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Buch lesen: «Winnetou 4», Seite 9

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»Wohin reitet ihr?«

»Das darf ich nicht sagen.«

Da stieg der »junge Adler« vom Pferd, trat hinzu und sagte:

»Du darfst! – Schau her! Ich bin dein Bruder.«

Er trug den neuen Lederanzug, den Pappermann ihm aufgehoben hatte; den alten hatte er weggeworfen. In diesem neuen Anzug nahm er sich sehr stattlich aus. Er deutete auf die rechte Seite der Brust, wo ein kleiner, zwölfstrahliger Stern aus Perlen eingesteckt war. Ich sah an ihrem Gewand an der gleichen Stelle ganz den gleichen Stern.

»Du bist ein Winnetou?« f ragte sie, ihn jetzt genauer betrachtend.

»Ja.«

»Und ich bin eine Winnetah. Wir tragen also beide den Stern des großen Winnetou und sind also Bruder und Schwester. Ich bin ein Siou Ogallallah. Und du?«

»Ein Apatsche vom Stamm der Mescaleros.«

»Also von Winnetous Stamm. Ich bitte dich, mir deinen Namen zu sagen. Oder hast du noch keinen?«

»Ich habe einen«, lächelte er. »Man nennt mich den ,jungen Adler‘.«

Da machte sie eine Bewegung der Überraschung.

»Man weiß, daß ein Lieblingsschüler des berühmten Tatellah-Satah diesen Namen trägt. Er bekam ihn schon in früher Jugend, wo Andere noch lange Zeit ohne Namen sind. Kennst du ihn?«

»Ja.«

»Er war der Allererste, dem Tatellah-Satah erlaubte, den Stern unseres Winnetou zu tragen. Weißt du, wo er sich jetzt befindet?«

»Ja.«

»Darfst du es mir sagen?«

»Niemand verbietet es mir. Er steht vor dir.«

»Du, du bist es? Du selbst, du selbst?« fragte sie, indem ein Glanz aufrichtiger Freude ihre Wangen überflog. »Man sagte, du seiest verschwunden?«

»Man sagte die Wahrheit«, antwortete er.

»Um den heiligen Ton der Friedenspfeife zu holen?«

»Ja. Und noch Schwereres dazu.«

»Man erzählte, du habest dir selbst dabei eine schwere, sehr schwere Aufgabe gestellt?«

»Auch das ist wahr.«

»Ist dir die Lösung gelungen?«

»Sie gelang. Unser großer, guter Manitou hat mich geführt und beschützt. Seit ich den Mount Winnetou verließ, sind über vier Jahre vergangen. Nun kehre ich zurück. Du hast denselben Weg?«

»Ja.«

»So will ich nicht fragen, wohin ihr heute reitet, denn ich weiß, daß ich dich wiedersehen werde.«

»Wünschest du das?«

»Ja. Und du?«

»Ich auch.«

»So bitte, gib mir deine Hand!«

»Ich gebe dir beide!«

Sie reichte sie ihm und schaute ihm mit großen, offenen Augen in das männlich schön gezeichnete, ernste Gesicht. Er aber sah über den See hinüber, wie in eine weite, weite Ferne hinein. Es gab eine kurze Zeit des Schweigens. Dann sagte er:

»Die Enkelin des größten Medizinmannes der Seneca, welche die Tochter Wakons ist, des Forschenden und Wissenden, und der Schüler des unerreichbaren Tatellah-Satah, bei dem die zertretene Seele der roten Rasse ihre einzige und letzte Zuflucht fand: das bist du, und das bin ich. Manitou ist es, der uns hier zusammenführte. Wir trennen uns nur zum Schein. Es soll ein Segen, ein großer Segen ausgehen von dem Ort, an dem wir uns wiederfinden. Sei gesegnet, du liebe, liebe, du schöne Winnetah!«

Er küßte ihr beide Hände und fragte dann:

»Wann verläßt du diesen See?«

»Sofort«, antwortete sie. »Aber ehe ich gehe, muß ich dich fragen, wohin euer Ritt von hier aus zunächst gerichtet ist.«

»Nach der Devil pulpit. Kennst du sie?«

»Ja. Wie gut, daß ich dich fragte. Ich warne dich!«

»Vor wem?«

»Vor Kiktahan Schonka, dem alten Kriegshäuptling der Sioux Ogallallah.«

»Vor deinem eigenen Häuptling?!«

»Pshaw!« rief sie stolz aus. »Aschta kennt keinen Häuptling über sich. Es geht ein tiefer, tiefer Riß durch die Dakotahstämme. Die jungen Krieger sind für Winnetou, die alten aber gegen ihn. Nimm dich in acht! Ich weiß, daß Kiktahan Schonka nach der Devils pulpit kommt, um sich dort mit den Häuptlingen der Utah zu treffen und zu beraten. Hüte dich, ihnen in die Hunde zu fallen! Weißt du, daß man sagt, Old Shatterhand werde kommen?«

