Buch lesen: «Die Welt, die meine war», Seite 9

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16.

Seit Wochen warte ich schon auf Nachrichten aus Schweden. Tor Marcussen von Aftenposten ruft an und möchte ein Interview mit Lill Lindfors und mir in Verbindung mit der neuen LP, die nun gleichzeitig in allen nordischen Ländern veröffentlicht werden soll. Es ist schön, Lill wiederzusehen. Sie wirkt noch immer so begeistert von dem Projekt, aber im Gespräch mit Andreas Burman wird mir klar, dass Warner/ Metronome ihre Erwartungen heruntergeschraubt haben. Das hier sind nicht gerade die neuen ABBA. Nun hat auch die Marketingabteilung die Lieder gehört. Natürlich sind sie zu introvertiert, denke ich. Außerdem schreibe ich keine Melodien, die gleich beim ersten Hören haften bleiben. Sie brauchen Zeit. Sie sind zu rätselhaft. Aber wie soll man sich in der Welt der Popmusik Zeit verschaffen? Drei Minuten hier und drei Minuten da, in Konkurrenz zu allen anderen, die einen Platz in den Hitlisten anstreben.

Aber Lill lässt sich nichts anmerken.

»Ich bin verdammt stolz auf diese Scheibe«, sagt sie zu Tor und umarmt mich.

Später sehe ich die Bilder in den Zeitungen.

So dünn war ich noch nie.

Ich muss es der Anderen erzählen. 10 000 Exemplare ist nicht schlecht, aber Millionär wird man nicht davon. Wir hatten ohnehin nicht nach Holmenkollåsen ziehen und uns eine Villa mit Swimming Pool zulegen wollen. Ich sitze auf dem Plumpsklo auf Sandøya und denke, dass ich immer hier wohnen will. Ich darf das niemals vergessen. Darf mich nie in etwas anderes verirren, etwas Idiotisches, wie es so viele meiner Kollegen bereits getan haben. Will an diesem Leben festhalten. Muss daran festhalten. Und im Garten wächst Grünkohl. Ich habe sogar Kartoffeln ausgemacht.

Wieder zurück. Nichts ist wie das hier. Nichts. Ich muss das denken. Muss es spüren.

Ich gehe über den Hofplatz zu Tore. Ich höre, dass er im Wohnzimmer sitzt und Trompete bläst.

»Störe ich?«, frage ich.

»Nimmermehr«, sagt er und blickt mich fragend an.

»Siehst du den Sternenhimmel?«

Er macht einige Schritte in die Dunkelheit.

»Ach, meine Güte.«

»Weißt du noch, in alten Tagen?«

»Wie meinst du das?«

»Du bist mit mir mit der Schnicke nach Båen gefahren. Und noch weiter hinaus. Und da draußen hast du den Motor ausgeschaltet. Weißt du noch?«

»Klar, weiß ich noch.«

»Wir haben uns im Boot auf den Boden gelegt und zu den Sternen geschaut. Wir haben die Wellen unter uns gespürt. Weißt du noch, was wir gesehen haben?«

»Dass wir mitten in der Zeit waren. Unserer eigenen Zeit.«

»Genau.«

Tore lächelt. »Dann zieh dir was an. Jetzt ist es kalt draußen auf dem Meer.«

In den USA sind Präsidentschaftswahlen. Ich werde in der Bar des Doktor Holms Hotell in Geilo auf einem weißen Flügel spielen. Die liebenswürdige Direktorin. Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wem das Hotel gehört. Jedenfalls nimmt sie mich herzlich auf, als wäre ich einer ihrer Stammgäste aus Vestre Aker.

»Hat der Herr Pianist bereits gespeist?«

»Ich speise gern nach dem Konzert«, sage ich.

