Buch lesen: «Die Welt, die meine war», Seite 5

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Und durch den großen Kongresssaal, in dem die vielen wichtigen Persönlichkeiten versammelt waren, würde eine Welle aus Schock und Begeisterung strömen, und die Kameras würden das einfangen, und überall in Europa, ja vielleicht auf der ganzen Welt, würde zustimmend genickt werden. Wer war dieser begabte Bursche aus Norwegen, der es wagte, so offen über Untreue zu sprechen? Vielleicht würden sich einzelne unangenehme Szenen abspielen, Frauen würden ihre Männer fragen: »Wo warst du denn eigentlich am Donnerstag?« Und Catherine Deneuve würde leicht bekleidet zu Hause in ihrem kleinen Schloss bei Paris sitzen und sich fragen, wer dieser seltsame Junge aus Norwegen eigentlich war, und wie er sein Gewicht so gut im Griff haben konnte, fadendünn, wie er war. Sie beugte sich vor und nahm den Hörer ab … Aber in diesem Moment gab Rune Larsen dem Lied einen Punkt, das absolute Minimum der Möglichkeiten. Er saß zu Hause im Fernsehzimmer auf Sandøya und begriff sofort, dass der Traum ein Traum bleiben würde.

Es half nichts, dass Magni Wentzel zehn Punkte gab und ihn für den Besten hielt. Der Kampf tobte zwischen Bjørnen sover und Sámiid Ædnan. Alle im Fernsehzimmer hatten jetzt ihre Entscheidung getroffen. »Kjelsberg und Hætta!« »Åge! Åge!« Er sagte nichts. Die Andere drückte ihm die Hand. Sie hatten schon oft so gesessen und zugesehen, wie ihre Gäste sich gehen ließen. Jetzt freute er sich über ihre stumme Gemeinschaft. Darüber, dass sie nichts zu sagen brauchten, während alle anderen redeten.

Die junge Lehrerin, die er eigentlich so gern hat, scheint zufrieden zu sein, als am Ende Sámiid Ædnan den Sieg davonträgt.

»Das beste Lied hat gewonnen«, verkündet sie energisch.

Er verspürt einen plötzlichen Zorn, nicht, weil sie nicht recht hätte, sondern, weil sie so unhöflich ist. Sie hat einen Hang dazu, sich selbst zu zitieren. Und das findet er unerträglich. Leute, die sagen: »Wie ich zu sagen pflege …« Als ob es größeres Gewicht verliehe, sich selbst zu zitieren. Und dennoch ist sie in seinem Leben unentbehrlich als eine seiner liebsten Freundinnen. Deshalb fühlt er sich ganz besonders im Stich gelassen.

»Und was ist mit meinem Beitrag?«, fragt er.

»Du hättest Nummer 6 werden sollen«, sagt sie ohne zu zögern.

»Wie dumm«, sagt er.

»Wieso?«

»Ich hatte auf Nummer fünf gehofft.«

»Nummer fünf? Warum das denn?« Sie starrt ihn überrascht an.

»Das ist eine alte Geschichte«, murmelt er. Aber sie hört nicht einmal zu. Er denkt an das Absurde daran, die Leistungen von Freunden in eine Rangliste zu setzen. Sollte er sie ebenfalls einstufen, als Freundin? Wäre sie dann Nummer sieben oder Nummer siebzehn?

Er merkt, dass die Kleinlichkeit der Freundin ihn noch kleinlicher macht.

Und dennoch hatte sie nur die Wahrheit gesagt. Welchen Vorwurf hätte ihr ihr machen können?

An diesem Abend geht er nicht zum Kotzen ins Gebüsch, als alle Gäste aufgebrochen sind und Ruhe sich über das Haus senkt.