»Ich weiß es.«

»Und glaubst du, daß dieses Gerücht begründet ist?«

»Ich glaube es.«

»So werden wir ihn sehen, wenn es ihm gelingt, den Gefahren zu entgehen, die auf ihn lauern.«

»Kennst du sie, diese Gefahren?«

»Nein. Ich weiß nur, daß man hofft, ihn, wenn er wirklich kommen sollte, zu ergreifen. Ihn am Marterpfahle sterben zu lassen, war der glühende Wunsch aller Feinde seines Bruders Winnetou. Man sagt, er sei sehr alt und grau geworden. Im Alter kommt die Kraft dem Körper und die Energie der Seele abhanden. Wie würde man jubeln, wenn dem Hochbetagten jetzt nun geschähe, was er in der Jugend so oft vereitelt hat! Wenn ich wüßte, wann und wo er kommt, so stellte ich Späher aus, um ihn warnen zu lassen.«

»Sorge dich nicht um ihn, Aschta! Denn was deine Späher ihm sagen würden, das wurde ihm bereits gesagt.«

»So ist er gewarnt?«

»Ja.«

»Dem Manitou sei Dank! Nun kann ich gehen. Warte! Nur einen Augenblick!«

Sie entfernte sich nach der Ruine des nächsten Hauses, hinter welcher, wie wir dann sahen, ihr Pferd verborgen war. Sie stieg dort auf, kam herbeigeritten und blieb bei uns halten, um dem »jungen Adler« die Hand zu reichen.

»Leb wohl!« sagte sie. »Wir sehen uns wieder!«

Dann fragte sie Pappermann:

»Weißt du auch, daß ich diesen Ort nicht eher verlassen werde, als bis ich weiß, wo wir dich treffen werden? Sag mir einen Ort, der dir beliebt. Wir kommen!«

Pappermann wußte nicht, was er antworten sollte, darum erwiderte er:

»Ich reite mit dem ,jungen Adler‘; wohin, das weiß ich jetzt noch nicht.«

»Du wirst bei ihm bleiben?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Solange es ihm gefällt.«

»So bin ich zufrieden! Ich weiß, daß ich dich ganz bestimmt wiedersehen werde.«

Hierauf wendete sie sich zu meiner Frau und mir. Sie reichte auch uns beiden die Hand und sprach:

»Es wurde mir nicht gesagt, wer ihr seid; darum ist es verboten, zu fragen. Lebt wohl!«

Dann ritt sie davon, an den Ruinen vorüber, um nach den Büschen einzubiegen, hinter denen sie verschwand. Pappermann und der »junge Adler« schauten hinter ihr drein, bis sie fort war; dann ging der Erstere ihr langsam, wie ein Träumender nach. Der junge Indianer blieb noch eine Weile an derselben Stelle stehen; dann wendete er sich mit einem Rucke um, als ob es ihm Anstrengung verursache, sich von dem Eindruck ihrer Persönlichkeit loszureißen. Wir beide aber stiegen nun auch von den Pferden, und ich machte mich darüber, die Spuren derer, welche hier gewesen waren, zu untersuchen. Das Herzle ging indessen an die Zubereitung des Morgenkaffees.

Früher hatten wir uns diesen Ritt natürlich ohne Kaffee und sonstige ähnliche Genüsse gedacht; aber da wir in Trinidad so ganz unerwartet zu Maultieren und einem sehr guten Zelt gekommen waren, so hatten wir uns vor unserer Abreise von dort mit einigen jener angenehmen und nützlichen Dinge versehen, welche dem sogenannten zivilisierten Menschen sogar im »Wilden Westen« beinahe unentbehrlich sind. Daß hierzu auch der Kaffee gehörte, versteht sich ganz von selbst.

Ich ersah aus den Spuren, daß ungefähr vierzig Personen hier gewesen waren, unter ihnen nur zwei männliche, in denen ich die Führer vermutete. So etwas hätte früher nie stattfinden können; sie wären alle verloren gewesen. Allerdings waren sie lauter Indianerinnen und also, wenn auch nicht persönlich, so doch durch die Tradition mit den Eigenheiten und den Anforderungen der Wildnis vertraut.