»Wir haben Rentier von der Hardangervidda auf der Speisekarte«, sagt sie und zwinkert mir zu. »Und vielleicht eine Flasche guten Burgunder?«

»Da sage ich nicht nein.«

In der Welt passiert etwas. Etwas Wichtiges. Das Land, das sich stolz als beste Demokratie der Welt betrachtet, setzt alles auf einen Mann, gibt ihm mehr Macht als jedem anderen auf der Welt. Carter gegen Reagan. Liegt es nur daran, dass wir ein neues Jahrzehnt begonnen haben, dass ich das Gefühl habe, an einem Kreuzweg zu stehen, dass sich etwas ändert, dass die Menschen sich ändern. Als die siebziger Jahre anbrachen, war ich so jung. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine enorme Freiheit besaßen. Unser einziges Problem war, wie wir sie nutzen sollen. Jetzt hatten wir sie genutzt, jetzt hatten wir gewählt. Obwohl ich immer noch nicht entschieden habe, was ich werden will. Ich mache Musik und ich schreibe, genau wie früher. Ist es nicht bald an der Zeit, Lokführer bei der Bergenbahn zu werden?

Aber in der Welt sind nicht alle auf die gleiche Weise frei. Die Jagd nach dem Geld ist jetzt deutlicher. Man darf sein Leben nicht mit Jazz, Liedermacherei und Romanen verplempern. Man braucht Kapital, größere Häuser, schnellere Wagen, Geld auf dem Konto. Zurück zu Smokings, weißen Hemden und Fliegen. Lebwohl Sigrun Berg und die lila Schals. Eine neue Zeit zieht herauf. Die jungen Schnösel im Anzug. Young Aspiring Professionals? Einige sitzen bereits in dem Bereich der Bar, wo der Flügel steht. »Wolltest du nicht immer schon Barpianist werden, Ketil?«, fragte Paul, als er mich wegen dieses Auftritts anrief. Er wusste nicht, dass er damit fast ins Schwarze getroffen hatte. Meine Rolle finden, als Mussikant zwischen Bier-, Wein- und Schnapsgläser gleiten, Narkosemusik für die Ehrgeizigen spielen. Ihnen I’m in the Mood For Love geben, oder, vielleicht noch besser: Ain’t misbehavin’. Dasitzen wie Fats Waller mit Schuhcreme im Gesicht und dem Gefühl, besser zu sein, es geschafft zu haben. Das war plötzlich so verlockend. Bei der freundlichen Frau Holm ein bescheidenes Zimmer beziehen und zu ihrem festen Barpianisten werden, einem Teil der Einrichtung. 25 Standardstücke einstudieren, mich wieder fett fressen, genau wie die Brauseböcke, die auf die Alm wollten. In Geilo fett werden. Den Verfall einsetzen lassen, das Wohlleben in allen Formen willkommen heißen, am Fenster sitzen und auf die Slalomhänge schauen, wo die Leute auf den Loipen auf und ab jagen, am Ende der Mittagszeit ins Restaurant gehen und die Reste essen, Schweinerippe, Soße und Kartoffeln, wie unbeschreiblich verlockend. Kein neues Dach auf das Haus legen müssen, der Anderen sagen, dass auch sie hier herzlich willkommen ist, dass sie ein aktives Freiluftleben führen kann, sich eine kleine Holzhütte zulegen, wo der Webstuhl steht, dass unsere Beziehung weitergeht, nur in ganz neuen Formen.

»Und in was für Gedanken ist der Herr versunken?«, fragt Frau Holm.

»Wann das Konzert losgehen soll.«

»Das geht jetzt los.«

»Jetzt?«

Sie nickt, ein bisschen traurig. In der Bar sitzen elf Menschen. Vier von ihnen sind offensichtlich Makler oder Investoren. Sie sitzen vor dem teuersten Rotwein und reden leise miteinander, haben Papierstapel auf dem Tisch liegen. Dann sind da zwei wohlhabende Ehepaare, die aus den Häusern in Ustaoset oder den Privatsuiten ganz oben im Hotel hergekommen sind. Die Männer tragen grünkarierte Hosen und blaue Jacken. Die Damen sind entweder lachsrosa oder türkis mit dem schwersten Goldschmuck von David Andersen. Ein Komiker auf dem absteigenden Ast sitzt erschöpft da und trinkt Gin Tonic mit einem viel zu jungen Mädchen aus dem Ort. Er erzählt ihr die ältesten Witze aus der großen Zeit des NRK in den fünfziger Jahren. Beide lachen laut über die Glanznummern von Einar Rose und Arvid Nilssen.