Aus Gründen, die er nicht verstehen kann, möchte er den ganzen Dreck in sich behalten. Er denkt an Céline, den er soeben gelesen hat, Reise ans Ende der Nacht. Der Todesritt nach Bardamu. Er selbst war Menschen begegnet, die ihn fast mit in den Sog gezogen hatten, auf dem Weg in den Untergang, und Ole hatte darüber in Gamle Haiens Vise geschrieben. Ehe er Dostojewski gelesen hatte, hatte er nicht gewusst, dass auch Literatur das konnte: sich an ihm festkleben, ein Stück seiner Seele brandmarken. Célines menschliche Hölle ließ ihn nicht los. Der Roman setzte sich in seinen Gedanken fest. Er dachte an die Unschuld, die viele vor dem Ersten Weltkrieg besessen hatten. Ravel, zum Beispiel, hatte das Trio in a-Moll im Rekordtempo komponiert, um rechtzeitig an der Front zu sein, wo er dann monatelang einen Lastwagen fahren sollte. Stefan Zweig schrieb auch darüber, wie viele aus seiner Generation sich in einem fast euphorischen Rausch als Kriegsfreiwillige gemeldet hatten. Sie hatten keine Ahnung, welche Hölle dieser Krieg werden würde. In Célines Fall ist der Weltkrieg nur der Anfang eines Albtraums, den er mitnimmt in den afrikanischen Dschungel, in die Automobilindustrie der USA und wieder zurück in ein Paris, wo menschliche Armut und Hässlichkeit jeden Gedanken an Hoffnung überschatten. Beim Lesen hatte er an Menschen gedacht, die ihm begegnet waren, die entweder vor existenziellen Schwierigkeiten standen oder über jede Vorstellungskraft mit sich selbst beschäftigt waren. Diese Menschen umgab ein Magnetfeld. Sie zogen Menschen wie ihn an, konnten ein Abhängigkeitsverhältnis aufbauen, durch das er sich dazu verpflichtet fühlte, sie auf ihrer Reise zu begleiten, auch wenn die zur Hölle ging. Er war solchen Menschen begegnet, in der Verlagswelt, in den Zeitungsredaktionen und unter Musikern. Im Nachhinein dachte er, sie wollten ihn nach unten ziehen. Wie dann, wenn der Alkoholiker, mit dem er im Restaurant sitzt, unmittelbar vor Schluss vier Cognac bestellt und ihn anfleht, wenigstens einen davon zu trinken, um einen guten Eindruck zu machen.

11.

In einem Zug in Deutschland von Bochum nach Berlin am 9. September 2016. An diesem Abend soll er in der Norwegischen Botschaft Mein Weg zu Mozart vorstellen. Unterwegs denkt er, dass er damals vor der Zeit der Diagnosen gelebt hat. In seiner Welt gab es weiterhin nur dünne Menschen und dicke Menschen, und obwohl seine Mutter so allergisch war, dass sie in einem dunklen Zimmer liegen und sich durch einen Sommer nach dem anderen hindurchniesen musste, gab es keine Speisekarten, auf denen Allergene aufgeführt waren. Es gab kein Internet und keine Blogger, die die Gesellschaft mit Berichten über Essstörungen überschütteten. Später fragte er sich oft, ob die Unwissenheit ihn gerettet hat. Ob Wissen an sich, das jedenfalls wichtig war, ihn auf den Boden einer Tatsachenhölle hätte ziehen können, wo Darstellungen und Beweise der Ursachen ihm die Möglichkeit zu einem glücklichen Leben genommen hätten. Er hätte als Diagnose leben müssen. Ihm gegenüber im Speisewagen sitzt eine ungeschminkte, schöne und rothaarige Deutsche mit Sommersprossen, liest ein Buch und trinkt dabei Cappuccino. Sie nahm dort Platz, zwei Minuten ehe das von ihm bestellte Hauptgericht gebracht wurde. Gesottenes Rindfleisch in Meerrettichsoße mit Salzkartoffeln. Seine ewige Sehnsucht nach Gerüchen und dem Geschmack seiner Kindheit. Spätburgunder vom Königschaffhauser Vulkanfelsen in Baden. Solche Dinge gibt es noch in deutschen Speisewagen. Aber es war ja keine Selbstverständlichkeit, dass er hier saß, nun wieder mit Speck um den Bauch, und dass er sich an einem Tisch für zwei Personen in diesem Wohlbefinden suhlte. Als er ungefähr die Hälfte verzehrt hat, trifft er die Kartoffel mit der Gabel auf eine Weise, dass die über den Tisch springt und auf der Papierserviette der Tischnachbarin landet. Blitzschnell packt er die Kartoffel, holt sie zurück auf seinen Teller, wischt sie mit der Papierserviette ab und bittet um Entschuldigung. Eine waschechte Peter-Sellers-Szene. Die Frau schaut von ihrem Buch auf und lächelt ihn an. Das macht ihr nichts aus. Aber für ihn sind Mahlzeit und Arbeitstag ruiniert. Obwohl er fünfzehn Minuten später wieder den Laptop auspackt, ist er nun eine leicht übergewichtige Person, die gegessen und herumgesaut hat und Wein trinkt, obwohl es noch nicht einmal zwei Uhr nachmittags ist. Aber das, denkt er, hat er doch auch getan, als er jung war. Einfach zugegriffen.