Als Pappermann wiederkam, meldete er, daß Aschta genau nach Süd geritten sei, wohin auch alle anderen Spuren führten; unser Ziel aber lag westlich von hier. Dann fragte er, indem er sich zu uns niedersetzte:

»Ist das nicht ein Wunder, ein wahres Wunder? Genau wie damals, ganz genau? Und sie wissen es, daß der Schuß damals nicht mir gegolten hat! Und gesucht haben sie nach mir! Gesucht bis heutigen Tages! Diese guten, guten Menschen! Heute ist der größte Feiertag meines Lebens! Ja wahrlich, der größte Feiertag! Wenn es Winter und Dezember wäre, so würde ich sagen: Heut ist Weihnacht für mich, und der Herrgott hat beschert. ja, der Herrgott selbst, denn kein Anderer kann so etwas geben, so ein Glück! So ein wirklich großes und wirklich wahres Glück!«

Hierauf wurde er still, sehr still. Denn je tiefer und reiner das Glück ist, desto weniger macht es Worte! Auch für mich hatte das Zusammentreffen mit dieser jungen, schönen Indianerin eine große Bedeutung, und zwar nicht nur eine rein äußerliche. Ich hatte von hier aus in die Zukunft, in die Ferne zu folgern und zu schließen. Besonders interessant mußten mir die zwei Perlensterne sein. Sie waren ein Erkennungszeichen. Der »junge Adler« sagte nichts hierüber; so fragte ich also auch nicht. Ich wußte ja auch ohne Frage und Antwort, woran ich war. Es handelte sich hier ganz einfach um den großen Unterschied zwischen »Stamm« und »Clan« bei der roten Rasse.

Das ist ein Gegenstand von größter Wichtigkeit, obgleich es selbst ernsten Forschern noch nicht geläufig gewesen ist, ihm die Aufmerksamkeit zu widmen, die er ohne alle Frage verdient. Wie viele Menschen, besonders sogenannte Volks- oder gar Jugendschriftsteller, haben schon »lndianerbücher« geschrieben, ohne von dem Außen- und Innenleben der amerikanischen Rasse auch nur die geringste, positive Kenntnis zu besitzen! Und das wird dann von Anderen, die noch weniger wissen, gelobt und warm empfohlen! Ich wurde schon von vielen, sogar von sehr vielen »lndianerschriftstellern« besucht; aber es gab keinen, wirklich keinen Einzigen unter ihnen, der von dem Allerersten, was man da zu studieren hat, nämlich von den Clanverhältnissen, etwas wußte.

Wie in der Entwickelung der Menschheit im allgemeinen, so machen sich auch in der Entwickelung jeder einzelnen Rasse zwei einander grad entgegengesetzte Bestrebungen bemerkbar, nämlich der Zug der Zerklüftung und der Zug nach Vereinigung, oder sagen wir, der Zug nach Einheit und der Zug nach Vielheit. Die Zerklüftung beginnt ihren Weg bei dem, was man als Menschengeschlecht bezeichnet, geht über die Rasse, die Nation, das Volk, die Stadt, das Dorf immer weiter herab und hört erst beim abgelegenen Einödhof auf, dessen Besitzer sich nur bei gewissen Gelegenheiten darauf besinnt, daß er auch mit zur Menschheit gehört. Das ist der Weg des Patriotismus, der Vaterlands- und Heimatliebe, aber auch der Weg der nationalen Selbstüberhebung, der politischen Rücksichtslosigkeit. Der andere Weg ist dem direkt entgegengesetzt. Er führt zur Vereinigung aller Einzelnen durch einen einzigen, großen Gedanken zu einem einzigen, großen Volk. Welcher von diesen beiden Wegen der Weg zum wirklichen, zum wahren Glück ist, das hat die Menschheit noch bis heute nicht erkennen wollen, also muß sie es durch bittere Erfahrung kennen lernen.

Wie schmerzlich, ja, wie grausam diese Erfahrung ist, das zeigt sich bei keiner Rasse so deutlich wie bei der amerikanischen. Sie ist es, welche die Zerklüftung, die Zerspaltung am allerweitesten getrieben hat. Nirgends, selbst im fernsten, dunkelsten Orient nicht, ist die einst mächtige, imponierende Einheit in so kleine, winzige, ohnmächtige Brocken und Bröckchen zerrieben und zerkleinert worden wie bei den Indianern. Jeder dieser Brocken, jeder dieser vielen Stämme und jedes dieser unzähligen Stämmchen ist stolz auf sich selbst und stets bereit, aus lauter Selbstschätzung vollends zugrunde zu gehen. Diese Zersetzung hätte schon längst zur völligen Vernichtung geführt, wenn die großen Medizinmänner der Vergangenheit nicht bemüht gewesen wären, ihr entgegenzuarbeiten, und zwar in doppelter Weise, nämlich zunächst in theologischer und sodann in sozialer.

