche Worte zu verstehen.

Plötzlich sah Effel den Eigentümer dieser seltsamen Stimme. Es war ein Krull, ein Wesen, nicht viel größer als 50 cm. Effel erkannte ihn, weil Mindevol diese Wesen oft genug beschrieben hatte. Soweit bekannt war, gehörten die Krulls zur Gattung der Gnome, wurden sehr, sehr alt und waren Wanderer zwischen den Welten. Manche Leute sprachen ihnen magische Kräfte zu, andere wieder behaupteten, sie seien hässlich, würden in Höhlen hocken und Schätze bewachen. Krulls hatten angeblich Verbindung zu den unterschiedlichsten Bewusstseinsstufen und konnten andere führen, wenn diese bereit dazu waren. Das wusste Effel ebenfalls von Mindevol. Sonst war von diesen Wesen relativ wenig bekannt, da sie als scheu galten und sich noch lange nicht jedem zeigten. Mindevol war zwar mit einigen von ihnen befreundet, nur hatte er nie so recht mit der Sprache herausgerückt, wenn man ihn nach diesen Freunden fragte. »Sie möchten nicht, dass man über sie redet«, sagte er, »und ich respektiere das.«

Der Krull sah gleichzeitig lustig und ernst aus, hässlich aber war er nicht.

»Vielleicht liegt es daran, dass nur seine Augen lachen«, dachte Effel. Die Augen waren das Besondere. Aber auch das Gesicht passte in seine Vorstellungen von jemandem, der magische Kräfte besaß.

Er mochte mittleren Alters sein, so um die 120 Jahre vielleicht. Sein braunes Haar war schulterlang und wurde dann und wann von einer feinen silbernen Strähne durchzogen. Klare, smaragdgrüne Augen und eine freundliche Stupsnase machten ihn für Effel sofort sympathisch. Er trug ein grünes Wams, braune Stiefel und eine ockerfarbene Hose.

»Die Farben des Herbstwaldes«, schoss es Effel durch den Kopf.

Er saß ganz ruhig auf einer Wurzel, die Arme um seine Knie geschlungen, und sah Effel freundlich an.

»Wenn du ein wenig übst, Effel, so wirst du uns sehen können, ohne alles andere unscharf zu sehen. Wir gehören zu dieser Welt wie die Blumen und die Bäume, wie die Tiere und die Menschen. Wie alle Wesen wirken auch wir mit am Rad des Geschehens. Dein Hund ist aber sehr stürmisch.«

»Oh, entschuldige bitte«, Effel zog Sam zu sich heran. Dieser legte sich auch sogleich hin.

»Woher kennst du meinen Namen?«

»Na bist du nicht der junge Mann aus Seringat? Der Mann, auf dem so viele Hoffnungen ruhen? Der Mann, der ausgesandt wurde? Das hat sich herumgesprochen. Wir Krulls kennen die Namen aller Suchenden, denn wir können auf ihren Reisen wichtige Wegweiser und Begleiter in die anderen Welten sein.

Aber das ist nur eine unserer Aufgaben.« Das hatte er ohne jeden anmaßenden Unterton gesagt.

»Heißt das, du hast hier auf mich gewartet, du wusstest, dass ich heute hier vorbeikommen würde?« Effel war sehr erstaunt. Was wusste dieser Krull noch alles über ihn? Während er sich diese Frage stellte, versuchte er sich aus den Einzelheiten dieser merkwürdigen Begegnung ein vernünftiges Bild zu machen.

Aber noch ergab es für ihn keinen Sinn.

»Heute oder morgen, was spielt das für eine Rolle? Ich wusste, dass du kommst. Das hat aber nichts mit übersinnlicher Wahrnehmung zu tun, wie du jetzt vielleicht denken magst, sondern es liegt an unserem gut funktionierenden Nachrichtensystem.

Seit deiner Abreise, von der uns Mindevol natürlich in Kenntnis gesetzt hat, wirst du begleitet, denn diese Mission geht auch uns etwas an. Aber das hat er dir doch erklärt, oder?« Der Krull gab sich keine Mühe, sein Vergnügen über Effels Verwirrung zu verbergen.

»Ja, so etwas hat er tatsächlich gesagt, aber ich habe es wohl anders verstanden«, gab Effel zu. Er hatte sich vorgebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, konnte er den Krull gut erkennen.

»Mein Name ist Perchafta«, fuhr der Krull fort. »Ich erwähne das aus Höflichkeit, auch weil es Einiges vereinfacht. Es kann sein, dass du dich manchmal an meinen Namen erinnern möchtest oder sogar musst.«

»Perchafta, schon oft habe ich von den anderen Welten gehört und nun treffe ich dich hier. Da ich schon lange nicht mehr an Zufälle glaube, vermute ich, dass ich eine der Welten betreten soll und du mir dabei helfen kannst.«

 

Sein Bild wurde allmählich klarer.