Damals wusste er nur nicht, wie nah er der Katastrophe war.

Einige Monate zuvor: Mehrere hundert Studenten stürmen die US-Botschaft in Teheran und nehmen siebzig Geiseln. Noch ehe Abolhassan Bani-Sadr zum ersten Präsidenten der Islamischen Republik Iran gewählt wird, fordern sie die Einführung der Scharia im Land. Sie haben bereits Ayatollah Ruhollah Khomeini als religiöses Oberhaupt. Schah Reza Pahlevis Premierminister Schapur Bachtiar ist zurückgetreten, und Mehdi Bazargan hat eine Regierung gebildet, in einer chaotischen Zeit, in der der revolutionäre Richter Chalchali die sofortige Hinrichtung von prominenten Befehlshabern der alten Sicherheitspolizei des Schahs sowie die von Generälen und Politikern anordnet, bis hinauf zum ehemaligen Premierminister Amir Abbas Hoveida. Es gibt Widerstand gegen Khomeini. Porträts des neuen Oberhauptes werden verbrannt, und Frauen gehen zu Tausenden auf die Straße, um gegen die islamische Gesetzgebung zu protestieren, die ihre Freiheit einschränken wird. Aber es ist ein hoffnungsloser Kampf. Khomeinis islamischer Staat ist zur Tatsache geworden, und nun verlangen junge Muslime, den krebskranken und sterbenden ehemaligen Schah von Persien, König Olavs engen Freund, auszuliefern, damit er verurteilt und hingerichtet werden kann, ehe er irgendwo im Westen eines natürlichen Todes stirbt. Da sich der Schah in den USA aufhält, ist die US-Botschaft ihr Ziel. Nach einigen Wochen werden neunzehn Geiseln freigelassen. Die anderen bleiben in Gefangenschaft. Alle sind Staatsangehörige der USA.

Fünf Monate später, am 25. April 1980, starten acht amerikanische Sikorsky-Hubschrauber vom Flugzeugträger Nimitz, der am Rand des Persischen Golfes liegt, während zugleich sechs Hercules-Flugzeuge auf die im Süden der Provinz Tabas zwischen zwei Wüstengebieten gelegene Stadt Chorasan zuhalten. Präsident Jimmy Carter hat ein starkes Bedürfnis, einige Monate vor den Präsidentschaftswahlen in den USA außenpolitische Stärke zu zeigen. Inspiriert von dem erfolgreichen israelischen Einsatz im Flughafen von Entebbe in Uganda setzt er neunzig Kommandosoldaten ein, die im Nachhinein wie von James-Bond-Filmen inspiriert wirken. Könnte es möglich sein, dass diese Hercules-Flugzeuge unbemerkt in Wüstengebiet landen, um auf die acht Hubschrauber zu warten, die auftanken müssen, ehe sie sich auf den Weg nach Teheran machen? Dem Plan nach sollten die Hubschrauber an einem sicheren Ort in der Hauptstadt landen, von dem aus sich die Kommandosoldaten zu Fuß zur Botschaft begeben würden. Im Gepäck hatten sie Gift, um die Besetzer zu betäuben, sodass die Geiseln befreit werden könnten.