Und dann ist da noch die eine, die dort sitzt, ganz allein.

Ich würde gern zu ihr gehen und sagen, dass das hier kein Konzert von Ole Paus ist, dass es sogar ziemlich langweilig werden wird, dass der Flügel nicht gestimmt ist und außerdem zu stark intoniert. Der Klang ist so formlos wie die Schafswolle, aus der die Hammerköpfe gemacht sind. Aber das tue ich nicht.

Das Konzert beginnt. Ich weiß nie, was ich spielen soll. Drücke auf einige Tasten und lausche. Die Art, wie das Instrument mir antwortet, entscheidet, was es für ein Konzert wird. Wenn das Instrument aggressiv ist, ein wenig hysterisch, überempfindlich, wenn es bespielt wird, versuche ich, es zu beruhigen nach einigen Minuten heftigen Streits. Ist der Flügel, oder ab und zu das Klavier, von der zurückhaltenden Sorte, versuche ich mich respektvoll an einer Art Vertraulichkeit, erzähle Geschichten, die nicht zu anstößig oder nervenaufreibend sind. Aber der Flügel im Doktor Holms ist eingeschlafen. Ich versuche, ihn zu wecken, aber das bringt nichts. Also spiele ich Wiegenlieder. Die passen zu den vier Anzugmännern, die sich lautstark unterhalten. Einer der Wohlhabenden bedeutet ihnen zu schweigen, aber das nutzt nichts. Erst, als ich fast mit Spielen aufhöre, werden sie leise. Stille kann eine effektive Waffe sein.

Danach bleibt die gesamte Zuhörerschar sitzen und trinkt weiter. Nur die einsame Frau erhebt sich und geht mit einem eiligen Danke hinaus in die Novembernacht. Als ich sie verschwinden sah, fragte ich mich: Habe ich etwas vermitteln können? Ist sie mir in dieser Stunde gefolgt? Kannte sie meine Musik bereits? Hatte sie einige von meinen Büchern gelesen? Habe ich ihre Erwartungen erfüllt?

Ich hatte keine Ahnung. Die liebenswürdige Hoteldirektorin setzte mich im Restaurant an einen Ecktisch. Die Rotweinflasche stand da. Das Menü war bereits festgelegt.

»Wo sind die Leute alle?«, fragte ich leicht verwirrt.

»Ach, die sitzen sicher zu Hause vor dem Fernseher. Heute Nacht wird doch Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt. Muss man sich mal vorstellen. Nichts wird mehr so sein wie bisher.«

»Wieso das denn?«

»Bildung allein reicht nicht, junger Mann. Man braucht auch Klasse. Hat Ihnen der Flügel gefallen? Toralv Maurstad hat darauf gespielt.«

»Der ist Schauspieler.«

»Ja, aber trotzdem.«

»Der Flügel hat geschlafen«, sage ich höflich. »Ich weiß nicht, ob es ihm recht war, von mir geweckt zu werden.«

»Sie haben fabelhaft gespielt, junger Mann. Das war eines der denkwürdigsten Konzerte in der Geschichte dieses Hotels.«

Ich nahm den Rest der Rotweinflasche mit aufs Zimmer. Zum Glück gab es dort Fernsehen und Radio. Später am Abend und bis in den frühen Morgen würde es Sondersendungen geben.