Der theologische Weg der Vereinigung lag in dem Gedanken, »Großer Geist« oder »Großer, guter Manitou«. Die Forschung hat gezeigt und wird noch weiter zeigen, daß der echtblütige Indianer gläubiger Monotheist war und sich dabei glücklich fühlte, bis die zersetzende Vielgötterei sich von außen her tief in sein Inneres bohrte und den großen Niagarafall des Rassensturzes und der Rassen- und Sprachzerstäubung vorbereitete. Und der soziale Weg der Vereinigung wurde in dem Gedanken der Clans gegeben, durch welche die äußerlich zerspaltenen Stämme innerlich wieder verbunden und zusammengehalten werden sollten. Freilich darf man das Wort Clan hier nicht im englischen resp. schottländischen Sinn nehmen. Es wurde ein Clan der Wahrhaftigkeit, der Treue, der Wohltätigkeit, der Beredtsamkeit, der Ehrlichkeit gegründet. Wer sich in der Beredsamkeit üben wollte; wer sich vornahm, das ganze Leben hindurch wohltätig zu sein; wer sich stark genug fühlte, niemals eine Lüge zu sagen, niemals untreu oder unehrlich zu sein, der konnte dem betreffenden Clan beitreten und sich durch Wort und Handschlag verpflichten, das betreffende Gebot zu erfüllen und lebenslang zu halten. Wer es auch nur einmal übertrat, der wurde ausgestoßen und galt als ehrlos für immer. Der leichteren Unterscheidung wegen und um ein sichtbares Erkennungszeichen zu ermöglichen, nahm jeder Clan den Namen irgendeines Tieres an, dessen Bild als Merkmal diente. So habe ich bereits gesagt, daß der große Redner der Seneca, dessen Grab wir in Buffalo besuchten, zum Clan der Wölfe gehörte. Es gab einen Clan der Adler, der Geier,. der Hirsche, der Bären, der Schildkröten und so weiter.

In einen solchen Clan konnte ein jeder eintreten, wes Stammes er immer war. Selbst der Todfeind wurde angenommen und aus allen Kräften beschützt und unterstützt, wenn er die ihm auferlegte Bedingung treu und ehrlich erfüllte. So sehr zum Beispiel die Kiowas und die Navajos einander haßten und sich gegenseitig bis auf Blut und Tod verfolgten, sobald sie sich als Mitglieder eines Clan erkannten, war diese Feindschaft augenblicklich und für stets vergraben. Man kann sich denken, wie segensreich diese Clans wirkten! Leider, leider aber hörte das auf, als die »Bleichgesichter« erschienen und ihnen gestattet wurde, auch beizutreten. Sie nützten die Clans nur für ihre persönlichen Zwecke aus und steckten die Vorteile ein, die ihnen daraus erwuchsen, ohne aber ihren Verpflichtungen nachzukommen. Dadurch büßten die Clans ihren guten Ruf, ihre moralischen Kredite ein und somit auch die großen, sozialen Wirkungen, auf welche hin sie von ihren Gründern berechnet waren. Es blieb der Zukunft vorbehalten, ob sie überhaupt wieder aufleben würden oder nicht.

Immer waren die Clans nach Tieren benannt, niemals aber nach einem Menschen. Wenigstens ist es mir nicht erinnerlich, von einem solchen Fall gehört zu haben. Vielmehr war ein solches Beispiel jetzt soeben zum ersten Mal an mich herangetreten: Ein Clan mit dem Namen Winnetou! Denn daß es sich um einen Clan handelte, verstand sich ganz von selbst, und das Erkennungszeichen für die Zugehörigen war der zwölfstrahlige Stern, den der »junge Adler« und Aschta an ihren Gewändern trugen. Wann war dieser Clan gegründet? Vor wenigstens vier Jahren. Denn so alt war der Anzug, den der »junge Adler« jetzt trug. Dieser junge Indianer war der Allererste, der in den neuen Clan aufgenommen wurde, und zwar von Tatellah-Satah, der also der Gründer dieser Winnetou-Vereinigung war, deren männliche Mitglieder sich als »Winnetou« und die weiblichen sich als »Winnetah« bezeichnen durften. Welchen höheren Zweck hatte dieser Clan? Und welche Verpflichtungen legte er seinen Mitgliedern auf? Ich fragte nicht, denn ich hoffte, es sehr bald zu erfahren. Daß seine Ziele eminent friedliche waren, konnte man schon aus der Stammesangehörigkeit der beiden Mitglieder ersehen, die ich jetzt kannte: ein Apatsche und eine Siou Ogallallah, also zwei Nationen angehörig, die sich unbedingt als Todfeinde zu betrachten hatten! – – —

Während des Kaffeetrinkens sagte uns Pappermann, daß wir heute Abend die Devils pulpit erreichen würden.