Aber drei Hubschrauber haben mit technischen Problemen zu kämpfen. Die Aktion wird in letzter Sekunde abgesagt, und in der Panik, die beim Rückzug aufkommt, kollidiert ein Hubschrauber mit einem Hercules-Flugzeug. Acht Besatzungsmitglieder kommen ums Leben, vier tragen schwere Verletzungen davon. Den Amerikanern bleibt nicht einmal Zeit genug, die Leichen mitzunehmen, die wie das zerstörte Flugzeug und der Hubschrauber auf der Rollbahn zurückgelassen werden.

Am nächsten Morgen muss Präsident Carter die Welt über den misslungenen Einsatz informieren. Er betont, dass es kein Angriff auf den Iran oder die iranische Bevölkerung war, sondern eine Mission von »humanitärem Charakter«. Während die Iraner zu Tausenden zur US-Botschaft in Teheran strömen, um das zu feiern, was ihnen als Sieg erscheint, verurteilt Breschnew die Aktion und bezeichnet den Plan als »an der Grenze zum Wahnsinn«. In der BRD herrscht große Irritation über die Eigenmächtigkeit der USA, während vor allem Großbritannien und Norwegen Verständnis für das Bedürfnis der USA zeigen, »Ordnung zu schaffen«.

Roland Barthes geht in Paris hinaus auf die Straße und wird von einem Lieferwagen überfahren. So einfach kann es also sein. Ein Mann, der sein Leben lang nach einem System für das Denken gesucht hat, nach Regeln für das Schreiben und nicht zuletzt für die Literaturkritik. Sein Leben sollte also als Folge eines Verstoßes gegen die Verkehrsregeln enden. Wer trug die Schuld? Barthes oder der Fahrer des Lieferwagens? Er sitzt zu Hause auf Sandøya im Esszimmer und liest die Zeitungsnotiz über den Tod des französischen Literaturkritikers nach einem Monat im Krankenhaus. Er wusste nicht viel über Barthes, außer dem, was er in Zeitungartikeln und Zeitschriften aufgeschnappt hatte, die er bisher nur mit starkem Unwillen lesen konnte, vielleicht, weil diese systemverhaftete Art des Denkens ihn immer müde, unsicher und übellaunig machte. Das war begründet in der Sprache selbst, in den Begriffen, den Wörtern, die gewählt wurden. Der akademische Imperativ. Die scheinbare Selbstsicherheit dieser Art von Menschen, die so oft im Gegensatz stand zu der konstanten Unsicherheit der schöpferischen Menschen. Mozarts Lebenslauf hatte ihn beeindruckt. Wie hatte der von der Hand in den Mund gelebt! Wie sehr war der Gedanke ans Überleben immer dabei gewesen, wenn er etwas geschaffen hatte. Aber Barthes? Hatte der überhaupt finanzielle Probleme gehabt? Ja, er kam aus armen Verhältnissen, musste er zugeben, nachdem er sich kundig gemacht hatte. Dennoch erlangte er hohe Positionen an der Universität. An den Ausbildungsstätten. Es war so unwirklich für ihn gewesen, zu sehen, dass so viele der Musiker, die er kannte, plötzlich unterwegs zu Professuren an Musikhochschulen waren. Eigene große Büros mit den besten Instrumenten erhielten. Ging es den Literaturwissenschaftlern nicht ebenso gut? Hatten die jemals finanzielle Sorgen? Oft dachte er, dass er vielleicht einen Komplex habe, weil er nur die Hauptschule beendet hatte. Dennoch wusste er, dass Barthes der Theoretiker war, der Philosoph, der zur Entwicklung der Semiologie beigetragen hatte, zu einer Art Erkenntnis, dass auch das Visuelle, ein Bild zum Beispiel, eine Form von Sprache war. Diese Vorstellung gefiel ihm. Er dachte an Leonard Rickhard, dem er inzwischen eine so große Bewunderung entgegenbrachte, dass er fast Versagensangst verspürte, wenn sie sich privat trafen. Und das geschah oft. Er hatte gesehen, wie Leo eins von seinen Bildern anstarrte, das jetzt zu Hause auf Sandøya