Magie zu wirken, Alchimist zu sein, aus Nichts Gold zu machen. Das schafften die Hoteldirektorin und Ronald Reagan. Die Begeisterung der Hoteldirektorin griff auf die Gäste über. Sie konnte mir fast einreden, dass ich ein gutes Konzert gegeben hatte.

Aber nun war Ronald Reagan an der Reihe. Nach all dem Rotwein konnte ich mich auf verblüffende Weise mit ihm vergleichen. Dieses Gefühl, das so viele von uns haben: Dass wir niemals wirklich ernstgenommen werden. Die seriösesten und zugleich aufgeblasensten politischen Journalisten trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, dass Reagan die Vorwahlen gewann. Aber Himmel? Ist das denn die Möglichkeit? Hat er wirklich …?! Sollte der denn …? Aber Himmel. Aber Himmelarsch!!!

Ja, er hatte. Und im Laufe dieser Nacht sollte er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden.

Damit war die Ähnlichkeit verschwunden. Reagan würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach ins Oval Office begeben. Ich dagegen im Kino von Sandvika einen Soloauftritt haben.

Und an allem waren diese neunzig Kommandosoldaten schuld. Wussten sie, als sie sich an jenem Tag im April, am Tag vor meinem 28. Geburtstag, in ihre Hubschrauber und Hercules-Flugzeuge setzten, dass das, was sie jetzt vorhatten, darüber entschied, wer in den nächsten vier Jahren im Weißen Haus sitzen würde? Wenn es ihnen gelungen wäre, die Geiseln aus der Botschaft in Teheran zu befreien, hätte in dieser Nacht vermutlich Jimmy Carter den Sieg davongetragen. Was hätte das für die Welt bedeutet, für uns alle? Ich lag im Bett und dachte die großen apokalyptischen Gedanken. Die Übelkeit kam wie eine Mahnung. Natürlich. Ich hatte ja das Kotzen vergessen.

17.

In Ostnorwegen herrschen Kälte und Frost, aber als Anfang Dezember überraschend mildes Wetter einsetzt, fährt er nach Norden, um Menschen zu treffen und dringend nötiges Geld zu verdienen. Das hat er Paul Karlsen zu verdanken. Er wird Solokonzerte in Tromsø, Bodø und Finnsnes geben.

Und im Norden ist es kalt, eiskalt. In Tromsø türmt sich der Schnee in den Straßen. Er wird in der Gaststätte Prelaten spielen. Das kleine braune Klavier. Ohne einen tüchtigen Tontechniker wäre das unmöglich.

Er checkt im SAS-Hotel ein. In Tromsø ist jetzt alles so schön und neu. Die Universität lockt junge Leute an. Ihm graust davor, vor denen zu spielen. Weiß nicht, was er zu bieten hat. Fünf Uhr nachmittags. Draußen ist es dunkel. Er hofft, vielleicht später an diesem Abend am Himmel das Nordlicht zu sehen. Er legt sich ins Bett, lässt die Dunkelheit hereinsickern. Er schläft fast ein.

Im Dakota-Gebäude in der Upper Westside von New York steht die Fotografin Annie Leibovitz in der Wohnung von Yoko Ono und John Lennon und arbeitet an einem Porträt für das Cover der einflussreichen Zeitschrift Rolling Stone. Zu Lennon hat sie gesagt, sie hätte gern ein Porträt von ihm allein, aber er hat darauf bestanden, dass Ono dabei sein soll. Es ist viele Jahre her, dass die beiden sich in ein Bett gelegt haben, im Namen des Friedens, und die Weltpresse zu Besuch kommen durfte.

Lennon ist schon morgens früh aufgestanden. Ehe er zu einem Friseur im Viertel ging, um sich die Haare im Stil der fünfziger Jahre schneiden zu lassen, hatte er im La Fortuna in der 71. Straße gefrühstückt.