Er bat nur um eine Stunde Aufenthalt hier am Kanubisee, um sich da wieder einmal umsehen zu können. Dagegen hatten wir nichts. Wir hätten ihm sehr gern noch viel länger Zeit gegeben. Aber die Stunde war noch nicht vorüber, so kehrte er von seinem Rundgang schon zurück und sagte:

»Wollen aufbrechen, wenn es Euch recht ist! Und wenn ich noch länger hier herumkrieche, so finde ich doch mehr Bitterkeiten als Süßigkeiten, und das brauche ich mir alten Kerl doch wohl nicht anzutun!«

Recht hatte er. Auch dieser Kanubisee war schön, sehr schön, aber seine Wasser hatten für uns keinen frohen, sondern einen mehr als elegischen Schimmer, und so blieb er in unserer Erinnerung nur als der Ort einer kurzen Rast, auf welche neue Wanderung zu folgen hatte. Wir ritten in das Tal des Purgatorio hinab und folgten dort einem schmalen, kristallklaren Wasser, welches uns nach unserm Ziel zu führen hatte. Wir erreichten es, doch erst dann, als es bereits fast dunkel geworden war, so daß ich vorschlug, lieber heut noch außerhalb des Bereiches der »Teufelskanzel« zu bleiben, weil wir vor diesem Ort gewarnt worden waren und wegen der Dunkelheit keine Zeit mehr hatten, ihn auf die Anwesenheit von feindlichen Indianern hin vorher zu untersuchen.

»Well!« sagte Pappermann. »So führe ich Euch nach einem Versteck, welches wohl kein Roter, und habe er noch so gute Augen, ausfindig machen wird. Ich fand es nur durch Zufall und glaube nicht, daß es jetzt außer mir einen Menschen gibt, der es kennt.«

»Das ist viel gesagt!« bemerkte ich.

»Aber jedenfalls richtig!« antwortete er. »Wir haben nur noch wenige Schritte zu reiten und dann einem kleinen Seitenwässerchen zu folgen, welches aus einem stillen, verborgenen Weiher quillt. Dieser Weiher ist nicht groß. Hohe Felsen, die man nicht ersteigen kann, umgeben ihn. Diese Felsen haben keine Lücke; nämlich so scheint es. Aber wenn man gerade durch den Weiher bis zur gegenüberliegenden Seite reitet, macht man die Bemerkung, daß es doch eine Seitenspalte gibt, die schief hindurchschneidet und nach dem eigentlichen Quell des Wassers führt, welches nicht im Weiher entspringt, sondern weiter drin, eben da, wo wir übernachten werden.«

»Ist die Lücke breit genug für unser Gepäck?« erkundigte ich mich.

»Ja«, antwortete er. »Nur die Zeltstangen habe ich lang zu packen, anstatt quer.«

»Und wie tief ist der Weiher?«

»Höchstens einen Meter.«

»Damals!«

»Hm! Meint Ihr etwa, daß er tiefer geworden ist? Das habe ich meinem Leben noch nicht gehört. Stehende Wasser pflegen mit der Zeit seichter zu werden, aber doch nicht tiefer. Doch halt! Da sind wir am Seitenwässerchen! Werde hier also umpacken. Dann reiten wir nach dieser Seite zwischen die Felsen hinein.«

Wir halfen ihm, die Zeltstangen anders zu legen, und ließen ihn dann mit den Maultieren voran, um unser Führer zu sein. Es war grad noch soviel Tageslicht vorhanden, daß wir sehen konnten, wohin wir ritten. Wir kamen an den Weiher, der dunkel wie ein Rätsel erschien, ritten hindurch und sahen, drüben angekommen, daß es im Felsen allerdings eine von dichtem Grün maskierte Lücke gab, der wir seitwärts folgen konnten. Dann ging es noch eine Strecke am Wässerchen steil aufwärts, bis wir seinen Quellpunkt erreichten, der in einem großen, kreisförmigen Felsenloch lag, dessen Wände, wie es schien, sich senkrecht und unersteigbar in die Höhe reckten.

»So! Das ist der Ort! » sagte Pappermann. »Da können wir hundert Jahre lang kampieren, ohne daß uns ein Mensch entdeckt.«

»Aber feucht, sehr feucht?« fragte ich.

»Keineswegs! Die Feuchtigkeit fließt ja ab. übrigens haben wir Indianersommer, schon wochenlang ohne eine Spur von Regen.«

»Kann man da an den Wänden hinaufklettern?«

»Weiß nicht. Habe es damals nicht versucht. Bin niemals ein Kletterspecht gewesen.«

»Und kann jemand von da oben herunterschauen?«

»Da müßte er erst von hier hinauf. Von draußen bringt es Keiner fertig.«

»So bin ich beruhigt. Machen wir also erst ein Feuer, um sodann das Zelt aufzuschlagen!«