im Wohnzimmer hing. Er hatte begriffen, dass der Maler viel lieber, als mit guten Freunden beim Essen zu sitzen, aufspringen wollte, die Pinsel hervorziehen und an dem Bild weitermalen! Niemals fertig! Eine dermaßen unendliche Selbstkritik überfiel ihn, dass er nach solchen Begegnungen nachts oft wach lag und seine eigenen Methoden hinterfragte. Und dort kam vielleicht Barthes ins Spiel, ganz unbewusst. Barthes, der den Eigenwert des Textes vertreten hatte, skeptisch gegenüber der Art Literaturkritik, der es niemals gelang, Autor und Werk zu unterscheiden, die den Text politisch, biografisch, ethnisch und psychologisch verortete. Das Wenige, was er über Barthes gelesen hatte im Essay La mort de l’auteur war ihm eine Vorwarnung für eine akademische Texthörigkeit, die nach und nach auch auf die Autoren übergreifen würde. Große Romane würden verfasst werden, in denen die Hauptperson der Text selbst wäre, eine Huldigung an die Schrift, die Sprache, die den Nährboden schuf für eine ganz neue Ära intellektueller Literatur, die ihm zugleich neue Leser bescherte. Für ihn persönlich war es in dieser Lebensphase faszinierend zu sehen, wie unbescheiden diese akademischen Denker waren, wenn es um sie selbst ging. Der Autor reduziert zu einem notwendigen Zwischenglied. Die Analyse an sich breitete ihre Schwingen aus wie ein Adler, ein Raubvogel. Und er versuchte nicht selten, sich den hart arbeitenden Mozart in einer solchen Landschaft aus Vernunft und Argumentation vorzustellen, der vermutlich in Gelächter ausgebrochen wäre und die Edlen daran erinnert hätte, dass er nicht nur Musiker war, sondern auch Mussikant, dass die Kunst, gesehen aus seiner bescheidenen Perspektive, immer in Bezug zu einem Menschen stand, zu dessen Visionen, dessen Leidenschaften, dessen finanzieller Situation, dessen Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Der Tod des Autors. Als liege im Titel dieses Essays eine Sehnsucht, als sei der Autor für das akademische Denken nur ein notwendiges Übel, als werde die Zeit des Romans bald ein Ende nehmen, als würden von nun an Essay und Literaturkritik übernehmen. Jacques Derridas Dekonstruktionen. Barthes’ Rahmendenken und Definitionshysterie, die in den kommenden Jahren das Studium an den Universitäten prägen sollten.

Dort, vor seiner Kaffeetasse im Esszimmer auf Sandøya, dachte er an die Ironie, dass nicht einmal Barthes darauf verzichtet hatte, eine Autobiografie zu schreiben. Er, der nicht hatte wissen wollen, was ein Autor »uns wirklich sagen will«, fragt sich selbst als Text aus. Und zugleich: Alles Persönliche, das dabei zur Sprache kam, dass sein Vater bereits im Ersten Weltkrieg verstorben war, dass Barthes selbst gesagt hatte, er habe keinen Vater gehabt, den er töten könnte, keine Familie, die er hassen könnte, kein Milieu, mit dem er sich überworfen hatte, die großen ödipalen Frustrationen. Ja, dachte er da draußen auf der Insel, Barthes wurde als Mensch und Privatperson sichtbarer als viele weltberühmte Autoren. Bald wussten alle Literatur Studierenden auf der ganzen Welt, dass er homosexuell gewesen war, dass er bis 1977, drei Jahre vor seinem Tod, mit seiner Mutter zusammengelebt hatte. Dass er versucht hatte, protestantische Moral mit Sündhaftigkeit zu verbinden. Dass er tunesische Bordelle und Pariser Schwulenbars frequentiert hatte. Dass er etwas Scheinheiliges an sich gehabt hatte, während er zugleich anderen gegenüber so freundlich und rücksichtsvoll war, dass er Vorworte zu Büchern schrieb, die er nicht einmal gelesen hatte.