Leibovitz bittet Ono, sich auf den Boden zu legen und ihre langen schwarzen Haare wie einen Pfauenschweif um ihr Gesicht auszubreiten. Gleichzeitig zieht Lennon alle Kleidungsstücke aus und legt sich in Embryostellung neben sie, legt die Arme um Onos Kopf und küsst sie auf die linke Wange. Gegen halb vier Ortszeit sind sie fertig mit Fotografieren. Lennon hat bereits vorher dem RKO Radio Network ein Interview gegeben. Jetzt geht das Ehepaar zusammen mit den Radioleuten zu seiner wartenden Limousine. Ono und Lennon wollten zu Record Plant, um das von Ono geschriebene Walking On Thin Ice abzumischen. Vor drei Wochen haben sie das gemeinsame Album Double Fantasy veröffentlicht, wobei Lennons Woman und Beautiful Boy bereits große Aufmerksamkeit erregt haben.

Wie üblich wartet unten eine Handvoll Autogrammjäger. Einer davon ist der 25 Jahre alte ehemalige Wachmann Mark David Chapman aus Fort Worth, Texas. Einige Wochen zuvor ist er nach New York gekommen, um Lennon zu ermorden, hat sich die Sache dann aber anders überlegt. Er möchte Kapitel 27 in J. D. Salingers Roman The Catcher in the Rye mit Lennons Blut neu schreiben. Das Buch ist bereits einer der weltweit meistgelesenen Romane. Die Hauptperson heißt Holden Caulfield, ein ruheloser Junge mit destruktiven Neigungen, der von der Schule Pencey Prep verwiesen worden ist. Wie Chapman fährt er nach New York. Chapman fühlt sich bereits seit Jahren als Versager und hat mehrere Selbstmordversuche geplant. Er hat als Sicherheitswache gearbeitet und einen einwöchigen Kurs gemacht, um als bewaffneter Wächter arbeiten zu dürfen. Auf Hawaii versank er in einer ziemlich tiefen Depression und versuchte, Selbstmord zu begehen, indem er einen Schlauch an das Auspuffrohr eines Autos anschloss, aber der Schlauch schmolz. Später reiste er in sechs Wochen um die Welt, inspiriert von In achtzig Tagen um die Erde, und heiratete eine Angestellte eines Reisebüros, ehe er Arbeit als Nachtwächter in einem Krankenhaus fand und begann, heftig zu trinken.

Er hatte John Lennon früher sehr bewundert, doch seit er zum gläubigen Christen geworden war, kritisierte er Lennon wegen dessen Aussage, er sei »beliebter als Jesus«. In Chapmans Gebetsgruppe wurden Witze über Imagine gerissen. »Imagine if John Lennon was dead.« Chapman zeigte zudem deutlichen Zorn darüber, dass Lennon über Love & Peace reden konnte, wo er Millionen von Dollars auf der Bank, Lustyachten, Landsitze und Grundstücke besaß. Er sah rot, als Lennon dann behauptete, weder an Jesus noch an die Beatles zu glauben: »Wer ist dieser Mann, der sich so respektlos über Gott und den Himmel und die Beatles äußert?« Er entwickelte einen tiefen Hass auf Menschen, die berühmt waren und seine moralischen und religiösen Maßstäbe nicht erfüllten, unter anderem Marlon Brando, Jackie Kennedy, Elizabeth Taylor und Walter Cronkite. Aber Lennon war doch der Schlimmste.

Nun steht Chapman wieder vor dem Dakota-Building. Er hält Lennon sein Exemplar von Double Fantasy hin. Lennon signiert und fragt: »Is this all you want?«

Chapman lächelt und nickt.