»Nun, wie gesagt, es ist nur eine unserer vielen Aufgaben, aber da du mich so direkt danach fragst - ja, ich kann dir helfen, in eine andere Welt zu gelangen, bei der Erfüllung dieser Mission wirst du nicht daran vorbeikommen, schätze ich.«

Mit diesen Worten erhob sich Perchafta und war in Kopfhöhe mit Sam, der immer noch dalag und zuzuhören schien.

»Ganz so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst, wird es allerdings nicht, obwohl du den Schlüssel besitzt.«

»Ich soll den Schlüssel dazu haben? Treibst du Schabernack mit mir, Perchafta?« Sein Staunen stand ihm deutlich im Gesicht.

»Schabernack treibe ich nur mit meinesgleichen. Nein, Effel, dein Entschluss wird zum Schlüssel. Indem du dich zu etwas entschließt, egal zu was, öffnest du dir die erste Tür dorthin, so einfach ist das «, und leiser fügte er hinzu, »und auch so schwierig.«

Aus seiner Rocktasche zog Perchafta ein kleines, kunstvoll geschnitztes Pfeifchen hervor. Er stopfte es sorgfältig und steckte mit einem winzigen Schwefelholz den Tabak langsam in Brand. Nun sog er genießerisch an dem Mundstück. Ein süßer Duft stieg Effel in die Nase.

»Genau wie Malu«, dachte Effel, »sagt etwas und raucht dann erst mal ein Pfeifchen.« Als wenn Perchafta seine Gedanken gelesen hätte, deutete er auf die Tabakspfeife: »Es ist erstklassige Elfenarbeit, du findest nirgendwo eine bessere, das kannst du mir glauben.«

Die Schnitzerei war wirklich schön. Die Pfeife war aus Kirschholz gefertigt und das Mundstück aus Bernstein. Effels Gedanken kreisten um den Schlüssel, den er haben sollte, um seinen Entschluss.

»Nun, was überlegst du?« Perchafta sprach etwas undeutlich, weil er gleichzeitig rauchte. Aus dem Tonfall der Stimme glaubte Effel etwas Drängendes zu hören.

»Das weiß ich selbst nicht genau«, erwiderte er, »vielleicht wäre es gut, wenn ich mehr über diese Anderen Welten wüsste, bevor ich mich auf das Abenteuer einlasse.« Gleichzeitig wunderte sich Effel, wie schnell er es gelernt hatte, Perchaftas Stimme zu verstehen.

»Das weiß niemand, der diese Welten betritt, denn es gibt keine Karten davon, und wenn, könntest du nichts damit anfangen, denn eine Karte ist nie die Landschaft, die sie versucht darzustellen.

Außerdem können sich Landschaften verändern, Karten aber nicht. Dir bleibt also nichts anderes übrig, als selbst nachzusehen und dir dein eigenes Bild zu machen.«

Es war zum Verzweifeln, aus diesem Krull war anscheinend nicht viel herauszubekommen. Was Effel da noch nicht wusste war, dass die Krulls zu den weisesten Geschöpfen auf dieser Erde gehören. Solche Leute sagen nie viel und vor allem nicht das, was man von ihnen erwartet.

»Eines kann ich dir versichern«, fuhr Perchafta fort, »wenn du einmal eine dieser Welten betreten hast, wirst du immer wieder hineingehen wollen und teilweise lange dort bleiben, zumindest wird es dir so vorkommen. Für den guten Ausgang deiner Mission wirst du es tun müssen. Diese Welten, die ihr die »Anderen Welten« nennt, haben ihre eigenen Dimensionen.

Das Einzige, was ich für dich tun kann und darf, ist, dich auf dem Weg zu begleiten.«

»Wenn du mitgehst, ist es für mich bestimmt viel einfacher.« Effel war begeistert, er wäre nicht alleine und er hätte Hilfe. Das konnte er jetzt schon ahnen.

»Halt, nicht so stürmisch«, wurde er gleich gebremst, »meine Hilfe wird ausschließlich die Begleitung sein, anders, als du es erwartest, aber nicht ganz unwesentlich, wie du noch bemerken wirst.« Perchafta stopfte sein Pfeifchen mit einem winzigen Stein.

»Es genügt mir vollkommen, wenn du bei mir bist«, beeilte sich Effel zu versichern. Ein wenig peinlich war es ihm, dass er scheinbar nicht kapierte, was der Krull meinte.