Er, der da vor seiner Kaffeetasse auf Sandøya sitzt, erkennt sich darin wieder. Anderen gefällig sein. Weil in ihm eine tiefe Unsicherheit steckte? Auch Barthes hatte Musik geliebt. Er hatte offenbar auch eine schöne Singstimme besessen.

Ein Lieferwagen, der in hohem Tempo durch Paris fuhr, hatte allem ein Ende gesetzt. Oder war Barthes einfach in einem Moment der Unaufmerksamkeit bei Rot über die Straße gegangen?

Barthes begleitet ihn nun. Wie dann, wenn er an Leo denkt. Der Imperativ der Konzentration. Einen Gedanken festhalten. Der Roman gibt dem Autor so viele Möglichkeiten. Eine Rahmenerzählung vermittelt zum Beispiel den Eindruck von Kontrolle. Dass der Autor seine eigene Idee im Griff hat. Dass die Autorin gesehen und verstanden hat. Der Text ist konstruiert und am Rand angebracht und arrangiert wie eine Erfahrung, wie etwas Durchdachtes. Der Autor stochert nicht mehr im Blinden. Er hat sich nicht in seine eigene Geschichte gestürzt, ohne zu wissen, wie das Ende aussehen soll. Er sagt nicht: »Diese Geschichte ist im Traum zu mir gekommen.« Die Rahmenerzählung ist das Bedürfnis des belletristischen Autors, sich aus dem eigentlichen Text zu erheben, vielleicht auch in einer Hoffnung, die Schwächen des Textes verbergen, ihn stärker machen zu können, einfach durch diesen schlichten Handgriff. Ja, so ein Prosaautor wird zu jeder Zeit Barthes, Derrida, Bourdieu oder Adorno in einen Text einbringen können in der Hoffnung, den Text damit interessanter zu machen. Die Rahmenerzählung ist Filmtrick und literarische Methode zugleich. Das Beste für diese Erzählung, Die Welt, die meine war, wäre es gewesen, wenn der Autor mit einer unklaren Krebsdiagnose in einer Rehaklinik läge oder nach einer aufreibenden Scheidung in einem Hotel in Asien oder Lateinamerika säße. Wenn er zu seiner eigenen Geschichte zurückfinden müsste, sich rückwärts kämpfen, Wort für Wort, den Leser und die Leserin daran erinnern, dass Leben und Erkenntnis Mühsal bedeuten. Freude, Enttäuschung und Erfahrung. Stattdessen benutzte er seine Mutter. Ihren Tod im Jahre 2010. Ihren Blick. Ihr Lächeln. Obwohl sie eiskalt war, wie sie da in der Kapelle des Pflegeheims Uranienborg lag, an jenem Apriltag. Aber das hier war der Anfang der sechziger Jahre. Wie kann er diese Erfahrung in der Schreibsituation für die achtziger Jahre verwenden, wo er im Roman eigentlich in einem Zug nach Stockholm sitzt und zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit die große Sängerin Lill Lindfors treffen wird? Er muss zurück zu Lügen, Unwissenheit und Erwartung. Er kann nicht auf Adorno verweisen, als er Arvika passiert. Er braucht nicht sterbenskrank in einem Hospital zu liegen, um seine Aufbruchsstimmung in diesem Frühjahr zu beschreiben. Jetzt nicht Barthes, Derrida und Bourdieu. Er ist neugierig auf alles und so sicher, dass er die Kontrolle hat. Barthes gibt es nicht, nicht in diesem Stadium des Lebens. Glücklicherweise. Der Zeigefinger der rechten Hand ist sein allerbester Freund. Geradewegs in den Hals, und das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Es ist sicher so, wie Kokain zu sniffen oder viel zu trinken, ohne verkatert zu werden. Ja, sogar der Alkohol wird zum Freund, wenn man sich danach erbrechen kann.

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