Danach fahren Ono und Lennon zum Record Plant-Studio in der West 44. Straße, zwischen der 8. und der 9. Avenue. Ein legendäres Studio, wo Jimi Hendrix Electric Ladyland eingespielt hatte, The Eagles Hotel California, Fleetwood Mac Rumours und Bruce Springsteen Born to Run. Lennon hatte in diesem Studio, das zudem mehr als neun Jahre zuvor die Verantwortung für die Live-Aufnahme des Concert for Bangla Desh im Madison Square Garden getragen hatte, Imagine und Double Fantasy aufgenommen. Sie mischen Onos Walking on Thin Ice ab, auf dem Lennon Gitarre spielt. Später an diesem Nachmittag ruft er seine Tante Mimi in England an, während David Geffen mit Lennon im Studio telefoniert und erzählt, dass Double Fantasy nach nur zwei Wochen in den Charts schon eine goldene Schallplatte geholt hat.

Nach 22 Uhr beschließt Lennon, sich nicht direkt zum Promi-Restaurant Stage Deli in der Nähe der Carnegie Hall zu begeben, weil er zuerst seinem Sohn zu Hause im Dakota-Gebäude gute Nacht sagen will. Das Ehepaar tritt hinaus auf die Straße und merkt, dass es für Dezember überraschend warm ist. Die beiden beschließen, einige Straßen vor dem Dakota-Gebäude aus der Limousine auszusteigen und das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen. Als sie das Gebäude erreichen, geht Lennon einige Schritte hinter Yoko Ono. Er hat das Tonband mit der letzten Abmischung unter dem Arm. Es ist 10.52 p. m. Chapman tritt aus den Schatten und nimmt Kampfhaltung an. Er gibt mit seinem Charter Arms 38 Spezialrevolver fünf Schüsse ab. Eine Kugel fliegt über Lennons Kopf in ein Fenster im Dakota-Gebäude. Die anderen treffen, und alle sind tödlich. Zwei dringen in die linke Seite des Rückens ein, die beiden anderen durchschlagen die linke Schulter. Mindestens einer dieser Schüsse trifft Lennons Hauptschlagader, während dieser die sechs Treppenstufen zur Rezeption hochsteigt, ehe er das Tonband loslässt, das nun über den Boden rollt. Lennon ruft: »Ich bin verletzt!« Ein Taxifahrer mit Fahrgast und ein Fahrstuhlfahrer beobachten, was geschieht. Der Portier des Gebäudes, Jay Hastings, aktiviert den Polizeialarm, ehe er Lennon mit seiner blauen Dakota-Uniform bedeckt und ihm die Brille abnimmt. Yoko Ono stürzt herbei und nimmt Lennons Kopf zwischen die Hände, während er flüstert: »Hilf mir.« Hastings hockt neben ihr. Er sagt: »Ist schon gut, John. Das schaffst du.« Vor dem Gebäude entreißt der Türsteher José Perdomo Chapman die Waffe und schleudert sie ins Gebüsch. »Weißt du, was du getan hast?«, schreit er Chapman an. »Ja, ich habe soeben John Lennon erschossen«, antwortet der, zieht Mantel und Mütze aus und fängt an, in seinem Exemplar von The Catcher in the Rye zu lesen, während er auf die Polizei wartet. Ins Buch hat er geschrieben: »To Holden Caulfield from Holden Caulfield. This is my statement.«

Beim Eintreffen der Polizei lebt Lennon noch. Sie sehen, dass er zu schwer verletzt ist, um auf den Rettungswagen zu warten. Sie heben ihn in ihr Auto und fahren ihn zum St. Luke’s-Roosevelt Hospital. Lennon liegt auf der Rückbank, und der Polizist James Moran fragt ihn: »Sind Sie John Lennon?« – »Ja«, flüstert Lennon und versucht, etwas zu sagen, aber es quillt zu viel Blut aus seinem Mund. Die Polizisten hören ein gurgelndes Geräusch. Dann verliert Lennon das Bewusstsein.