»Gut, dann komme morgen wieder hierher, genau an diese Stelle.«

»Warum erst morgen und nicht sofort?« Effel fühlte sich nun sehr bereit.

»Wichtige Entscheidungen sollte man immer erst einmal überschlafen, Effel, schreibe dir das in dein Tagebuch, wenn du eines hast.« Dabei lachten seine Augen.

»Außerdem habe ich noch einige Besorgungen zu machen. Schlaf gut, denn es ist wichtig, dass du deine Reise ausgeruht antrittst.«

Perchafta war verschwunden, wie ein Blatt, das der Wind wegweht. Die Geräusche des Waldes wurden wieder deutlicher und die Konturen klarer.

Schlagartig wurde es Effel bewusst, wie lange die Begegnung mit Perchafta gedauert hatte, denn die Sonne schickte ihre letzten Strahlen für den heutigen Tag auf die Wipfel der Bäume.

»Komisch«, dachte er, »wo ist die Zeit bloß geblieben?«

Es würde jetzt bald dunkel werden. Deswegen war es an der Zeit, sich nach einer Bleibe für die Nacht umzuschauen. Ein Dorf war weit und breit nicht in der Nähe, das wusste er.

Gegessen hatte er heute auch noch nicht viel, das Abendessen würde wohl ausfallen. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn er fand ganz in der Nähe einen geeigneten Platz unter einer mächtigen Ulme. Im nahen Bach wusch er sich und trank von dem klaren Wasser. Er war müde und hatte schnell sein Nachtlager bereitet. Dazu rollte er sein Schlaffell, in das er hinein kriechen konnte, auf dem weichen Waldboden aus. Aus dem Rucksack nahm er die Daunenjacke, die ihm als Kopfpolster diente, streichelte Sam noch einmal und war bald eingeschlummert.

Von gut schlafen konnte in dieser Nacht keine Rede sein.

Effels Traum war sehr lebhaft. Er träumte von Krulls, die einen roten Teppich ausrollten, um ihn in eine mysteriöse Welt zu locken. Alle rauchten schrecklich stinkende Pfeifen, die nichts anderes bezwecken sollten, als Effel zu betäuben, ihm seinen klaren Verstand zu rauben, ihm das Gefühl für die Realität zu nehmen. Und andauernd flüsterte ihm jemand ins Ohr, er müsse nur Vertrauen haben, alles andere käme dann von selbst. Als er hinschaute, war es sein kleiner Sam, der das sagte. Gleichzeitig hörte er sich aussprechen: »He, Sam, was machst du in meinem Traum?«

Fast im gleichen Moment verwandelte sich Sam in Malu, den Gaukler, der auf eine große Trommel schlug. Aus der Trommel kamen große, bunte Schmetterlinge, die alle in Richtung Sonne flogen.

Dann sah er eine Brücke, die über einen tosenden Wildbach führte. Am anderen Ufer war ein Tisch mit den herrlichsten Speisen gedeckt, an dem Krulls, Kobolde und Feen ein Fest feierten. Effel wurde hungrig und wollte gerade hinübergehen, als er einen alten einäugigen Mann am Anfang der Brücke sitzen sah, der ihn zu sich her winkte:

»Die Brücke ist nur für den Rückweg, der Hinweg ist schwieriger «, raunte der Alte ihm zu.

Was für ein Fest dort gefeiert werde, fragte Effel im Traum.

»Sie feiern die Ankunft Effels«, war die Antwort.

»Aber ich bin Effel und ich bin hier«, rief er laut ... und erwachte davon.

Er hatte den Eindruck, der Wald halle nach von seinen letzten Traumworten. Effel schaute aus seinem warmen Schlaffell in einen werdenden Morgen. Neben sich spürte er Sam. Er streckte seine Hand aus und streichelte den Hund, der ihm daraufhin mit seiner rauen Zunge die Hand leckte.

Er hatte sein Nachtlager unweit der Stelle eingerichtet, an der er Perchafta gestern begegnet war. Nun standen neben ihm ein Krug mit Milch, noch warmes, duftendes Brot, ein Stück Käse und zwei dicke, rotbackige Äpfel. Zu hungrig, um sich lange darüber zu wundern, warum die Ameisen sich nicht schon darüber hergemacht hatten, griff er zu und genoss gleichzeitig noch die Wärme seiner Schlafstätte. Dann stand er auf, entledigte sich seiner Kleidung und ging zum Bach, um sich dort zu waschen. Er nahm seine große Trinkmuschel, füllte sie mehrmals mit dem kalten Wasser und goss es sich über seinen Körper. Danach war er wach. Neben ihm stand der Hund und trank.