Beides war in Zeit von einer halben Stunde geschehen. Wir banden die Pferde und Maultiere nicht an, so daß sie sich bewegen konnten, wie sie wollten. Sie tranken sich erst tüchtig satt. Dann wälzten sie sich ebenso tüchtig im Moos, was sie gern tun, solange sie gesund in den Knochen und Gelenken sind. Und hierauf fanden sie so viel Blatt- und auch anderes Grün, daß wir getrost mehrere Tage hier bleiben konnten, ohne befürchten zu müssen, daß es ihnen an Futter mangele. Sie bedurften aber der Ruhe mehr als der Nahrung, denn der Ritt von dem Kanubisee bis hierher war doch weiter und anstrengender gewesen, als wir nach Pappermanns Worten vermutet hatten. Auch wir selbst fühlten uns ermüdet. Darum dauerte es nach dem Abendessen gar nicht lange, bis wir uns niederlegten. Und das war heut abend ganz anders als gestern. Heut schliefen wir sofort ein, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich nicht eher aufwachte, als bis Pappermann mich weckte.

»Mrs. Burton ist schon munter!« entschuldigte er sich. »Sie hat schon heißes Wasser bestellt, um – – – hört Ihrs? Sie mahlt den Kaffee im Zelt, um Euch nicht aufzuwecken. Sagt Ihr ja nichts, daß ich es dennoch für richtig hielt, Euch einen Stoß zu versetzen! Der Mann sei doch immer Mann! Das ist er aber nicht, wenn er schläft!«

»So habt Ihr mich also nur um meiner Ambition willen geweckt?« lachte ich.

»Yes! Old Shatterhand, und schlafen, wenn seine Frau schon munter ist! Das geht auf keinen Fall!«

Jetzt betrachtete ich mir die Oertlichkeit. Sie bot allerdings ein selten schönes Versteck. Es gab nirgends auch nur die geringste Spur, daß jemals ein Mensch an diesem abgelegenen Ort gewesen sei. Die Felsenwände waren überaus steil, aber nicht unersteigbar. Es gab Riesenbäume, die mehrere hundert Jahre alt waren und sich mit ihren Aesten und Zweigen so eng an das Gestein schmiegten, daß sie das Klettern erleichterten und unterstützten. Der »junge Adler« hatte kaum seinen Kaffee zu sich genommen, so begann er den Versuch, in die Höhe zu kommen. Es gelang ihm ohne Schwierigkeit. Kaum war er oben angelangt, so ertönte sein lauter Ruf:

»Uff, uff! Ich sehe ein Wunder, ein Wunder!«

»Nicht so laut!« warnte ich hinauf. »Wir wissen noch nicht, ob vielleicht doch Menschen in der Nähe sind!«

»Hier kann es keinen geben, der uns hört!« antwortete er herab. »Da ist ringsum nichts als nur Luft!«

»So hoch! Und was liegt unten?«

»Devils pulpit!«

»Die Teufelskanzel? Wirklich?«

»Ja.«

»Das ist unmöglich, ganz unmöglich!« widersprach Pappermann.

»Warum?« fragte ich ihn.

»Weil ich es weiß. Und was Maksch Pappermann weiß, das weiß er ordentlich! Der Weg nach der Teufelskanzel führt tief nach links hinunter; wir aber sind rechts abgewichen. Und sie ist von allen Seiten von hohen, steilen Felsen umgeben, die kein Mensch erklimmen kann. Wie ist es da möglich, daß er sie sieht!«

»Er behauptet es aber!«

»Er irrt!«

»Ist es nicht auch möglich, daß Ihr Euch irrt?«

»Nein!«

»Daß der Weg von hier nach der Teufelskanzel Krümmungen macht, die Euch täuschen?«

»Es kann sich kein Mensch und kein Tier und kein Weg so sehr krümmen, daß er es fertigbringt, mich zu täuschen!«

Ich fragte den Indianer noch einmal, und er blieb bei seiner Behauptung, daß er die Devils pulpit sehe. Da auch er sie kannte, ergab das einen Widerspruch, der mich bestimmte, dem »jungen Adler« zu folgen. Meine Frau ist keine üble Kletterin. Sie besucht Gebirgsgegenden sehr gern und zeigt sich da zuweilen kühner, als ich ihr erlauben darf. Sie kam mir nach. Doch Pappermann blieb sitzen.

»Bin mein Lebtag keine Gemse gewesen«, behauptete er, »und werde auch nun nicht erst eine werden. Ein ebener Weg, ein gutes Pferd und ein festgeschnallter Sattel; das ist es, was ich haben will. Steigt, so hoch ihr wollt; ich mache nicht mit!«

Als wir hinaufkamen, bot sich uns ein wunderbarer Anblick dar. Ich hatte die Teufelskanzel noch nie gesehen, war aber doch gleich beim ersten Blick überzeugt, daß sie es war, nichts Anderes. Das rief ich dem alten Westmann hinab. Da stand er denn doch auf und begann, sich langsam und sehr vorsichtig in die Höhe zu kraxeln. Es dauerte ziemlich lange, bis er uns erreichte.