Im Krankenhaus wartet Dr. Stephen Lynn, der soeben einen dreizehn Stunden langen Dienst beendet hat. Er kann bei Lennon weder Atem noch Puls feststellen. Zusammen mit zwei weiteren Ärzten, einer Krankenschwester und zwei Hilfskräften versucht Lynn fünfzehn Minuten lang, ihn ins Leben zurückzuholen. Als ihnen das nicht gelingt, sägen sie Lennons Brustkasten auf, um eine manuelle Herzmassage vorzunehmen, sehen aber sofort, dass er so viel Blut verloren hat, dass sie ihn nicht mehr retten können. Wenige Minuten später wird Lennon für tot erklärt. Zeugen berichten, dass augenblicklich All My Loving aus den Lautsprechern des Krankenhauses strömt. Yoko Ono liegt auf dem Gang, schlägt mehrmals den Kopf auf den Boden und sagt: »Oh no, no, no, no … tell me it’s not true!« Eine Krankenschwester bringt ihr Lennons Trauring. Ono bittet das Krankenhaus, mit diesen Ereignissen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, ehe sie mit dem fünf Jahre alten gemeinsamen Sohn Sean sprechen konnte. »Ich will nicht, dass er durch die Fernsehnachrichten vom Tod seines Vaters erfährt.«

David Geffen führt sie aus dem Gebäude.

Die Polizei nimmt Chapman fest und entdeckt, dass er sich für den nächsten Tag eine Eintrittskarte für The Elephant Man auf dem Broadway gekauft hat, in dem David Bowie die Hauptrolle spielt. Bowie wird später behaupten, der Nächste auf Chapmans Liste gewesen zu sein. Ono/Lennon waren zur betreffenden Vorstellung eingeladen.

Drei Plätze blieben leer.

Ich löse mich langsam im SAS-Hotel in Tromsø aus einem Traum. Sehe auf die Uhr. Erst in einigen Stunden werde ich die Twin Otter-Maschine nach Bardufoss nehmen. Was hatte ich da noch geträumt? Meine Träume waren in der letzten Zeit oft überwältigend, stärker als das Leben selbst. Ich war an einem Badestrand irgendwo am Mittelmeer. Ich erwachte aus einem Traum im Traum. Lag plötzlich da und hob den Kopf, begriff, dass ich die ganze Nacht geschlafen hatte, dass es Morgen war, dass ich nur eine Unterhose trug, fast nackt war, ganz anders als sonst. Dann sah ich plötzlich, wie dünn ich war, genauso, wie ich sein wollte. Ich wollte gerade aufstehen, als ein Schatten über mich fiel, der eines anderen Menschen. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, dass sie früher einmal eine Freundin gewesen war, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, ich spürte nur einen kalten Windhauch, wie von der Morra aus dem Mumintal, etwas Unheimliches, von einem wunden Punkt in meinem Leben.

»Da liegst du also?«, fragte sie.

»Ja.« Ich hielt verzweifelt Ausschau nach meinen Kleidern. Wie war ich hier gelandet? Ich konnte mich an nichts erinnern. Sie sorgte dafür, dass ich mich schuldig fühlte.

»Ich gehe schon«, sagte ich beschämt.

»Nicht mit diesem Körper«, sagte sie.

»Aber das ist doch mein Körper«, sagte ich. »Ich habe nur abgenommen.«

»Das ist nicht dein Körper«, sagte sie ruhig.

Ich fühlte mich noch immer beschämt, als ich in den Frühstücksraum nach unten ging. So konnte das nicht weitergehen. Ich wurde nicht dünner davon, dass ich den Finger in den Hals steckte. Ich konnte nicht einmal mein Gewicht halten. Mein Körper war die ganze Zeit nervös und im Ungleichgewicht. In den vergangenen Nächten hatte ich mehrmals geträumt, dass ich mich erbrach, dass ich alles erbrach, bis mir am Ende nur Gesicht und Augen blieben.

In diesem Jahr schien mein Selbstvertrauen verschwunden zu sein, der Spielraum war so klein zwischen den Kilos, zwischen Kontrolle und Chaos, zwischen Fiasko und etwas, das einigermaßen gelungen war. Die letzten Konzerte waren keine runde Sache gewesen. Während ich im Frühstücksraum des Hotels saß und ein Stück Knäckebrot verzehrte, dachte ich an das gestrige Konzert. Es war mäßig gewesen. Kein totales Fiasko, aber unkonzentriert, fahrlässig. Dieselben alten Tricks, die Übergänge, die auf einem so kleinen Klavier nicht so gut funktionierten. Der Techniker hatte mir geholfen, hatte hier und da ein paar schöne Klänge darüberlegt, und der Applaus war hörbar gewesen. Ich hatte zwischen den Nummern viel erzählt, wie um mich aus meiner Unsicherheit herauszureden. Sie hatten gelacht, als ich einen Witz von Trond-Viggo geklaut hatte: »Hier ist es aber dunkel, sagte der Knabe. Hier ist das Licht sicher schon vor langer Zeit ausgeknipst worden.« Sie hatten auch gelacht, als ich darüber gesprochen hatte, wie ungenau unsere Sprache jetzt wurde, die vielen Widersprüche, die häufige Verwendung der allernichtssagendsten Wörter, wie irgendwie und eigentlich. Meine Standardeinleitung zu einem Stück, das ich Irgendwie eigentlich ein Blues, hätte ich fast gesagt nannte. Aber danach fühlte ich mich unzufrieden mit mir, und seltsamerweise waren keine Bekannten im Saal, und die schöne Maj mit den langen schwarzen Haaren, die Künstlerbetreuerin, war zu Hause geblieben.

Maj, ja, dachte ich. Ich musste noch bei ihr im Büro vorbeischauen und mein Geld holen. Maj, die alle Künstler in ganz Norwegen kannte, unsere Launen und unsere Schwächen. Und alle liebten sie. Weil sie Maj war. Weil sie und die anderen im Büro wachsam waren und uns Auftritte verschafften.

Ich hatte mich noch immer nicht von dem scheußlichen Traum befreit, als ich eine halbe Stunde später aus dem Hotel auscheckte. Ich wollte schon früh zum Flughafen, um mich dort hinzusetzen und zu schreiben.

Tromsø im Dezember. Dunkelheit in den Straßen. Ich überquerte die Straße vor dem Hotel und ging das kurze Stück bis Prelaten und zum Büro, wo mich Maj erwartete, wie ich wusste. Über meine Schulter hing die graue Schultertasche. In der Hand trug ich den kleinen Rollkoffer, in den Wäsche für genau drei Tage passte.

Als ich an die offene Tür klopfe, sehe ich, dass sie am Schreibtisch sitzt und mit leerem Blick vor sich hinstarrt.

»Maj«, sage ich vorsichtig. »Stimmt was nicht?«

»John Lennon ist tot. Ein Wahnsinniger hat ihn erschossen, gleich vor seiner Wohnung in New York.«

»Ihn erschossen? Wieso denn?«

Sie erhebt sich, erwidert meinen Blick, zuckt mit den Schultern.

»Make love, not war«, sagt sie matt.

In diesem Moment sah ich die Bilder vor mir. John und Yoko, in dem Bett, wo sie ihr Bed-in gestartet hatten. Den Imperativ an Peter Watkins, nachdem er The War Game gedreht hatte, in dem er die Zerstörungen in der Gesellschaft nach einem Atomkrieg zeigt. Was John und Yoko dazu gebracht hatte, sich zu engagieren. John und Yoko. Imagine. Das Schöne zwischen ihnen, das für viele auch ans Lächerliche grenzte. Strawberry Fields Forever.

Das hier ist nicht lächerlich.

Wir stehen hier und haben die Arme umeinander gelegt, unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Ich starre auf das Geld, das mir zustehende Honorar, das auf dem Tisch bereit liegt. Die vielen Geldscheine.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Maj endlich.

»Ja, was machen wir jetzt?«, erwidere ich.

16,99 €