»‘So! Da bin ich!« sagte er. »Nun will ich einmal hinunterschauen, um zu sehen, welch ein unbegreiflicher Unsinn sich da – – —.«

Er hielt mitten im Satz inne, vergaß aber den Mund zuzumachen.

»Welchen Unsinn meint Ihr?« fragte ich.

»Den Unsinn, daß, daß – – – Alle Teufel! Was ist mir da passiert!«

»Nun, ist es die Devils pulpit? Oder ist sie es nicht?«

»Sie ist es! O Pappermann, Maksch Pappermann, was bist du für ein Riesenschaf oder gar was für ein Kamel! Daran ist aber nur dieser unglückselige Name schuld! Denn nur, wer Pappermann heißt, kann sich eine so entsetzliche Blamage auf das Gewissen laden! Dieser Name, dieser Name! Der ist mein Unglück gewesen, solange ich lebe! Hätte mein Vater Müller oder Schulze oder Schmidt geheißen, meinetwegen auch Hanfstängel, Zuckerkant oder Pumpernickel, so wäre ich ebensogut ein Glückskind gewesen wie andere Leute auch. Aber Pappermann, Pappermann, das ist das Schrecklichste, was es gibt! Das hat mich verfolgt bis hierher! Und das wird mich auch noch weiter verfolgen, bis es nichts mehr an mir gibt, was überhaupt verfolgt werden kann!«

Er fühlte sich in hohem Grade unglücklich. Handelte es sich doch um seine Westmannsehre, die ihm über Alles ging. Eines derartigen Irrtums darf sich kein Berg-, Wald- und Savannenläufer schuldig machen, wenn er es nicht darauf ankommen lassen will, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Glücklicherweise aber war Niemand da, der Lust hatte, ihn bei diesem Fehler zu fassen, und als ich ihm versicherte, daß auch mir solche falschen Berechnungen schon wiederholt passiert seien, begann er, sich zu beruhigen.

Man denke sich ein plattes Dach, dessen steinernes Geländer aus schweren Felsenbrocken besteht. Dieses Dach ist mit Bäumen und dichtem Gebüsch besetzt, so daß man, wenn man da oben steht, von unten nicht gesehen werden kann. Tritt man an das Geländer heran und schaut hinab, so sieht man, daß die Felsenwand fast senkrecht in die Tiefe fällt. Auf diesem platten Dach befanden wir uns, und tief unter uns lag die Teufelskanzel.

Wer sich mit Geometrie beschäftigt hat, der weiß, was man unter einer Ellipse versteht. Weil aber nicht alle meine Leser Geometer sind, will ich mich hier nicht geometrisch, sondern als Laie ausdrucken, um leichter verstanden zu werden: Eine Ellipse ist ein Kreis, der so lang ausgezogen ist, daß er zu dem einen Mittelpunkt noch einen zweiten bekommen hat. Diese beiden Mittelpunkte werden auch Brennpunkte genannt. Wer einen Fischkessel in der Küche hat, der kennt die länglich runde Form einer solchen Ellipse. Und der Fischkessel mag zugleich auch ein Bild des länglich runden Bergkessels sein, zu dem sich unsere Felsenwand hinuntersenkte. Dieser Kessel bildete so genau eine Ellipse, als ob er nicht von der Natur, sondern von Menschenhand mitten in das gewaltige Kompakt der Bergmasse hineingebrochen worden sei. Wie ich dann später freilich sah, hatte die Natur allerdings zwar vorgearbeitet, die berechnende Kraft des Menschen aber nachgeholfen. Das war vor alten, ja uralten Zeiten geschehen und so lange her, daß die Felswände, welche erst ganz gewiß senkrecht und nackt gewesen waren, infolge der Verwitterung nun Risse, Sprünge, Ecken, Kanten, Höhlungen, Altane und andere Abweichungen von der lotrechten Linie zeigten, auf denen und in denen sich nach und nach ein kräftiger Baum- und Strauchwuchs nebst anderem Kräuter-, Stauden-, Gras- und Moosgrün angesammelt hatte. Auch der Boden des Kessels war mit grünender Vegetation bedeckt, doch machte ich in Beziehung auf diese Vegetation sofort zwei in die Augen fallende Beobachtungen. Nämlich es schien hier ein Pflanzenwuchs ursprünglich nicht beabsichtigt zu sein, denn es gab da einen vollständig sterilen Untergrund, und der mußte mit voller Berechnung hergeschafft worden sein, denn so weit das Auge reichte, gab es nur fruchtbares Land. Die Bäume, die da unten auf dem Grund des Kessels standen, hatten alle, so alt und so stark sie waren, keine Wipfel mehr. Und wo es noch welche gab, da waren sie vertrocknet. Das deutete darauf hin, daß sie sich nur von einer dünnen, angewehten Erdschicht nährten, mit den Wurzeln aber nicht in die Tiefe konnten oder dort keine Nahrung fanden. Und in der Tat, als ich später hinunterkam und nachschaute, fand ich, daß, so weit die Ellipse reichte, ihr ursprünglicher Boden so dicht, daß keine Pflanze einzudringen vermochte, mit starken Steinplatten belegt war, auf denen sich im Lauf der Zeit eine Schicht von Humuserde gebildet hatte, von welcher sich das später entstandene Baum- und Strauchwerk durch die Seitenwurzeln ernährte. Pfahlwurzeln gab es nicht. Daher die Verdorrung sämtlicher Wipfel!

Wozu einst diese Belegung des Bodens mit Platten? Das war die erste Frage, die ein aufmerksamer und vorsichtiger Beobachter hier zu beantworten hatte.

Die andere in die Augen fallende Beobachtung war die, daß ein Drittel dieser Vegetation vollständig unberührt zu sein schien, während man es den anderen beiden Dritteln gleich beim ersten Blick ansah, daß da Menschen verkehrt hatten, und zwar nicht allzu selten. Die Scheidelinie zwischen dem größeren, berührten Teil und dem kleineren, unberührten war sogar auffällig scharf gezogen. Es sah so aus, als ob ein strenges Verbot herrschte, dieses sehr dicht bewachsene Drittel der Ellipse zu betreten.

Weshalb und zu welchem Zweck diese Unterscheidung? Das war die zweite Frage, der man nachzuspüren hatte, wenn man den Anspruch erhob, für einen scharfen und zuverlässigen Beobachter zu gelten.

Und nun kommt die Hauptsache, die von allerhöchstem Interesse ist. Wenigstens war sie das für mich. Es gab nämlich auf dem sonst vollständig ebenen, ellipsenförmigen Boden des Felsenkessels zwei ziemlich bedeutende, künstlich hergestellte Erhöhungen, welche ganz das Aussehen hatten, als ob der Kessel einst in der Absicht hergestellt worden sei, ihn mit Wasser zu füllen und also eine Art von See zu bilden, aus dem die beiden Erhöhungen als Inseln hervorschauten. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich das zu- und abfließende Wasser so tief eingefressen, daß der Boden des Bassins erreicht und dieses einfach durch Auslaufen und späteres Versiegen des Wassers trocken geworden war.

Diese Beobachtung an sich hätte weiter nichts ergeben, als daß in uralter Zeit hier Menschen vorhanden gewesen seien, welche in Beziehung auf ihre Bauwerke und in Folge dessen auch anderweit bedeutend höher standen als die späteren Indianer, oder sagen wir richtiger, als die späteren Generationen. Aber diese beiden Erhöhungen – ich will dem Bild treu bleiben und sie Inseln nennen – hatten die höchst auffällige Eigentümlichkeit, daß sie in den zwei Brennpunkten der Ellipse lagen, und zwar ganz genau. Das konnte nicht Zufall, sondern das mußte Berechnung sein. Da entstand nun sofort die Frage: Welches war der Zweck dieser Berechnung, das Fazit dieses Exempels? Etwas Gewöhnliches, Alltägliches jedenfalls nicht. Ich dachte an die schwierigen, astronomischen Berechnungen, welche dem Bau der ägyptischen Pyramiden zu Grunde liegen, an die noch unaufgeklärten Geheimnisse der Teokalli und anderer Tempelwerke aus früherer Zeit, doch bin ich weder Fachmann noch Gelehrter und darf es unmöglich wagen, mich auf so schwierige, wissenschaftliche Spekulationen einzulassen. Aber ein Gedanke kam mir doch, wenngleich die Aufrichtigkeit mich zwingt, zu gestehen, daß er mir bedeutend kühner erschien, als ein einfacher Westmann, der nur die Absicht verfolgt, auf seine Sicherheit bedacht zu sein, sich gestatten darf. Aber er stellte sich wieder und immer wieder ein; er packte mich fester und fester und ließ mich nicht wieder los. Es war der Gedanke an jene im Altertum oft auch baulich behandelte Tatsache, daß man innerhalb einer gewissen geometrischen Figur an einem Punkt ganz deutlich das hört, was an einem anderen, entfernten Punkt leise gesprochen wird. Dieser Gedanke kam ohne mein Zutun, also ohne daß ich grübelte. Ich wies ihn ab. Aber er kehrte zurück, als der »junge Adler« zu sprechen begann, und wollte seitdem nicht wieder weichen. Der Indianer deutete nämlich von da oben, wo wir standen, hinab in die Tiefe und sagte: